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Karl Otto Hondrich: Rauft euch zusammen!

Ja, das ist richtig! Die nachstehende Zusammenfassung der Paar- und Familienkultur geltenden Gedanken Karl Otto Hondrichs ist bereits im Einleitungsteil der Mohnfrau erschienen; damals brisant und hochaktuell im Zusammenhang mit der eigenen Paargeschichte. An diesem Gedichtbändchen lässt sich idealtypisch erkennen, wie man gleichermaßen abstrakt wie ungemein konkret den eigenen Irrungen und Wirrungen auf der Spur bleibt. Die Überschrift könnte auch lauten: "Von Karl Otto Hondrich lernen!" Der kommt im fortgeschrittenen Alter zu weisen Einsichten und warnt davor, in krisenhaften Phasen der Paardynamik allzuschnell die Flinte ins Korn zu werfen.

"Und tatsächlich unterstützen sich, allen Unkenrufen einer wachsenden Generationenkluft zum Trotz, Alt und Jung gegenseitig, auch wenn sie nicht eng zusammenwohnen: Die rüstigen Rentner haben oft Fertigkeiten und Geld zu bieten, Kinder und Enkel lohnen es ihnen mit Besuchen, Zuwendung und Pflege."

Karl Otto Hondrich blickt zuweilen auch optimistisch auf familiale Zusammengehörigkeitsimpulse in Zeiten der Weltgesellschaft. Vermutlich hätte er sich Einschränkungen, wie wir sie gegenwärtig erleben - wie wir alle - nicht wirklich vorstellen können. Kollektive, anonyme Formen von Solidarität verbreiten bislang - wenn möglicherweise auch schon in erodierender Form - einen Hoffnungsschimmer in einer ansonsten trostlosen Welt. Wie ein Einäugiger unter Blinden komme ich mir vor, enorm privilegiert, weil drei Generationen innerhalb meiner Kernfamilie noch ein unmittelbares Miteinander erleben können. Die vierte Generation - die Mutter meiner Frau, meine Schwiegermutter - lebt noch. Aber diejenige, die wir bis zum 22. März täglich besucht haben, lebt derzeit isoliert von uns in einer Seniorenresidenz. Gerade in einer intensiven Phase der Verarmung sozialer Kontakte erlebe ich in meiner Familie noch die überaus authentische Lebendigkeit eines feinmaschigen verwandtschaftlichen Netzes. Das ist einer der Gründe, mit Karl Otto Hondrich an die systemrelevante, nein systemfundierende Bedeutung von Familie und der in ihr wirkenden generationsübergreifenden Beziehungen zu erinnern:

Rauft euch zusammen und arrangiert euch! Drei Jahre vor seinem Tod hat der Soziologe Karl Otto Hondrich, unweit von Koblenz in Andernach geboren, im Suhrkamp-Verlag ein schmales Bändchen mit dem Titel: „Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft“ (Frankfurt 2004) veröffentlicht. In der Vorbemerkung beschreibt er sein Interesse an dem „alltäglichen Vorgang, wie ein Liebespaar zusammenzieht und sich wieder trennt […], um zu erkunden, was aus Herkunftsbindungen wird“ (Hondrich 2004, 7). Er zeigt sich in der Folge irritiert darüber, dass wir uns so schwer tun, Wirklichkeit und Wirkungsmacht der Gefühle anzunehmen:

„Als Gefühle beleidigen sie, nur zu oft, unsere Rationalität; als kollektive Gefühle unsere Individualität; als unbeabsichtigte Gefühle und Handlungsfolgen unseren Willen, die Wirklichkeit zu gestalten; als verborgene Gefühle unseren Anspruch an Aufklärung und Aufrichtigkeit: Die Wirklichkeit entzieht sich ihr. Sie liegt nicht offen – nach noch so vielen Worten. Das Wichtigste hält sie verborgen. Dies ahnend, spüre ich Genugtuung. Denn was verborgen ist, ist auch geborgen (Hondrich 2004, 8)."

Dahinter steht die umfassendere Frage, welcher Teufel denn die westlichen Gesellschaften reite, ihre Familien, von deren Leistungen doch der Fortbestand des sozialen Lebens abhänge, auf die flüchtigsten Gefühle, das Beständigste auf das Vergänglichste, das Alltägliche auf das Außeralltägliche, das Reale auf das Romantische zu bauen? Denn während sich die westlichen Gesellschaften in der Sphäre ihrer Produktion höchster Rationalität verschrieben hätten, gäben sie ihre Reproduktion ganz der Emotionalität anheim (vgl. Hondrich 2004, 13). Wir tun uns schwer, Wirklichkeit und Wirkungsmacht der Gefühle anzunehmen. Welcher Teufel reitet die westlichen Gesellschaften das Beständigste auf das Vergänglichste, das Alltägliche auf das Außeralltägliche, das Reale auf das Romantische zu bauen?

