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Jetzt habe ich doch noch meine Weihnachtsgeschichte gefunden

Liebe Tina,

vielen Dank für eure Weihnachtsgrüße. Lange schon wollte ich dir einmal schreiben - immer noch vor allem in Dankbarkeit für das schöne Fest im September und euren/deinen Beitrag. Wahrscheinlich habe ich versucht in den vergangenen drei Monaten die letzten Jahre zu verdauen. Herausgekommen ist dabei die notwendige Ordnung dessen, was in den letzten Jahren liegen geblieben ist. Bis man alles  g e r e g e l t  hat, was einen dann zu einem Pensionär macht, fließt viel Wasser die Mosel und den Rhein hinab. Und dennoch gewinnt man bei alledem ein anderes Gefühl für  Z E I T - sie verflüchtigt sich, wird knapp und knapper; für mich jeden Tag spürbar und spürbarer.

Es zieht mich seltsamer Weise jeden Tag in den Laubenhof, dorthin, wo meine Schwiegermutter lebt. Der Kontakt ist enger denn je. Jeder Tag ist neu und bemisst sich daran, was noch erinnerungsfähig und offensichtlich auch erinnerungswürdig ist. Da atomisiert sich eine Biografie und schrumpft auf klitzekleine Restwerte (dies befüllt auch mehr und mehr das Projekt Demenztagebuch): Kindheit, Jugend - die Glorifizierung des  V A T E R S!!! Kein Zusammentreffen entbehrt des Hinweises, dass der Vater, der schon 1952 gestorben ist, dort oben auf sie wartet und sie mit eine handvoll dicker, roter Herzkirchen erwartet. Meine eigene  S E N T I M E N T A L I T Ä T  kennt keine Grenzen, wenn ich erlebe, wie mühsam es ist, über e i n  e i n z i g e s  Foto - es zeigt meine Schwiegermutter und meinen Schwiegervater (so etwa um das Jahr 2002 goldene Hochzeit) die Brücke zu bauen und zu schmieden zu den elementaren, Existenz und Biografie begründenden Mosaiksteinen ihres Lebens: Dann wird aus "dem Mann, der Häuser baute" noch einmal "Leonardo de Vinci" (sie sagt und betont lachend "de" Vinci!), für den den sie gekocht hat, und dem es bei ihr immer geschmeckt hat. Leo, mein Schwiegervater, war ein leidenschaftlicher Tänzer. Und er kommt dann noch einmal zurück auf die Tanzfläche, auf der alle zurücktreten, einen Kreis bilden und dann tanzen Lisa und Leo noch einmal den Tanz des Lebens: "Ja, wir haben uns gut verstanden. Wir konnten vor allem gut miteinander tanzen!"

Aber diese Bilder kommen nicht mehr von selbst! Vielleicht nachts in ihren Träumen? Sie betont, wie gut sie schlafen kann. Aber ich verstehe meine Gegenwart - vielleicht meine Aufgabe - vor allem im Anstoßen dieser Erzählungen. Ich bin ihr Gedächtsnis. Sie hat mir alle Zahlen und alle für sie (noch) wichtigen Mosaiksteine ihres Lebens vermittelt und nimmt die täglichen, immer wieder neuen Anstöße dankbar an. Eines der markantesten Daten ist der Hochzeitstag meiner Schwiegereltern, der 21. Februar 1952. Ich habe immer betont, dass in Odo Marquardts "Apologie des Zufälligen" das Leuchten des Schicksalhaften einmal auf so beglückende Weise durchscheint. Es war doch dann klar, dass von all den vielen superinteressaten und superattraktiven Bewerbern um die Hand Claudias nur einer übrig bleiben konnte! Der 21. Februar 1952 ist mein Geburtstag und zugleich der Tag, an dem die Voraussetzungen dafür justiziabel geworden sind, dass Claudia R O T H M U N D  am 27.8.1956 das Licht dieser Welt erblicken durfte - als Kind von Lisa und Leo Rothmund. Auch dies zu erinnern, ist Lisa und mir immer wieder ein Fest. Und das Leuchten auch in ihren Augen, wenn die Koinzididenz des Alltäglichen sich zum Wunderbaren, zum Einmaligen fügt, lässt auch mich strahlen.

Und dann verschwimmt dies alles mit meiner sentimentalen Grundstimmung, die schon "Kurz vor Schluss" trägt. Die kleine Schwester der Depression - die Melancholie - als Takt- und Stichwortgeber. Die letzte Seite des Fotobuches, das Gaby mir in Erinnerung an den 22.9. zusammengestellt hat, zeigt alle, die noch da sind in meiner Familie, und sie zeigt, von denen, die zuletzt gegangen sind, die wichtigsten Menschen, aus denen ich hervorgegangen bin bzw. denen ich soviel verdanke: in der Mitte Lisa, meine Schwiegermutter - die letzte noch Lebende aus der Elterngeneration. Da strahlt sie noch einmal, und ich weiß einmal mehr: Der Mensch ist, weil er sich verdankt! Der Aufmerksamkeit, der Zuwendung, der Liebe der anderen!

Von all den diesjährigen Weihnachtswünschen hat Rudis kleine Botschaft dies wieder einmal so deutlich im mir wachgerufen, wenn er uns "schöne Feiertage" wünscht und dabei bemerkt: "Und im nächsten Jahr hoffentlich bald auch wieder einmal an der Kehrkapelle. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als es 'Winter gab' und wir den Schnee mit Glühwein rot färbten."

Ja, das war einmal, und Rudi hat mich eiskalt erwischt, weil es ich mich gestern - just als diese Botschaft kam - nach Wochen der Enthaltsamkeit an die Kehrkapelle zog, und ich dort etwas erstmals erlebt habe, was einen tiefen, dumpfen Nachhall in mir hinterließ: Erstmals seit 10 Jahren betrat ich die Kapelle und es brannte kein einziges Lichtlein. Ich habe in die ausliegende Kladde dann einen kleinen Text geschrieben:

                                                        "Advent, Advent,

                                                        kein Lichtlein brennt!

 Zum alleresten Mal seit 10 Jahren erlebe ich, dass bei Maria keine Kerze brennt, und mit Mühe entzünde ich meine Kerze, denn die Zündhölzer sind feucht. Das Jahr 2017 war in vieler Hinsicht ein erbärmliches - ein Jahr zum Erbarmen! Maria bitte für uns - mit Sorge, mit Dank und Hoffnung, auf dass wir uns erbarmen - am 23.12.2017"

Mein Dank und die Chance auch materiell zu danken im Anhang - ein Beitrag, den Dr. Hoppen, Oberarzt an der Kinderklinik Kemperhof, auf einfühlsame und sehr treffende Weise zusammenkgestellt hat.

Ich hoffe es geht euch, Tina und Noah, gut - verrückt übrigens beim Betrachten der Fotomontage hatte ich zuallererst den Eindruck, da schaut mir die kleine Tina entgegen - oder anders herum gesagt: Aus Noah strahlt mir Tina entgegen; also denk immer daran: Wir sind - bei allem, was wir hizufügen mögen - immer auch unsere Eltern und Großeltern - vor allem eben Vater und Mutter zugleich!

Liebe Grüße

Jupp

 

Und da es nun mein Weihnachtsbrief geworden ist, grüße ich alle, die sich mir verbunden fühlen zugleich mit den besten Wüschen für das kommende Jahr