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Reformruine Universität - hier am Beispiel einer 28-jährigen Soziologin, namens Sophie!

(Elisabeth von Thaddeen in der ZEIT 24/2015, S. 59-61)

Vorbemerkung (am 10.2.2017):

Die nachfolgenden Bemerkungen und Informationen beziehen sich auf das Institut für Schulpädagik/Allgmeine Didaktik an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Sie können u.a. auch der Beantwortung der Frage dienen, ob Lehrer bzw. Hochschullehrer bloggen sollten? Der daran anschließende Beitrag ist bereits am 22. Juni 2015 in meinem Blog veröffentlicht worden. Zu diesem Zeitpunkt war Wolfgang Meseth (Nachfolge Voß) bereits in Marburg und Frau Stadler-Altmann (Nachfolge Krawitz) auf dem Weg nach Bozen. Rudi Krawitz hat unser Institut 2009 verlassen, Reinhard Voß ein Jahr später.

Wir hatten seither mehr Vakanzen zu verwalten (also im besten Falle Vertretungen) als regulären Uni-Betrieb. Über die Verwaltung des Mangels haben wir im Institut Strategien entwickelt, die den Normalbetrieb des Instituts gewährleisten sollten. Hiermit ist insbesondere die Wahrnehmung des gesamten Prüfungsgeschäftes gemeint. Bei allen nun anstehenden Neuerungen im Zuge des sich endlich abzeichnenden personellen Neubeginns bitte ich zu bedenken, dass wir uns im Übergang befinden. Künftige Vorgaben bespielsweise zur Prüfungsorganisation sollten dies bedenken und eine optimale Passung zwischen Zweckerfüllung und Regelungsbedarf sicherstellen. Ich gestatte mir noch eine Bemerkung zu der Empfehlung des Fachbereichsrates, ab dem kommenden Sommersemester (2017) zur Organisation der mündlichen Prüfungen auf das Losverfahren zurückzugreifen. Der hier nachfolgend im Zentrum stehende Beitrag von Elisabeth von Thadden, der sich um "Wissenschaft als Beruf" dreht, strapaziert häufiger das Bild einer Universität als "Reformruine". Sollte es tatsächlich künftig zu einer Zuweisung der Prüfungskandidaten und -kandidatinnen über das Losverfahren kommen, dann kommt meine eigene Versetzung in den Ruhestand kein Semester zu früh. Dann ist es nicht mehr weit zur Idee von Zentralprüfungen analog zur Praxis des Zentralabiturs. Die letzten Reste einer Idee von Freiheit von Forschung und Lehre werden endgültig Verschulung und Regulierung zum Opfer fallen - zum Glück ohne meine Mitwirkung! Denn ich bin dann mal weg und wende mich den Mahnungen der Toten zu.

22. Juni 2015, ein Montagmorgen kurz nach 8.00 Uhr an der Uni Koblenz. Ich betrete das C-Gebäude, in dem mein Büro liegt - in umittelbarer Nachbarschaft zum Sekretariat unseres Instituts (für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik). Vor mir geht offensichtlich eine Studentin die Treppe hoch. Sie wählt denselben Weg und steht vor der (noch) verschlossenen Sekretariatstüre. Ich frage sie, was ihr Anliegen ist, und sie erklärt, sie sei heute morgen gekommen, um einen Prüfungstermin für ihre Modulabschlussprüfung zu vereinbaren. Dazu muss man wissen, dass wir innerhalb unseres Instituts einen Service vorhalten, der es den Studierenden erlaubt, über unser Sekretariat mit Hilfe von Terminlisten individuelle Prüfungstermine zu vereinbaren. An der Türe lese ich, dass das Sekretariat heute erst um 13 Uhr öffnet - offensichtlich ist eine unserer Sekretärinnen kurzfristig erkrankt. Ich öffne die Türe - natürlich weiß ich, wo sich die Listen befinden. Da die Studentin ihren Wunschprüfer benennen kann, biete ich ihr zwei Termine im Juli an. Sie bittet mich nachzuschauen, ob es auch im August noch Termine gäbe.

Ich finde eine Liste, die eine Prüfungskommission mit ihrem Wunschprüfer unter meiner Mitwirkung als Beisitzer ausweist. Es muss sich inzwischen um die xste Erweiterung von Terminen unter meiner Beteiligung handeln. Innerlich missmutig - äußerlich freundlich, eben hochprofessionell, erfrage ich Name und Matrikelnummer der Kandidatin, trage sie in einen Platzhalter ein, verabschiede eine erfreute und zufriedene junge Frau, gehe in mein Büro, erledige die wichtigsten e-mails, schiebe zu begutachtende Bachelor- und Masterarbeiten bei Seite und nehme mir noch einmal den von Elisabeth von Thadden verantworteten ZEIT-Beitrag vor: "Professoren protestieren gegen die Uni - Wir können das nicht verantworten. Forschen, Lehren, Publizieren unter immer größerem Druck - sieben Wissenschaftler setzen sich zur Wehr. Und Elisabeth von Thadden fragt, wie es so weit kommen konnte" (ZEIT 24/2015, S. 59-61).

