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Jeder Tag ist Muttertag

Es bleibt vorläufig dabei: Was Frauen und Männer fundamental trennt, ist die Erfahrung der Mutterschaft - und zwar in ihrer vollständigen, umfänglichen Dimension. Sind an der Zeugung von Nachwuchs Männer noch in unterschiedlichsten sozialen, emotionalen und medizinisch-biologischen Kontexten beteilgt, markieren Schwangerschaft und Geburt einen genderspezifisch so fundamentalen Unterschied, dass er aus meiner Sicht den Unterschied ausmacht, der Frauen und Männer tatsächlich unterscheidungsfähig macht. Wenn ich von der vollständigen und umfänglichen Dimension dieses Unterschieds spreche, dann meine ich damit sowohl die außerordentlichen Privilegien als auch die bis heute nicht von der Hand zu weisenden Risiken, die Frauen mit Schwangerschaft und Geburt geschenkt werden bzw. die sie auf sich nehmen. Geschieht dies freiwillig in der Haltung eines absoluten und zweifelsfreien Kinderwunsches, mag dies auch umfänglich Sinn geben. Es gibt andere Kontexte und Situationen, die je nach historischen, kulturellen, sozialen und individuellen Rahmenbedingungen Schwangerschaft und Geburt auch sehr in Frage stellen bzw. nachhaltig belasten.

Wie immer dem auch sei - für diejenigen, die geboren werden, steht vor vorne herein fest: Der Mensch ist, weil er sich verdankt. Niemand erschafft sich selbst. Sind die Umstände einer Zeugung, Schwangerschaft und "Aufzucht" von guten, positiven Bedingungen gerahmt, dann erfahren Menschen das, was sich alle wünschen: Sie werden als Erdenbürger auf dieser Welt sehnlichst erwartet und ihnen widerfährt in Form von liebevoller Zuwendung und Fürsorge all jenes, was uns auch vorderhin zu Menschen macht; Menschen, die ihrerseits in der Regel mit den Gaben des Mitleids, der Empathie, der Liebe und Zuneigung ausgestattet bzw. gesegnet sind, so dass ein guter Wind das innerfamiliäre Klima über die Generationen hinweg wesentlich prägt. Familiendynamiken sind in der Regel allerdings nicht so beschaffen. Das pure "Familienglück" bleibt Illusion:

"Eine unruhige Selbstreferenz, die in Vorstellungen eines immer bedrohten, aber auch immer möglichen Gleichgewichts konvergiert, liefert ein stündlich und täglich abrufbares Schema, das es erlaubt, auf Überraschungen, Enttäuschungen und andere Störungen sowohl zu reagieren als auch nach Bedarf abzuweisen, dass Reaktionen erforderlich sind. Die Kulturform des Gleichgewichts, die man sich als eine laufende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Ungleichgewichts vorstellen muss, ist der Rechenrahmen, der zurate gezogen wird, um entscheiden zu können oder unentschieden auf sich beruhen zu lassen, auf welche Probleme innerhalb der Ehe, bei der Erzhiehung der Kinder, im Umgang mit den Alten... wer wann eingeht (Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt 2007, S. 200)."

Was können Mütter, Väter und Kinder zu den erwähnten Ungleichgewichten beitragen? Wer geht wann auf welche Probleme ein? Wer kreiert wann welche Lösungen und welchen Preis zahlen die Beteiligten dafür? Kann man nolens volens bestimmte wechselseitige Erwartungen und damit verbundene Haltungen schlicht voraussetzen, kann man sie möglicherweise auch deligieren? Oder anders herum gefragt: Wer nimmt sich wann das Recht bestimmte Erwartungen zu bedienen - ja sie in verqueren Familiendynamiken sogar zu monopolisieren? Und wie gehen die Beteiligten damit um? Was ist das zivilisatorische Minimum auch in innerfamilialen Beziehungen? Was markiert sozusagen - auch in intimer Hinsicht - den eigenen Raum, den jeder einzelne für sich, den die Eltern für sich und den auch die Kinder für sich - je älter sie werden - in wachsendem Maß beanspruchen können, dürfen und müssen? Und - um auf die plakative thematische Fokussierung zurückzukommen - nehmen Mütter in diesem schwierigen Kontext eine Sonderrolle ein? Mancheiner behauptet es gebe auch ein(e) besondere(s) Begabung/Verpflichtung/Bedürfnis zur/nach Mutterschaft. Die Entscheidung zwischen privater und öffentlicher Rolle, zwischen Erwerbsleben und der Pflicht bzw. dem Bedürfnis Mutterschaft auch (aus-)leben zu wollen besitzt möglicherweise eine andere Dimension bzw. Wertigkeit als sie gemeinhin mit der Gestaltung von Vaterschaft verbunden wird.

Eine kleine private Einlassung: 1987 und 1989 - als ich Vater werden durfte - ließ es meine teilzeitgeregelte Rolle im Erwerbsleben zu, dass ich in meine Töchter im Säuglingsalter, im Vorschulalter und auch noch in die Schulzeit hinein begleiten durfte. Gemeinsam mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter konnten wir ein nahezu vollständiges Netz spinnen, in das der Kindergarten erst in einem uns angemessen erscheinenden Alter unserer Kinder eingreifen durfte. Außerdem gehörte ich zur ersten Generation von Vätern, die zu Schwangerschaft und Geburt einen unmittelbareren Zugang hatten. Dafür bin ich dankbar. Und ich glaube, dass dies ebenso sehr meine Persönlichkeitsentwicklung geprägt hat wie später die intensive Sorge und Fürsorge für die Alten.

Ich habe in der vorstehenden kurzen Einlassung meine Schwiegermutter erwähnt. Ich müsste ebenso meine Mutter erwähnen. Beide Großmütter haben ein besonderes Interesse an ihren Enkeltöchtern gezeigt. Die generationenübergreifende Kraft blutsverwandtschaftlicher Bindung hat den Unterschied ausgemacht und beiden Frauen eine besondere Rolle zukommen lassen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch die Großväter eine besondere Begabung aufwiesen. Der Großvater mütterlicherseits, der 2010 verstorben ist, mutierte in dieser Rolle gar vom harten Hund, dessen Liebe zu seiner Tochter sich primär in Sorge und Autoritätsansprüchen offenbarte, zu einem butterweichen Großvater, der seinen Enkeltöchtern die Wünsche und Bedürfnisse buchstäblich von den Lippen ablesen konnte. Streit gab es dann später allenfalls mit Blick auf den Erziehungsstil der Tochter, der zumindest die väterliche Handschrift der eigenen Tochter gegenüber nicht gänzlich leugnen konnte. Dem harten Hund, der der Großvater auch war, agierte die eigene Tochter zuweilen mit zu großer Strenge. Mich interessieren insbesondere solche Verschiebungen von Wertigkeiten und Haltungen.

Was mich in dieser Hinsicht seit Jahrzehnten beschäftigt, hängt mit einer merkwürdigen Dynamik in der eigenen Herkunfstfamilie zusammen. Diese Dynamik hält an und durchwirkt und beeinflusst seit drei Generationen die innerfamiliären Beziehungen. Zeigen lässt sich dies am Zustandekommen und der Interpretation von Mutterschaft und Großmutterschaft. In meiner Wahrnehmung führt das u.a. zu der Idee, dass jeder Tag in unserer Familie ein Muttertag ist: