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Die Hand halten oder nicht? (II)

Seit dem Streitgespräch - es war ja fast ein klassischer Disput - zwischen dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock und Klaus Mertes, dem bekanntesten Jesuiten des Landes, wie die ZEIT ihn vorstellt, sind fast 14 Tage vergangen. Unter dem Aspekt der Einschränkung von Grundrechten bauten die beiden Kontrahenten eine klassische contradictio in adjecto auf. Die beiden Plädoyers sind in ihrer Gegensätzlichkeit idealtypisch und geeignet, den Spannungsraum in der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung aufzuzeigen.

Während Klaus Mertes nicht ohne Pathos meint: "Ich bin erschüttert über die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Beschneidung von Grundrechten", hielt Peter Dabrock dagegen: "Ich bin nicht erschüttert über die Bereitschaft, sich einschränken zu lassen. Ich deute das als Zeichen der Solidarität."

Auch der gemeine Bürger macht sich seine Meinung, innerhalb von Familien oder Freundeskreisen wird mehr oder weniger hart gestritten. Die politischen Entscheidungsträger sehen sich inzwischen durchaus mit verfassungsrechtlichen Bedenken konfrontiert, die sich mit dem Tatbestand einer notstandsähnlichen Rechtslage auseinandersetzen. Andererseits sind die Zustimmungwerte zu den coronabedingten Einschränkungen überraschend groß. Man kann gespannt sein, wie sich dies mit der am kommenden Mittwoch (15.4.20) anstehenden Neuausrichtung der Einschränkungen verändert. In der Zusammenfassung und Kommentierung der Streitgespräches zwischen Peter Dabrock und Klaus Mertes ist bereits betont worden, dass Dabrock eine gemeinwohlorientierte (utilitaristisch) begründete Ethik vertritt, während Klaus Mertes eher eine individualethische Position einnimmt. Niklas Luhmann ist häufiger attestiert worden, dass er wichtige Entlastungsmotive aus der Biologie und Metabiologie übernommen habe (siehe Peter Sloterdijk, in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 127f.):

"Selbstbezüglichkeit ist nicht etwas, was erst nach der Entstehung von Ich-Bewusstsein ins Spiel käme - als wäre sie ein parasitärer Zusatz zu einem vorgängig reflexionsfrei eingerichteten organismischen Sein [...] Vielmehr treten Selbstverhältnisse schon auf der ersten Stufe des Lebens auf, insofern dieses als Inbegriff selbstschöpferischer Prozessordnungen beschrieben werden muss. Das Selbst der Autopoiesis lebendiger Systemeinheiten spiegelt eher die Güte der gelungenen Schöpfung als eine narzistische Revolte wider - denn Organismen sind als Intelligenzverkörperungen verfasst, an denen sich die Doppelbewegung des Selbst- und Fremdbezuges von Anfang an beobachten lässt. In höheren Organismen kiann Selbstbezug auch die Form von Sich-Erleben und symbolvermitteltem Selbstbewusstsein annehmen. Doch wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz- und Erfolgsdesigns darstellen, und, dementsprechend, auf die permanente Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren (a.a.O., S. 127 - weiter unten mehr dazu)."

Wir erleben gegewärtig ein - in dieser Offenheit und Transparenz - ungewohntes Zusammenspiel, um in der Luhmannschen Logik zu bleiben, von Politik- und Wissenschaftssystem. Die Politik ist auf wissenschaftliche Expertise angewiesen, muss gleichwohl in eigener Verantwortung Entscheidungen treffen und vorhalten, die insbesondere andere Subsysteme, wie Wirtschaft, Erziehung, aber eben auch das Individuum - gewissermaßen als systemische Monade - betreffen und vor allem in ihren jeweiligen Verhaltensspielräumen  r e g u l i e r e n. Die Politik folgt derzeit der Darbrockschen utilitaristischen Ethik und ordnet ein lockdown aller gesellschaftlichen Subsysteme an sowie eine - an eindeutige Regeln gekoppelte - soziale Distanzierung bis heinein in die individuellen Hygienevorschriften; dies alles geschieht, um die absolut gesetzte Systemrelevanz des Gesundheitssystems und damit das Wohl der größtmöglichen Zahl zu gewährleisten.  Die Akzeptanz dieser Vorgehensweise des Politiksystems wird entscheidend davon abhängen, wie und wann Exit-Strategien zum Zuge kommen, die in ihren Abwägungskriterien überzeugen.

Dieser zweite - mit Abstand geschriebene - Beitrag zum Disput von Peter Dabrock und Klaus Mertes verdankt sich einer (innerfamiliären) Kontroverse, in der eine Position die Bedenken von Klaus Mertes übernimmt, die mit einer "Erschütterung über die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der Beschneidung von Grundrechten" einhergeht. Niklas Luhmann hat sich immer wieder erstaunt darüber geäußert, wie ein so komplexes und kompliziertes Gebilde, wie eine (Welt-)Gesellschaft funktionieren könne. Der gegenwärtig zu beobachtende Versuch über ein Primat der Politik tief in diese Funktionssysteme einzugreifen, eröffnet auch aus systemtheoretischer Perspektive ganz gewiss ein ungewöhnliches und möglicherweise einmaliges Experiment bzw. Beobachtungsfeld.

Im Zusammenhang mit den Analogien, die Niklas Luhmann der Biologie bzw. Metabiologie entlehnt, könnte man - waghalsig genug - die Maßnahmen des gesellschaftlichen lockdowns - mit einem angeordneten und durchgesetzten künstlichen Koma vergleichen. Während Mediziner Patienten mit sehr schweren Verletzungen und Erkrankungen in ein künstliches Koma versetzen, um den Körper bei der Genesung zu unterstützen, versetzen die Entscheidungsträger im Politiksystem ganze Gesellschaften in ein künstliches Koma. Der gesamtgesellschaftliche lockdown gleicht in der Tat einem künstlichen Koma, um dem Gesundheitssystem angemessene und notwendige Handlungspielräume zu eröffnen und damit der größtmöglichen Zahl von Bürgern unserer Gemeinwesens zu nützen. Peter Dabrock argumentierte ja mit dem Hinweis, dass, "wenn wir jetzt Härten nicht hinnehmen, wir bald hundertfache Härten haben werden". Natürlich spielt hier die Macht der Bilder eine entschieden meinungsbildende Rolle. Man müsste die Bilder aus Bologna, Cremona, Madrid, New York schon als Fake-News betrachten, um dem Schock zu entgehen, den sie bei uns - in medizinischen Komfortzonen lebenden - Westeuropäern ausgelöst haben.

Ich neige heute dazu, das Spannungsverhältnis, dass Dabrock und Mertes zwischen einer gemeinwohlorientierten und einer individualistisch orientierten Ethik aufgebaut haben, nach der gemeinwohlorientierten Seite hin aufzulösen. Seit drei Wochen besteht die Kontaktsperre zwischen uns - vor allem Claudia und mir - und unserer (Schwieger-)Mutter. Bislang ist das Seniorenzentrum Laubenhof von covid 19 verschont geblieben. Es ist zu hoffen, dass dies so bleibt und das all die Mühen nicht vergeblich waren.

Peter Dabrock sagt: "Aus ethischer Sicht muss man eine Güterabwägung treffen. Natürlich verlieren betreute Menschen ihren Anspruch auf Selbstbestimmung nicht. Aber wenn die akute Gefahr besteht, dass Besucher das Virus in die Einrichtung tragen, sodass die Einrichtung ihren Betrieb schließen müsste, weil es dort vermehrt zu Todesfällen kommt: dann ist im Sinne des Schutzes von Leib und Leben für eine gewisse Zeit eine Einschränkung der Selbstbestimmung möglich und auch richtig."

Wie lang darf und kann diese "gewisse Zeit" dauern: Es ist auch Peter Dabrock, der den Vorschlag macht, "die Heime neu aufzuteilen - also in Teile, in denen Bewohner auf eigenen Wunsch abgeschottet leben, und in andere Teile, in denen Bewohner unter Inkaufnahme aller Risiken soziale Kontakte erleben können. Ich nehme ja diejenigen ernst, die sagen: Was hilft es mir, wenn ich drei Monate länger lebe, aber das drei fürchterliche, einsame Monate sind."

Wir - meine Frau und ich - haben das heute morgen einmal durchgespielt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass diese ein relativ praxisferner Vorschlag ist, der sich in den meisten Heimen so nicht realisieren lässt, einmal ganz abgesehen von dem wohl notwendigen Mehraufwand an Personal.

Zu Gefährdung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung möchte ich anmerken, dass ich die Warnungen und Vorbehalte für überzogen halte. Ich schöpfe meine Zuversicht dabei aus unterschiedlichen Quellen:

  • die verordneten Maßnahmen können sich bislang auf große - erstaunliche große - Zustimmungswerte bei der Bürgerschaft stützen;
  • es ist genau diese Bürgerschaft, eine starke Zivilgesellschaft, der ich zutraue ihre Zustimmung auch an klaren demokratierelevanten Kriterien zu orientieren;
  • zu diesen demokratierelevanten Kriterien gehört - bei allen Einschränkungen der Versammlungs- und Reisefreiheit - eine absolut funktionierende freie Presse. Ich beziehe meine eigene Meinungsbildung nach wie vor auf der Grundlage einer freien Berichterstattung über die Medien innerhalb unseres Gemeinswesens und innerhalb Europas - mit wenigen Ausnahmen. Dies unterscheidet uns radikal von China, von Russland und leider inzwischen auch von Ungarn und möglicherweise Polen. Mit Blick auf die Diskussion möglicher Lockerungen und Exit-Strategien wird sich dieser fundamentale Unterschied als hilfreich, notwendig und vollkommen alternativlos erweisen.

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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