Ich bin 63 Jahre alt und Akademischer Oberrat an der Uni Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Als präseniler Bettflüchter hatte ich mir die Artikelserie noch einmal angesehen. Sie lag sozusagen zur Wiedervorlage in meiner ZEIT-Ablage. Ähnlich wie vor Jahren Susanne Thurn (damals Leiterin der Laborschule Bielefeld) erfindet sich Elisabeth von Thadden eine Sophie, um Exemplarisches zeigen zu können. Ihre Ausgangsthese:

"Wissenschaft als Beruf ist in Deutschland zur erschöpfenden Mühsal geworden."

Zeigen lasse sich das leicht an der Geschichte einer 28jährigen Soziologin, "die hier Sophie heißen soll, weil sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, schließlich will sie die Türen zu den Arbeitgebern nicht zuschlagen. Dabei hat Sophie alles richtig gemacht und das mit großem Erfolg.

Und dennoch verlässt sie jetzt die Universität. Weil sie den Wahnsinn nicht mehr ertragen will."

Was nun folgt ist der ganz normale Alltag im reformierten, modularisierten Hochschulleben. Sophie rechnet es uns einfach vor, weil die Zahlen die Not auf den Punkt brächten: Sophie geht mehr als realistisch aus von etwa 100 Studenten, die sie betreue. Sie rechnet nur eine halbe Stunde pro Student und Semester, in der Beratung und die konkrete Betreuung im Hinblick auf Prüfungen, Hausarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten stattfinden muss. Die etwa 300 Stunden, die sie ansetzt, um diese Arbeiten auch gutachterlich bewerten zu können, setzen bereits ein Höchstmaß an Erfahrung und Routine voraus, die man einer 28jährigen kaum zugestehen mag. Es geht dann weiterhin darum, Seminare vorzubereiten, das heißt einerseits (wissenschaftlich ausgewiesene) Sachgemässheit über Lektüre auf der Höhe der jeweiligen Disziplin sicherzustellen. Andererseits muss eine Auseinandersetzung mit hochschuldidaktischen Erfordernissen stattfinden, um nicht Gefahr zu laufen studentische Erwartungen gänzlich zu verfehlen, das heißt umgekehrt, die Adressaten der Lehre auch annähernd zu erreichen. Sophie spricht hier von "kaum zählbaren Stunden".  Wenn sie es klug anstelle, könnten hier sogar Synergieeffekte freigesetzt werden mit Blick auf die Erwartung, dass sie ja außerdem ununterbrochen publizieren müsse, die Habilitation nicht aus den Augen verlieren dürfe, auf Kongressen nicht nur präsent, sondern als Vortragende auch in Erscheinung treten müsse. Und zu guter Letzt - dies sagt sie als Frau - sei sie dann irgendwann 40. Das sei der Zeitpunkt, zu dem man mit viel Glück in Deutschland endlich Professor sei: "Fast zu spät für Kinder". Quod erat demonstrandum! Deutschland sinkt auf den letzten Platz hinsichtlich der Geburtenquote ab und die Faustregel lautet nach wir vor: Weniger als 40% der Frauen mit akademischem Abschluss haben bis zum 40sten Lebensjahr ein Kind geboren. Aber Elisabeth von Thadden erweitert diese bereits schmerzensreiche venia vivendi um weitere Gemeinheiten. Denn das alles werde schwer erträglich dadurch, dass die Wissenschaft ihr Wesen verliere:

Der Wettbewerbsdruck ruiniere Gemeinschaftlichkeit. Der Zwang zum Geldeinwerben beschädige die Unbestechlichkeit. "Und die existentiellen Sorgen eines fortwährenden Prekariats, weil nun mal fast keine Dauerstellen jenseits der Professuren geschaffen werden, binden allzu viele Energien, die in der Forschung und Lehre dann fehlen."

