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Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.

Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten. "Mit diesem berühmten Bekenntnis beginnt eine der faszinierendsten und theoretisch folgenreichsten Reisebeschreibungen des 20. Jahrhunderts. Claude Lévy-Strauss' Traurige Tropen [...] Die konkreten Beschreibungen von Mythen und Riten... verschränken sich mit allgemeinen Analysen gesellschaftlicher Strukturen..., die auch eine nachdrückliche Kritik der westlichen Zivilisation... formulieren (Klappentext der Sonderausgabe des Suhrkamp-Verlags 2008)."

Der Grund für Lévy-Strauss' Abscheu gegen die zeitgenössischen Reiseberichte sei so einfach wie verheerend: Lévy-Strauss konstatiere: "Sie geben uns die Illusion von etwas, das nicht mehr existiert, das aber noch existieren müsste, damit wir der erdrückenden Gewissheit entrinnen, das zwanzigtausend Jahre Geschichte verspielt sind (ebenfalls Klappentext)."

Maximilian Probst bezieht sich in seinem grundlegenden ZEIT-Beitrag: "Umdenken oder Untergehen" unter anderem auf Lévy-Strauss, der ihm die Einsicht vermittelt habe, dass das Aussterben einer beliebigen Tier-oder Pflanzenart ihm zufolge schwerer als der Verlust sämtlicher Werke von beispielsweise Rembrandt wiege.

Das alles ist inzwischen ja auch schon wieder einige Jahre her und noch länger ist es her, dass Wolfgang Klafki anregte, für gebildet nur noch jene zu halten, die nicht nur um die Schlüsselprobleme der Welt wüßten, sondern sich auch für ihre Lösung einsetzten - oder um es mit dem Philosophen Maurizio Lazzarato zu sagen:

"Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit verlangen künstlerische, intellektuelle und ökonomische Arbeit auf der einen, Warenkonsum, Aneignung von Wissen und Schönheitswerte auf der anderen Seite danach, nach der gleichen Ethik reguliert zu werden."

Jüngst ist es Roger de Weck der uns einen Weckruf verpasst:

Das Programm zur Stärkung der Demokratie

Unter andrem skizziert Roger de Weck zwölf Vorschläge für eine innovative Demokratie – sie sind sein eigentliches Programm. Er plädiert für:

● einen mächtigen Rat der Umweltweisen;

● ein Initiativrecht der Umweltminister;

● ein aufschiebendes Veto eines Rats der Generationengerechtigkeit;

● eine neue Umweltkammer nebst der Volksvertretung, dem Parlament;

● ein Stimmrecht als Stimme der Jugendlichen;

● einen europäischen Gerichtshof für Rechte der Natur;

● eine ökologische Fussabdruckbank;

● eine demokratiefreundliche OECD;

● einen Transparenzhof auf Bundes- und Nationenebene;

● eine europäische Digitalplattform-Behörde;

● direkte Demokratie sowie

● guten Journalismus.

Eine flüssig geschriebene Streitschrift

Das neueste Demokratie-Buch ist die Streitschrift eines zeitgenössischen Progressiven. Bisweilen wird man von der Informationsdichte und dem Ideenreichtum fast erschlagen. Der Autor bemerkt am Ende aufrichtig, dass die zwölf Neuerungen in ihrer Summe wohl zu viel des Guten wären. Er sieht sie denn auch mehr mögliche Vorschläge für eine Erneuerung der Demokratie. Diese sei kräftiger als man häufig meine, müsse aber wieder schöpferisch werden.

Zwei Diskussionsstränge sind de Weck besonders wichtig: einmal die Demokratie auf die Höhe der Herausforderungen durch den Klimawandel und die Digitalisierung zu führen, sodann die nächste Generation für die Demokratie zu gewinnen.