150 Seiten weiter beginnt Karl Otto Hondrich seinen überaus persönlich gehaltenen Schlussessay mit der Frage: „Wie sollen wir gut und richtig leben?“ Ungewöhnlich genug für einen Soziologen erhebt er in diesem Beitrag, der unter dem Titel „Meine Lieben“ fast wie ein Vermächtnis daher kommt, mit Geborgenheit und Entschiedenheit Begriffe zu Schlüsselkategorien, die man eher in die Sprachwelt der humanistischen Psychologie mit einem an Kategorien wie Echtheit und Aufrichtigkeit orientieren Ethos einordnen würde oder mit Sicherheit in die Tradition der Bindungsforschung. Aus der Beobachtung des alltäglichen Vorgangs von Zusammenkommen und Sich-Trennen resultiert in der Folge ein Appell, der vor allem Geborgenheit in den Mittelpunkt zwischenmenschlicher Befriedungsversuche rückt. Prozesse der Entbergung, die durch modernes Scheidungsgebaren und Trennungsverhalten in Gang gesetzt werden, möchte Karl Otto Hondrich unter dem Schleier des Geborgenen eindämmen, statt sie in aller Ausführlichkeit und Klarheit aufzudecken. Den Betroffenen brauche man nicht in aller Ausführlichkeit und analytischer Schärfe vor Augen zu halten, was sie intuitiv eh spürten, aber nicht mehr ändern könnten (vgl. Hondrich 2004, 166).

Es ist merkwürdig und tragisch zugleich: Derselbe Karl Otto Hondrich, der sich in seiner Vorbemerkung genötigt sieht, sich von systemtheoretischen Annahmen abzugrenzen, von einer Auffassung also, die – wie er meint – davon ausgehe, dass „die soziale Welt von Systemen bewegt werde, von Kommunikation […]“ (Hondrich 2004, 7), derselbe Karl Otto Hondrich versucht nun die Nachwachsenden durch kommunikative Appelle zu erreichen:

Wenigstens den nachfolgenden Generationen und eigenen Kindern möchte ich manchmal zurufen: Ihr habt doch eure Entscheidungsfreiheit als Individuen. Also nützt sie auch. Macht endlich Schluß mit der unglücklichen Weitergabe von Trennung und Verlassenwerden an eure Kinder, macht es besser als eure Eltern, rauft euch zusammen, arrangiert euch, lasst ab von eurem Paar-Perfektionismus!“ (Hondrich 2004, 166).

Ich habe mich entschlossen, die in diesem Band - der Mohnfrau - zusammengetragenen lyrischen Miniaturen mit Anregungen Hondrichs einzuleiten, weil die von ihm in „Meine Lieben“ reflektierten Erfahrungen auch faktisch als eine Art Vermächtnis daherkommen. Karl Otto Hondrich ist im Januar 2007 gestorben. Im Alter von fast 70 Jahren findet er für ein kritisches, teils anrührendes Resümee seines Beziehungslebens eine sehr persönliche Sprache, bleibt andererseits aber immer auch einer soziologischen Betrachtungsweise verpflichtet: „Was bewegt die Menschen? Daß dies nicht sie selbst sind mit ihren individuellen Trieben und Sinngebungen, sondern die geteilten moralischen Gefühle zwischen ihnen – mit dieser Einsicht begann, vor mehr als 100 Jahren, die Soziologie (Hondrich 2004, 7)."

