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Bernd Ulrich zum Zweiten - Die desinfizierte Gesellschaft

Vorbemerkung mit ein paar Gedanken Paul Austers:

Ich verändere nichts - mich verändert alles! So oder ähnlich hat wohl Martin Walser einmal die Ohnmacht des Einzelnen im komplexen, immer unübersichtlicher werdenden Weltgeschehen gedeutet. Stellt man diese pessimistische Weltdeutung in Frage, kommt man allenfalls auf die Idee, dass die Wirkungsmacht Einzelner mit Blick auf die gegenwärtigen Weltläufte häufig - und leider gerade dort, wo es vielleicht drauf ankommt - im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Intelligenz der Wirkmächtigen steht; im Klartext:  Donald Trump -

Paul Auster spricht aus Verachtung auschließlich von der "Nr. 45" bzw. vom "Monster". Er sagt in der ZEIT 22/20, S.2: "Ich ertrage den Mann nicht. Er hat ein Vokabular von 16 Wörtern, sagt jeden Satz doppelt, und jeder ist gelogen."

Diese Nr. 45 stellt als Intelligenzverkörperung unter Beweis, dass er nicht nur über einen beschränkten Wortschatz verfügt, sondern dass es eine Form von Intelligenz gibt, die wie eine Einbahnstraße nur eine Richtung kennt: den eigenen Vorteil. Man könnte sagen: So ist er halt - als Ikone eines neoliberal lebendigen Manchesterkapitalismus. Man muss dann aber gleichzeitig sagen, dass diese Variante menschlicher Intelligenzverkörperung keine Niedertracht, keine Dreckigkeit, keine Gelegenheit zu einer menschenverachtenden Geste und Politik auslässt. Und darin verkörpert sich nicht nur ein neoliberaler oder radikalkapitalistischer Habitus. Wir haben es mit faschistoiden Gewaltphantasien zu tun, die die Idee einer kategorialen Ungleichheit der Menschen befeuert. Wie kann es sonst sein, dass ein gewählter Präsident seine Wähler gegen jene Gouverneure von US-Bundesstaaten aufhetzt, die sich gegen die neoliberalen Begünstigungen von covid 19 stemmen. Vielleicht müssen wir die Binnensicht us-amerikanischer Verhältnisse in der Interpretation Paul Austers erst einmal als Hypothese wirken lassen:

"Die Idee, dass eine Regierung ihren Bürgern hilft, ist für die Republikaner untolerierbar. Sie wollen, dass die Regierung eine Armee hat, um das Land zu verteidigen - und Schluss. Ansonsten: ungebremster Kapitalismus. Das ist ihr bitterer Ernst. Sie halten sich für die Wahren Amerikaner mit großem W, während alle anderen keine vollwertigen Menschen sind. Siri (Hustwed - Paul Austers Frau, Anm.) hat in einem ihrer Essays geschrieben, dass Nummer 45 über Migranten spricht, als seien sie ein Virus, das über die Grenzen kommen will, um uns zu infizieren. Dann kam das Virus."

Paul Auster ist gnadenlos in der Kritik seines Präsidenten und verdeutlicht das mit einer ähnlichen These, wie sie Klaus Theweleit in seinen "Männerphantasien" vertritt. Auf die Frage, ob er noch die Pressekonferenzen von Nr. 45 verfolge, antwortet Auster:

"Nein, doch ich habe eine Theorie: Nach der ersten Phase, in der die Regierung das Virus leugnete, kam eine ernsthaftere zweite Phase. Dann rieten seine Leute ihm, die täglichen zweistündigen Auftritte sein zu lassen. Das führte zum narzisstischen Kollaps: 'Ihr meint, die Menschen lieben mich gar nicht? Sie kleben gar nicht an jedem Wort, das ich sage.' Damit gab die Regierung den Kampf auf." Paul Auster fragt den ZEIT-Redakteur, Klaus Brinkbäumer, ob er Kinder habe. Nachdem Brinkbäumer diese Frage bejaht, meint Auster: "Dann wissen Sie, dass Zweijährige sich im Zentrum der Welt sehen, alle Aufmerksamkeit brauchen. Fünfjährige sind schon halbwegs vernünftig. Nummer 45 ist immer noch zwei Jahre alt, in Windeln, den Löffel gegen den Hochstuhl hämmernd. Wir sehen einem Kranken zu."