Elisabeth von Thaddens Gesamtresümee beschreibt die Universität als Reformruine, die in einer bizarren Mischung der deutschen und angelsächsischen Schwächen - in bürokratischer Kontrolle, ökonomischer Effizienz und falschem Leistungsdenken - zu erstarren drohe. Sie veröde seit den 70er Jahren zunehmend durch ihre langlebige Lebenslüge, für Millionen Studierende in einer globalen Wissenschaftslandschaft unverändert funktionieren zu können. Vielleicht kommen wir noch einmal auf Elisabeth von Thaddens Anleihe zurück, mit der sie Bezug nimmt

"auf das alte deutsche Ideal eines Traumjobs für wenige Glückliche, die zusammen mit Kollegen für ein staatlich gesichertes Gehalt Neues herausfinden und ergründen, wie die Welt beschaffen ist, mit Sorgfalt, Zweifel, Leidenschaft und Vernunft [...]. Freie Wissenschaft, unbefristet! Ein Traum."

Zuvor folgen wir aber den Einschätzungen, die ein Chemiker und ein Biologe, ein Computerlinguist, eine Politologin und ein Jurist anbieten - nach der Einleitung Elisabeth von Thaddens unter dem Obertitel: "Wie krank ist die Universität? Wissenschaftler klagen an" (ZEIT 24/2015, S. 60-61).

Zuerst Barbara Zehnpfennig (lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Uni Passau):

"Nur was sich zählen lässt, hat Wert"

Dann Marcus Kracht (Professor für Theoretische Computerlinguistik und Mathematische Linguistik an der Universität Bielefeld):

"Wir stellen die falschen Fragen"

Dann Bernhard Dick und Nico Ernsting (lehren Physikalische Chemie in Regensburg bzw. Berlin. Marc Reimann studiert Chemie in Berlin):

"Wir lehren völlig vergeblich"

Und zuletzt Andreas Fischer-Lescano (lehrt Jura an der Uni Bremen und deckte den Guttenberg-Plagiatsfall auf):

"Wir verkaufen unsere Seele"

Nun bin ich wieder angekommen in der Realität meines Büros. Mein hochgeschätzter Kollege im Institut - übrigens Oberstleutnant der Reserve und seines Zeichens ein Organisationsgenie - bringt mir ca. 25 Erstgutachten (zu einem Bruchteil der von ihm übers Jahr betreuten Arbeiten). Er hat übers Wochenende eine Vielzahl von Bacherlor- und Masterarbeiten begutachtet. Ich danke ihm und sichere zügige Bearbeitung zu. Als er mein Büro schon wieder verlassen hat, fällt mir ein, dass ich ihn fragen wollte, was seine Forschungen zu einer Optimierung der Kooperation zwischen Erster und Zweiter Ausbildungsphase in der Lehrerausbildung machen. Aber - denke ich - lass mal stecken! Es glaubt mir ohnehin niemand, was Arbeitspferde wie mein Büronachbar übers Jahr so wegschaffen. Und Anerkennung dafür gibt es nicht! Jedenfalls nicht aus dem inneren Zirkel unserer Wissenschaftsmanager und Drittmittelfürsten. Was wäre eigentlich, wenn Arbeitspferde in der Streik treten würden?

Mal schauen, vielleicht mach ich ne Serie draus - Zeit hab ich ja genug. Aber zuallererst widme ich mich noch einmal Stichwehs Ausführungen zu Fragen von Inklusion und Exklusion und denke - Peter Rödlers Anregung folgend - über die "Paradiesmetapher Inklusion" nach.

Inzwischen schreiben wir den 29.6.2015. Es ist mal wieder Montag. Soeben hat mein Kollege mir die Prüfungspläne für Juli und August vorgelegt. Die 225 zu prüfenden Bachelor- und Masterkandidat/-innen hätten nun alle einen Prüfungsplatz - es drohten allerdings noch ca. 50 Kandidat/-innen, die zwar angemeldet seien, aber noch keine Terminierung vereinabart hätten; also alles im Fluss - keine besonderen Vorkommnisse an der Prüfungsfront. Im übergreifenden Zeitrahmen von Winter- und Sommersemester verbringe ich also rund einen ganzen Monat meiner Arbeitszeit mit Prüfungen, deren Vorbereitung und Verwaltung nicht einbezogen. Für den immensen Organisationsaufwand - vor allem auch im Sinne einer Planungsbeteiligung der Studierenden danke ich meinem Kollegen und unseren beiden Sekretärinnen. Für meinen geschätzten Kollegen stellt sich die Belastung - allein durch mündliche Prüfungen - noch umfänglicher dar, weil er den Kollegen und Kolleginnen im Institut als "sachkundiger Beisitzer" zur Seite steht und für die Gesamtkoordination des Prüfungsgeschehens sorgt. Er ist halt ein Meister des "Nicht-Sichtbaren" (Barbara Zehnpfennig - siehe weiter oben).