Zunächst einmal ist es Chronistenpflicht, Karl Otto Hondrichs weiter oben angedeutete appellative Grundhaltung mit seinen eigenen Worten zu relativieren und ihn vom Vorwurf eines naiven Moralisierens zu entlasten:

„Kaum ist der Aufruf, in Gedanken, heraus, bleibt er mir schon im Halse stecken. Nicht nur, daß jeder Rat von Alten an Junge für diese zu früh kommt. Nicht nur, daß ich selbst, wäre ich jünger, ihm vielleicht nicht folgen könnte. Nicht, daß ich mich der Hau-RuckPädagogik schämen würde; sie hat dem verständnisvollen Nicken und Bedauern wenigstens die wütende Klarheit voraus. Aber der Appell selbst beruht auf einer Unklarheit: Es liegt nicht allein in der Macht und Schuld des einzelnen, und auch nicht der beiden, wenn sie die auseinanderstrebenden Kräfte der modernen Gesellschaft in ihrer Liebe nicht bändigen können. Neben der Devise ‚Ihr schafft es!‘ darf deshalb die andere ‚Manchmal klappt es nicht. Es ist trotzdem den Versuch wert. Auch im Scheitern liegen Chancen!‘ nicht fehlen (Hondrich 2004, 167f.)."

In der Folge soll der Versuch unternommen werden, Hondrichs, um die Zentralbegriffe Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit herumgebautes Beziehungsresümee nachzuzeichnen und es zu konfrontieren mit einem systemtheoretisch inspirierten Blick auf das Wunder der Ehe (Arnold Retzer 2008):

1. Fazit eines langen Lebens:„Was war, was ist mir das Wichtigste im Leben (Hondrich 2004, 149)?"

Karl Otto Hondrich räumt ein, dass er, gemessen an Zeit, Energie und auch Lust, bei der Beantwortung dieser Frage den Beruf in den Vordergrund stellen müsste. Im Rückblick und alles in allem gesehen, ist er allerdings entschieden der Auffassung, dass er – so sehr ihn Wissenschaft und Politik auch gebunden haben – ihnen, abgesehen von wenigen guten Freunden, keine wirklich wichtigen Bindungen verdankt:

„Die wichtigsten Bindungen in meinem Leben sind die an meine Frau, an meine Kinder, an meine verstorbene Frau – obwohl wir lange getrennt gelebt haben –, an meine Eltern, die längst tot sind, an meine Schwester und ihre Familie und an Charly, meinen alten Hund (Hondrich 2004, 150)."

Dass er die ihm wichtigsten Menschen oft hintangestellt habe, um Dinge zu tun, die er für wichtiger nahm, räumt Karl Otto Hondrich gleichermaßen ein; dies allerdings ganz offensichtlich immer in einer tief verankerten Gewissheit um Geborgenheit, vermutlich sogar aufgehoben in ihr:

„Solange wir Geborgenheit haben, wissen wir nicht, wie wichtig sie ist; wir wissen nicht einmal, dass es sie gibt. […] Als Heranwachsender, von Neugier, Lust und Ehrgeiz bewegt, konnte ich Geborgenheit vergessen; es gab genug davon, eher zuviel. Aber aus meinen Sehnsüchten verschwand sie nicht. So glücksverheißend wie die Träume von Frauen, Liebe, Familie, waren die von Leistungen, Examen, Berufserfolgen nie … (Hondrich 2004, 150f.)."

Hondrich müsste seinen Soziologenhabitus verleugnen, wenn er nicht danach fragen würde, ob er mit diesen Erfahrungen und Bewertungen aus der Reihe tanzt. Gleich, welche Umfragen man auch zu Rate zieht, wenn nach Zufriedenheit und Glück gefragt wird – so Hondrich –, könne keine andere Institution der Familie und der Partnerschaft das Wasser reichen. Nirgendwo sonst fühle sich die große Zahl der Menschen zufriedener als in ihren privaten, familialen Beziehungen (vgl. Hondrich 2004, 151).

2. Problembeschreibung

Verlieben, zwei Kinder bekommen, harmonisch zusammenleben – nicht unbedingt, aber lieber doch mit Trauschein – und zusammen alt werden! Das ist die Wunschvorstellung über die Generationen hinweg. „Warum erfüllen sich die vermeintlichen Glückssucher ihre Wünsche immer weniger (Hondrich 2004, 11)?" Gewärtige man die sinkenden Geburten- und steigenden Scheidungsziffern, dann scheine es offensichtlich immer schwerer zu werden, die Wunschbilder einer lebenslang auf Liebe gegründeten partnerschaftlichen Ehe mit zwei Kindern und gleichartiger beruflicher Erfüllung für beide Partner zu verwirklichen. Hondrich fragt schlicht danach, was dem entgegensteht (vgl. Hondrich 2004, 152).