Bei uns sind die faschistoid infizierten Vollidioten - die Trump nicht unähnlich - wieder damit beginnen, die kategoriale Ungleichheit der Menschen betonen - noch ohne Ämter. Dass die AfD heute im Bundestag und in allen Landtagen sitzt, ist skandalös genug - allein schon aufgrund der Tatsache, dass des Lesens und Hörens mächtige Menschen auf den Wahlzetteln ihr Kreuz bei der AfD platziert haben. Hört man heute den Herren Kalbitz und Höcke zu, wie sie den parteiinternen Machtkampf führen, dann möchte man sich nicht vorstellen, wie sie mit politischen Gegnern verfahren würden, hätten sie denn Ämter und Macht. Ich greife (immer wieder) tief in die Schmutzkiste, wenn ich mich eines Latrinenspruchs entsinne, den ich vor mehr als vierzig Jahren buchstäblich beim Scheißen verinnerlicht habe. Da hatte einer an die Toilettenwand geschrieben: "Wie einst der Führer sitz ich hier, die braunen Massen unter mir." Es wäre natürlich phantastisch, wenn ich uns einen Dienst damit erweisen könnte, indem ich die Wähler der AfD daran erinnere, dass die meisten Menschen in der Agonie der Weimarer Republik die Drohungen der Nazis nicht wirklich ernst genommen haben, es sei denn sie haben mit dem Faschismus sympathisiert und konnten die Eliminierung des politischen Gegners und des Fremden - des Feindes - kaum erwarten; so wie es dann auch schließlich kam.

Übrigens vertritt Paul Auster die steile These, dass die USA gar keine Demokratie sind. Er meint nämlich auf die Frage Brinkbäumers, ob die USA überhaupt eine Demokratie seien glattweg:

"Nein. Wir waren nie eine (Demokratie): Das System wurde so gebaut, dass es keine Demokratie sein kann." Zum näheren Verständnis führt er aus: "Das Wahlmännergremium sorgt heute dafür, dass die Minderheit die Mehrheit regiert. Al Gore und Hillary Clinton verloren Wahlen, die sie nach absoluter Stimmenzahl gewonnen hatten. So kann ein Land nicht regiert werden. Und auch nicht mit einem Senat, in dem zwei Senatoren aus Wyoming - 580.000 Einwohner - genauso viel Macht haben, wie zwei Senatoren aus Kalifornien, wo fast 40 Millionen Menschen leben. Das ganze System ist schief, es wirft uns zurück."

Wir sind eine Demokratie, und wir wollen auch eine bleiben. Immer unerträglicher und widerwärtiger gebärden sich inzwischen jene, die die abartigsten Ausgeburten ihrer Phantasien und kranken Seelen in der Freizügigkeit unserer Demokratie ausleben. Die Verwendung des Judensterns oder eines Fotos Anne Franks auf den T-Shirts sogenannter Impfgegner und Regierungskritiker ertragen zu müssen, stellt nicht nur eine schlichte Verfehlung dar; sie stellt eine Entartung dar: Aus einer logischen Ausschließung von Anliegen und dazu verwendeter Symbole resultiert eine Kampagne, die zu einer Verhöhnung der Opfer des von den Nazis zu verantwortenden Genozids. Folgende Argumente sind dieser Quelle entnommen:

Wenn „Impfgegner*innen“, die aktuell durch nichts in ihrem eigenen und frei selbstgewählten Handeln gehindert werden, sich durch die Nutzung dieser eindeutigen Symbolik gleichsetzen mit Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus nach den „Nürnberger Gesetzen“ mit dem „Judenstern“ für die Ermordung im Holocaust markiert wurden, ist nicht nur zynisch, geschmacklos oder „umstritten“.  Es ist eine Verhöhnung der Opfer des Nationalsozialismus, und es ist eine Verharmlosung des Holocausts. Wer das tut, handelt antisemitisch. Die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus fällt in Deutschland übrigens nicht unter die Meinungsfreiheit, sondern ist aufgrund der deutschen Geschichte eine Straftat, wenn dadurch der öffentliche Frieden gefährdet wird. Die „Impfgegner*innen“ werden argumentieren, dass sie diese Verharmlosung nicht im Sinn gehabt haben – sie wollten wohl eher die gefühlte eigene Dramatik ausdrücken. Trotzdem machen sie praktisch nichts Anderes, weshalb in Leipzig auch die Polizei ermittelt, ob hier eine Strafbarkeit vorliegt. Doch selbst, wenn die Polizei den öffentlichen Frieden hier nicht (genug) gefährdet sähe – „Impfgegner*innen“ als „neue Juden“ von heute darzustellen ist eine antisemitische Tat, die wir auch so klar benennen sollten.

Was Bernd Ulrich angeht, so geht er seinerseits auf Verschwörungstheoretiker ein und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die zwar alle "einen an der Waffel", dabei andererseits aber auch nicht ganz unrecht hätten. Die Idee, dass hinter den äußeren Ereignissen der Pandemie doch noch viel mehr stecke, attackiert Ulrich mit Blick auf die vollkommen abstrusen Hirngespinste der Verschwörungsanhänger, um gleichzeitig auf triviale Zusammenhänge aufmerksam zu machen. Dabei setzt er argumentativ die nachvollziehbare Klammer, dass die knapp acht Milliarden Menschen auf einem immer enger werdenden Planeten

All dies mit der Folge einer fortschreitenden Klimaerhitzung, der Begünstigung von Pandemien, eines drohenden Zusammenbruchs der Finanzmärkte und unausweichlichen Flüchtlingsbewegungen mit immer krisenhaften Begleiterscheinungen. Bernd Ulrich plädiert für eine gewisse Tolerenz gegenüber den "demokratischen Zumutungen" à la Merkel, weil er der Auffassung ist, "dass es nach wie vor besser ist, dauerhaft gravierende Einschränkungen hinzunehmen als Zigtausende Tote" (wie in Italien, Frankreich, Großbritannien oder den USA). Und all dies produziert in den Worten von Bernd Ulrich ein aktuelles Hier:

Berd Ulrich spricht von einer "rundum virophilen Welt". Wie macht man nun eine Gesellschaft so stark, dass sie Freiheit und Wirtschaftskraft bewahren kann, obwohl die virale Bedrohung wohl von Dauer ist. Ulrich definiert eine Zielpespektive, die die Annahme zur Grundlage hat, dass eine eine Gesellschaft - je gesünder und widerstandsfähiger sie ist - desto weniger so etwas werden müsse, wie ein "medizinischer Sicherheitsstaat". Wir sind ja ganz offenkundig in einer Situation eines gigantischen schuldenfinanzierten Versuchs, die Folgen des Lockdowns und der damit verbundenen Wirtschaftkrise zu bewältigen. Ulrich spricht gleichzeitig von der "Summe der Kollateralschäden", die es zu bedenken gelte:

"Diese Gesellschaft kann es sich schlicht nicht mehr leisten, so unsozial, so fossil, so gestresst, so hypermobil, so krank zu sein. Das ist jetzt nicht mehr nur eine Frage von Gerechtigkeit oder von Nachhaltigkeit, sondern zugleich eine von Freiheit und ökonomischer Vernunft [...] die Logik der Externalisierung hat offenbar ausgedient" -  wo sollte Externalität auch noch sein? - und Nebenfolgenblindheit räche sich so wie Hypergloblisierung unbezahlbar werde.

"Wer jetzt nicht damit beginnt, eine resiliente, nachhaltige, schonende Gesellschaft aufzubauen, der macht uns zu Kollateral-Sklaven unseres eigenen Handelns. Das Zeitalter der Schonung hat - hoffentlich - begonnen."