Winfried Rösler hat mich noch einmal dazu veranlasst, Peter Sloterdijk in seiner eher fragwürdigen Publikationswut zu überdenken - beispielsweise anhand seiner Notizen: Zeilen und Tage (hier 2008-2011). Sicher kann man das teils als grenzwertig betrachten  - Karasek würde von Fürzen sprechen, denen man nicht unbedingt hinterherschnüffeln müsse. Zuweilen überkommt mich gleichwohl das Bedürfnis nach Amüsement. Warum soll man das nicht auf geistreiche Weise befriedigen und dabei immer wieder auch Bedenkenswertes bedenken. Am 18. Juni 2009 findet sich folgende Eintragung:

"Warum keinen Roman über die reale Ökodiktatur schreiben? Darin wird geschildert, wie man versucht, die Menschen vom schädlichen Umgang mit zerbrechlicher Natur abzubringen. Kaum etwas ist schädlicher als die Neigung vieler Leute, große Entferungen zurückzulegen, um anderswo zu tun, was sie besser zu Hause täten, etwa sich zu erholen. Foglich werden in der ökologisch berichtigten Welt alle Menschen, die gerne reisen, auf einer List von Verdächtigen erfasst. Überschreiten sie ihr zugebilligtes Kontingent an CO²-aktiver Mobilität, werden sie abgemahnt. Fahren sie mit ihrer unsinnigen Reisepraxis fort, werden sie in großen Lagern interniert, in denen Reisefrevler und sonstige übermobile Subjekte ohne Sonderlizenz eine rigide Umerziehung zu sedentären Tugenden erfahren. Scheitern diese Maßnahmen, werden die exzessiven Philobaten - wie man seit Balint die Weite-liebenden Herumtreiber nennt - eingeäschert, zu Diamanten gepresst und in die große Diamantenmauer eingefügt. Mit dieser Mauer zeigt der Ökostaat, wie aus Umweltschädigern zu guter Letzt nützliche Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft werden können: Bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang leuchtet die Diamantenmauer in überirdischer Schönheit auf und beweist den seßhaft Lebenden, dass das Schönste, was die Erde zu bieten hat, ganz in ihrer Nähe steht. Dem schädlichen Fernweh wird mir einer radikalen lokalen Ästhetik abgeholfen (S.221f.)."


Es ist so gnadenreich, dass der Vielflieger Peter Sloterdijk - darin Roger Willemsen nicht unähnlich - noch nicht die Diamantenmauer schmückt; er alleine würde ja leuchten wie eine Supernova, sondern dass er mit den Absonderungen genau solcher Eingebungen dafür sorgt, dass uns das Lachen im Halse stecken bleibt und selbst noch das Grinsen zu einer Fratze gerät.

Bedenke ich, dass die Axel S.s und Herbert W.s dieser Welt mir glaubhaft versichern, nach der corona-Krise hätten wir einen Übergang ungeahnten Ausmaßes zu einer nie gekannten Haltung  eines buiseness as usual zu erwarten, dann gerät mir Sloterdijs bittere Parabel auch schon einmal zu einem genüsslichen Wachtraum - versehen mit Schutzreflexen, mit deren Hilfe ich mein näheres Umfeld vor den Horden all derer bewahren will, die der Diamantenpresse so eben noch entgangen sind.

An dieser Stelle lohnt es, den Schlussakkord aus Maximilian Probst' Revision des Bildungsbegriffs noch einmal erklingen zu lassen:

"All das menschliche Tun, das über zwei Jahrhunderte folgenlos erschien, all das Verfeuern von Kohle und Öl zeitigt nun Wirkungen, mit denen niemand gerechnet hat: Die Natur feuert zurück. Mit Dürren, Wirbelstürmen, Überschwemmungen - wir waren nie von ihr, der Natur, getrennt!"

Man möchte hinzufügen: Wir waren nicht nur von ihr nie getrennt, wir sind vielmehr die Natur - auch in der Gestalt eines Virus, das uns als Wirte superattraktiv findet und das in der Lage sein könnte, unser Bewusstsein zu schärfen, eben nicht nur für die Bedrohung durch schnelle virale Krisen, sondern auch für die langsamere Klimakrise. Der gegenüber verhalten wir uns ja gegenwärtig noch wie der Frosch im ehemals kalten Wasser, das sich Grad für Grad erwärmt, bis es uns den Atem nimmt und kein Weg mehr hinausführt in eine gemäßigte, wohltemperierte Zone.