Er rekurriert selbstverständlich auf die Beharrungskräfte des Herkömmlichen (alte Rollenmuster und Leitbilder), stellt aber dann dezidiert Interessenkonflikte in den Vordergrund, die nicht alt, sondern neu seien. Seine These spitzt er zu auf die Feststellung, dass es eben nicht die schlichten Konflikte zwischen Mann und Frau seien, etwa um die Gleichverteilung familialer Aufgaben, sondern dass hinter diesen Konflikten stärkere Kräfte stünden: "Das Berufssystem mit seinen Höchstleistungsanforderungen einerseits; andererseits die Ethik der Familie mit ihren nicht weniger gebieterischen Postulaten der Gleichheit und der Harmonie (Hondrich 2004, 153)." Halbe Sachen und gedrosselte Engagements duldeten diese gegensätzlichen Lebenssphären nicht. Und vor allem enthülle sich hinter dieser Konkurrenz der Lebenssphären ein weiterer Konflikt, in dem sich die unaufhebbare Spannung zwischen Individualitäten und Gemeinschaft manifestiere:

„Die Individualitäten der Partner sollen, idealiter, in der Individualität der Partnerschaft aufgehoben sein. Diese individualistische Vision vom ‚passenden Gegenstück‘ – Liebe genannt – macht sich aber selbst zur Illusion: Je mehr die Beteiligten sich als einzigartig verstehen, desto unwahrscheinlicher ist ihr Zusammenpassen (Hondrich 2004, 154)."

Vollkommen gegenläufig zur Entdeckung dieser Individualitäten entwickle sich die schützende Funktion von Staat und Kirche. Sie überließen es den Individuen zunehmend selbst, ob und wie sie ihre Familie stabilisieren oder zerbrechen:

„Alle Entwicklungslinien der modernen Gesellschaft scheinen sich verschworen zu haben, um die Familie aus den Angeln zu heben. Nicht nur dass wir ihr die Unterlage handfester kollektiver Zwänge entzogen und sie auf ein Fundament der Gefühle gestellt haben, wie es schwankender nicht sein könnte. Die Liebenden werden auch gegeneinander in einen Interessenkampf um die Verteilung der Aufgaben hineingezogen, der nie so ausgehen kann, wie es als wünschenswert deklariert wird. Denn es sind nicht so sehr die Interessen von Mann und Frau, sondern die normativen Postulate des Berufssystems und die des Familienlebens, die hier gegeneinanderstehen (Hondrich 2004, 155f.)." 

3. Bindung – Geborgenheit – Entschiedenheit

Bindung

Anschließend an diese Situationsbeschreibung kommt Karl Otto Hondrich zu einer folgenreichen Einschätzung: Mit Blick auf die weiter oben skizzierten Zwänge und Ausweglosigkeiten sind wir alle offensichtlich gezwungen, auf Problemlagen zu reagieren, die wir zwar nicht individuell gemacht haben, deren jeweilige Lösungen wir aber individuell vertreten müssten (vgl. Hondrich 2004, 156). Und dies eingedenk der Tatsache, dass sich auch in einer (post)modernen Gesellschaft seiner Auffassung nach Werte und Normen nicht ins Beliebige verflüchtigen. Hondrich reklamiert „Grundtatbestände des Zusammenlebens“, wonach „die Bindung an das Familiäre, die Gerechtigkeitsvorstellung der Gegenseitigkeit (Reziprozität), die Tabuisierung des Heiligen etc. von allgemeinster Verbindlichkeit sind und bleiben […] (Hondrich 2004, 156f.)."

Selbst die freieste Wahl einer Bindung, die wir als Erwachsene in Liebe und Freundschaft eingehen können, hänge immer genauso sehr von dem Geliebten oder der Freundin ab, wie von uns selbst: „Als Wählender bin ich auch Erwählter. Und meine Freiheit zu wählen erzeugt nicht nur die Unfreiheit des anderen, von mir abgewählt, sondern auch meine Unfreiheit, von ihm verlassen zu werden.“ (Hondrich 2004, 157) Es ist bemerkenswert, dass wir alle mehr denn je einer potentiellen Ungeborgenheit ausgesetzt sind. Und Karl Otto Hondrich verweist zu Recht auf eine Ausgangsbedingung, die uns auferlegt, die Unfreiheit als Kehrseite der Freiheit immer mit zu bedenken: Wenn ein individueller Schritt in die Freiheit zugleich zwei Unfreiheiten hervorbringe, dann sei die Vorstellung eines Fortschreitens der modernen Gesellschaft zur Individualisierung als Befreiung im Ansatz verfehlt. Der Weg in die Freiheit sei immer auch einer in Unfreiheit, Unsicherheit, Ungeborgenheit, einhergehend mit dem Risiko entbunden und entlassen zu werden: auf Märkten, in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, Parlamenten, Parteien, Vereinen. Dieses Risiko, so Hondrichs Hinweis, mag zu verschmerzen sein, solange es Grundgeborgenheit noch in zwei Institutionen gebe, die uns nicht verstoßen dürften, weil wir ihnen durch Herkunft angehören: Staaten und Familien (vgl. Hondrich 2004, 157f.).

Geborgenheit

"Geborgenheit ist kein Reservat für Kinder und Zurückbleibende. Wir brauchen sie in jedem Alter, solange wir vorangehen (Hondrich 2004, 158f.)." Weil genau dies auch meiner Lebenserfahrung und meiner persönlichen Lebenspraxis entspricht, folge ich Hondrichs Einschätzung, die angesichts des medial inszenierten Generationenkrieges höchst optimistisch, manche würden sagen geradezu naiv und blauäugig daherkommt. Danach stehen die Chancen einer Geborgenheit in modernen Familien nicht schlecht. Wohlstand, Gesundheitspflege und Langlebigkeit sorgen nach Hondrich dafür, dass die Solidaritätskette zwischen den Generationen heute länger sei als je zuvor:

"Und tatsächlich unterstützen sich, allen Unkenrufen einer wachsenden Generationenkluft zum Trotz, Alt und Jung gegenseitig, auch wenn sie nicht eng zusammenwohnen: Die rüstigen Rentner haben oft Fertigkeiten und Geld zu bieten, Kinder und Enkel lohnen es ihnen mit Besuchen, Zuwendung und Pflege (Hondrich 2004, 159)."

Dies markiert allerdings nur eine, und möglicherweise eine eher schwindsüchtige Seite gemeinschaftlicher Erfahrung. Auch Hondrich stellt nüchtern fest, dass die Sorge, die man vielleicht noch selbst für die alten Eltern aufbringt, in einer zunehmenden Kinderlosigkeit erstirbt, wenn man sie selbst beanspruchen will. Zu einem (be)drängenden Problem wächst sie sich auch in seiner Einschätzung aus, wenn die Armut an Kindern massenhaft um sich greift und das Netzwerk der Geborgenheiten immer mehr ausdünnt. Zurück blieben dann bestenfalls Rudimente der Herkunftsfamilie. Was in diesen Prozessen Schaden nehme, sei die wichtigste Funktion der Familie, die mit Geborgenheit zu tun habe: „Geborgen fühlen wir uns, wenn wir uns durch Einbindung geschützt fühlen: Geborgenheit gibt es nur durch Bindung – eine Bindung, die dauerhaft, also verläßlich ist […]. Geborgensein heißt: Man kann sich darauf verlassen, nicht verlassen zu werden (Hondrich 2004, 161)."

Möglicherweise hätte Karl Otto Hondrich gleichermaßen fasziniert wie verwundert zur Kenntnis genommen, wie ein systemtheoretisch inspiriertes Sprachspiel auch für die Betrachtung von Bindung, Liebe und Geborgenheit neue, vielleicht unerwartete, aber enorm entlastende (gemeinsame) Perspektiven eröffnet. Bevor ich im zweiten Teil dieser Einführung darauf eingehe, folge ich aber bewusst den eher appellativen und resignativen Einschätzungen Hondrichs, weil sie auf wunderbare Weise den Boden bereiten für einen nächsten Schritt, der uns auf nüchterne und ernüchternde Weise aufschließt für das Wunder der Ehe (Arnold Retzer 2008).

Karl Otto Hondrich ist der Auffassung, dass all diejenigen, die heute in der Ehe noch dauerhafte Geborgenheit suchten, ein hohes Risiko des Enttäuschtwerdens laufen. Liberale Scheidungsgesetze besiegelten nur ein moralisches Tauschgeschäft, das wir, als Träger kollektiver Moral, längst in unseren Köpfen vollzogen hätten: „Geborgenheit geben wir für Freiheit – in der Hoffnung auf neue Geborgenheit (Hondrich 2004, 162)." Tiefer liegende systemische Bindungszusammenhänge im familialen Kontext und der Verlust von Geborgenheit lassen Hondrich auf schier unlösbare Beziehungsgeflechte verweisen, die vor allem dann zu einer belastenden, vielfach ausweglosen Unübersichtlichkeit führen, wenn aus einer Verbindung auch Kinder hervorgegangen sind:

Zwei Menschen, die ihre Bindung auflösen, bringen sich selbst um Geborgenheit. Sie wissen das und setzen deshalb alles daran, wenigstens die Bindung zu ihren Kindern zu erhalten. Den Partner darf man verlassen, die eigenen Kinder nicht. Scheidungskinder, das ist heute Konsens auch unter zerstrittenen Eltern, sollen die Bindung zu beiden, zu Mutter und Vater behalten. Das ist die Leitidee aller gerichtlich und außergerichtlich ausgeklügelten Besuchsregelungen. Hinter dem Bemühen, diese so gerecht, verständnisvoll, Interessen ausgleichend wie möglich zu gestalten, steht, unerkannt, ein gewaltiger soziologischer Kraftakt: die Geborgenheit, die mit dem Scheitern der Gattenbindung verloren ist, in der Bindung zwischen Eltern und Kindern zu retten (Hondrich 2004, 162)."

Die fundamentale Bedeutung dieser Zusammenhänge, ihre unabsehbare Wirkung wird deutlich, wenn Karl Otto Hondrich eine feinsinnige Unterscheidung vornimmt, die uns vor der Hand zunächst irritiert, wenn nicht gar provoziert. Kaum jemand mag ihm widersprechen, wenn er davon ausgeht, dass der frühe Tod von Eltern für die betroffenen Kinder einen unwiederbringlichen Verlust an Geborgenheit bedeutet: „Ein größeres Unglück läßt sich kaum denken. Aber es bleibt ein Unglück.“ (Hondrich 2004, 164) Es sei aber gerade diese existentielle Dimension des Unglücks, die es zulasse, dass sich die Überlebenden mit dem Verstorbenen bruchlos in eins setzten, ihn in die Identität der Familie, diese sogar bestärkend, mit einbezögen. Bei einer Scheidung sei genau dies aber kaum möglich:

"Nicht durch ein Unglück, Naturkräfte, höhere Mächte oder Gottes Willen wird den Kindern Geborgenheit genommen, sondern durch den Willensakt von Menschen, und zwar von denjenigen, die sie am meisten lieben (Hondrich 2004, 164)."

Genau an diesem Punkt mag dieser weiter oben zitierte nolens volens vorgenommene, geradezu hilflos wirkende – dadurch aber wenigstens rhetorisch überzeugend zur Geltung kommende – Appell an die nachfolgenden Generationen vertretbar und plausibel erscheinen. Noch überzeugender stellt sich die rhetorische Kunstfigur Hondrichs vielleicht aus der Retrospektive Getrennter und Geschiedener dar: „Die Schuld des Scheiterns, die ja ihren Sinn hat, verteilt sich ohnehin – und es bleibt immer unentschieden, wie sie sich verteilt: auf das eine oder das andere Individuum, auf das Kollektiv der beiden, auf die kollektiven Leitbilder und Zwänge hinter ihnen. Vor diesem schwer durchschaubaren Hintergrund wird eine Ehe oder Partnerschaft heute aufgekündigt. Wer diesen Schritt tut, leidet selbst vielleicht am meisten darunter. Es geschieht, obwohl die beiden sich lieben oder geliebt haben.“ (Hondrich 2004, 167)

Der alte Karl Otto Hondrich dringt zu schmerzlichen Einsichten vor, die – wie es scheint – dem Alter vorbehalten zu sein scheinen; deshalb kann sein Appell an die nachfolgenden Generationen nur zu einer rhetorischen Kunstfigur geraten, die allerdings – wie mit einem Zeitzünder versehen – für viele zu späten, oftmals leider allzu späten Einsichten führt. Dazu gehören von Hondrich beobachtete Paradoxien, wonach dort, wo Nähe und Geborgenheit wachsen, auch die Einsicht in das individuell Trennende wachse: "Der Prozeß des Vertrautwerdens bringt nicht nur Geborgenheit, sondern… auch Entfremdung hervor (Hondrich 2004, 168)." Die Enttäuschung über den Verlust der romantischen Liebe scheint für viele nicht hinnehmbar. Wiederbelebungsversuche mit demselben Partner scheitern. Abenteuer und Liebschaften, so wenig synchronisierbar sie bleiben, sind für den Höchstrelevanz (Peter Fuchs) einbüßenden Partner oft unerträglich und erzwingen häufig Trennungen, auch dort, wo sie niemand wirklich will. Und vor allem:

Eine Neuauflage des Romantikprogramms mit neuem Partner opfert eine Geborgenheit, die kaum zu ersetzen ist – und unterliegt doch auch dem Gesetz der Verwandlung von romantischer in familiäre (oder partnerschaftliche, Verf.) Liebe (Hondrich 2004, 168)."

Karl Otto Hondrichs Erwägungen erscheinen höchst bedenkenswert. Er meint, drei Wege stünden offen: 1. die Rücknahme überzogener Ansprüche; 2. die Entschiedenheit zur Partnerschaft und schließlich 3. die Einsicht, dass das Individuum in Liebe und Familie nichts selbst, aber – fast – alles mitbestimme. Bevor ich mich der letzten seiner Schlüsselkategorien – Entschiedenheit – zuwende, gehe ich noch einmal auf den „Altersvorbehalt“ ein: Karl Otto Hondrich meint, das gute Leben bestünde nicht in der Erfüllung, sondern in der Annäherung von Wünschen und Wirklichkeit: "Nicht bei dem Wunsch nach Liebe selbst, sondern bei der Wunscherfüllung müssen wir uns bescheiden.“ (Hondrich 2004, 170) Das Erreichen einer erfüllenden Intimität oder gar eines „fürsorglichen Finales“ (Klöckner 2007) sei nur möglich in einem langwierigen Prozess des Irrens und Korrigierens, als Gemeinschaftsarbeit!

Entschiedenheit

Diese oder jene Gewohnheit, diese Selbstbezogenheit, jene Bequemlichkeit – so fragt Hondrich –, sind sie wirklich der Grund dafür, dass eine Familie nicht zusammenbleibt? Oder fungieren sie nur als Zeichen dafür, dass es an der Entschiedenheit zur Partnerschaft mangele, die auch die Grundlage der gegenseitigen Geborgenheit sei?

„Oft habe ich mich gefragt, ob ich es an dieser Entschiedenheit nicht habe fehlen lassen. War ich wirklich entschieden die Ehe zu erhalten? Entschieden genug, um eine Anstrengung zu machen […]? Eine ständige Anstrengung zur Selbstveränderung tut nicht gut. Man muß auch ohne Anstrengung zusammenpassen, sonst paßt man nicht zusammen. Wenn es nicht geht, dann muß man sich eben trennen. Dafür gibt es ja die Scheidung. Das ist doch heute normal. Man muß auch loslassen können. Reisende soll man nicht aufhalten. Nichts dauert ewig. Gegen die Sirenengesänge der Scheidung ist kein Kraut gewachsen. Es sei denn Entschiedenheit.“ (Hondrich 2004, 171f.)

Ganz offenkundig gibt es in der Sehnsucht nach der einen großen Liebe, die ein ganzes Leben lang hält, ein starkes generationenübergreifendes, sinnstiftendes Zentralmotiv allen menschlichen Strebens. Als mögliches Ergebnis einer individuellen Anstrengung mit einer Haltung der Entschiedenheit widerspricht sie allerdings den romantischen Vorstellungen von der Liebe. Das Alter wird denjenigen zum Privileg, deren leidenschaftliche Liebe im Beginnen, später dann in Geborgenheit ihre Entsprechung findet oder gar aufgehoben, man könnte sogar sagen, geborgen wird. Karl Otto Hondrich ist der Meinung, dass die Schwerelosigkeit des Beginns, die nicht nur ein kurzes, sondern auch ein seltenes Glücks sei, oft genug über den Flirt nicht hinaus gelange, wenn ihr nicht eine Entschiedenheit sowohl des Zupackens als auch der Hingabe folge: „Je mehr die Liebe den Schmelz der Leidenschaft einbüßt, desto mehr ist sie auf Entschiedenheit angewiesen (Hondrich 2004, 173)."

Zwischen Selbstironie und Selbstbedauern zeigt Hondrich eine Altersweisheit, wenn er meint, dass wir dem Partner nicht nur Anerkennung für die Gemeinsamkeit des Strebens schuldeten, für ein Verständnis unserer individuellen Eigenarten, sondern letztlich dafür, dass wir gemeinsam etwas begründen und entwickeln, das wir so nicht vorgesehen haben. Dass dies in einem langwierigen Prozess des Irrens und Korrigierens als Gemeinschaftsleistung geschehe, haben wir weiter oben schon betont. Weit zurückblickend bedauert Hondrich, dass dies eine späte Einsicht sei:

„Ich erinnere mich an einen Spaziergang im winterlichen Kottenforst, bei dem ich meiner ersten Frau, vor der Ehe, die Ehe schmackhaft zu machen versuchte, indem ich für radikale Nüchternheit von Anfang an plädierte, um uns vor späteren Enttäuschungen zu schützen. Von der Enttäuschung durch dieses Gespräch hat sich unsere Ehe möglicherweise nie erholt (Hondrich 2004, 170)."

Karl Otto Hondrich bleibt nüchtern, vor allem in seiner analytischen Haltung als Soziologe von Rang. Er betont Grenzen und den illusionären Charakter der Vorstellung von autonomer Entscheidungsfreiheit, in der (Post)Moderne, die uns zur Freiheit verdammt. Seiner Erfahrung nach entscheiden wir nicht individuell, ob und wen wir lieben.

"Wir entscheiden nicht individuell, ob und wen wir heiraten. Wir entscheiden nicht individuell, ob und wie viele Kinder wir bekommen […]. Wir entscheiden nicht individuell, ob wir zusammenbleiben. Auch wenn wir all dies zu zweit entschieden haben, entscheiden wir nicht darüber, ob wir glücklich werden. […] Und wir entscheiden nicht darüber, wie andere Liebende entscheiden, wie also ‚die Gesellschaft‘ mehrheitlich aussieht (Hondrich 2004, 174f.)."

Und dennoch, und dennoch, und dennoch ist Karl Otto Hondrich in seiner großen Pathos-geschwängerten Schluss-Suada geneigt, sich selbst und so manch anderem die vergangenheitsbewältigenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme (Niklas Luhmann) durcheinanderzuhageln:

"Alles, was wir nicht individuell entscheiden, entscheidet sich nicht, ohne daß wir mitentscheiden: Wir entscheiden mit, ob aus Verliebtheit eine dauerhafte Partnerschaft, aus der Partnerschaft eine Familie, aus der (Familien)Entscheidung eine Scheidung wird. Wir entscheiden mit, ob wir Geborgenheit von unserem Partner nur nehmen oder auch ihm geben. Wir entscheiden mit, ob wir Geborgenheit von unseren Eltern nur genommen haben oder ob wir sie als Eltern weitergeben. Wir entscheiden mit, ob wir unseren Kindern Geborgenheit geben oder sie ihnen nehmen. Wir entscheiden mit, ob wir von unseren Kindern Geborgenheit annehmen. Wir entscheiden über die innerste Geborgenheit in der Gesellschaft mit. Wir entscheiden darüber, ob wir, im unauflöslichen Widerstreit der Werte, diese Geborgenheit auf dem Altar von Freiheit, Flexibilität, Selbstentfaltung, Leistung, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand opfern. Obwohl für die Gesellschaft im Großen unsere Mitentscheidung nur von kleinster Wirkung ist, ist ihre Wirkung für den kleinen Kreis unseres privaten Lebens groß (Hondrich 2004, 175f.)."

Ich danke Karl Otto Hondrich dafür, dass hinter dem methodenversessenen Soziologen jemand aufscheint, der – jenseits aller Modernitätszwänge – die Dimensionen zurechtrückt, und der uns darauf hinweist, dass unser aller Verantwortung an unserer Haltung zur Entschiedenheit kenntlich wird. Der alte lebensweise, lebenssatte (?) Hondrich mahnt uns zur Entschiedenheit und wünscht uns die gelassene Hinnahme von Dingen, die sich gegen den eigenen Willen entscheiden. Und er zeigt sich als hoffnungsfroher Optimist: Zwar gehe es ohne die Fähigkeit, miteinander zu reden und eine Einigung zu erzielen, dabei kaum. Zu glauben, dass sich das Zusammenleben in der Liebe aber allein auf dem Verhandlungswege durch kommunikatives Geschick regeln lasse, dies hält er für einen Fehlschluss. Denn die Unterschiede zwischen den Partnern würden umso mehr sichtbar – oder verdrängt –, je länger verhandelt werde. Es müsse da schon eine Gemeinsamkeit geben, die allen Verhandlungen unterliege und nicht verhandelbar sei: „Daß dieser tiefste Grund des Zusammenlebens – ob als Übereinstimmung der Willen, des Wissens oder der Gefühle – argumentativ nicht herstellbar, aber auch nicht zerstörbar ist, lässt hoffen.“ (Hondrich 2004, 176)