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Die Erfahrung des Todes hat meine Wahrnehmung verändert!

Unter diesem Eindruck lässt uns Thomas Jansen-Hochmuth an den Veränderungsdynamiken teilhaben, die der frühe Tod seiner Frau bei ihm auslöst. In ähnlicher Weise schildert Günter Franzen in der "Kurzen Geschichte ihres Todes" vergleichbare Erfahrungen. Beide bestätigen auf eindrucksvolle - vor allem aber reflektierte - Weise die These von Herbert Gudjons, dass in der modernen Gesellschaft, die des Todes verlustig zu gehen drohe, in der Regel nur noch unmittelbare Betroffenheit zu einer Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer führe. Bei Günter Franzens sprachmächtiger Auseinandersetzung mag man ihm wünschen, dass zumindest die Brutalität der Unmittelbarkeit, aus der heraus er seinerzeit schrieb, nach und nach auch wieder eine Milde zugelassen hat, die ihn seine Tochter (wieder) sehen lässt.

Nicht nur als jemand, der morgens seine Schulstulle braucht, sondern als jemand der einen Vater braucht, in dem sich das Bild der Mutter erhält und und einen Resonanzraum findet (vv). Wie Thomas Jansen-Hochmuth hat(te) auch Günter Franzen (seinerzeit) eine noch schulpflichtige Tochter.

Zuletzt wurde meine Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und Trauer in der Folge des plötzlichen Unfalltodes von Andreas Krawitz unausweichlich. Vergangenen Mittwoch fanden Trauerfeier und Beisetzung in Landau statt.

Gestaltung und Verlauf der Andacht legen es nahe, einen Abschluss zu suchen in der Erinnerung an den besonderen Rahmen dieser Trauerfeier in der Stiftskirche zu Landau. Andreas ist nur 29 Jahre alt geworden und ein Innehalten ergibt sich für mich aus den bewegenden, den schwierigen und bleibenden Eindrücken dieser Trauerfeier:

Zunächst einmal bleibt neben all den eindrucksvollen Momenten des Erinnerns eine unverhofft daher kommende Mahnung in mir lebendig, die sich für mich mit dem gemeinsamen Singen eines - jedenfalls von mir - verkannten Liedes einstellte:

Der Mond ist aufgegangen 

1. Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar.

2. Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt

3. Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehen.

4. Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.

5. Gott, lass dein Heil uns schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; lass uns einfältig werden und vor hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein.

6. So legt euch denn ihr Brüder (und Schwestern?) in Gottes Namen nieder. Kalt ist der Abendhauch. Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.

Die eigentlich sechste Strophe des Abendlieder von Matthias Claudius wurde aus welchen Gründen auch immer weggelassen:

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

Der zweite Link zu diesem Lied bietet neben dem Text einen Liedvortrag, wie er für Kinder gedacht ist. Ich setze hier auf diesen Zugang, weil - so vermute ich - in uns allen Erinnerungen an die eigene Kindheit augenblicklich wach wurden.  Das gemeinsame Singen dieses Liedes in der Stiftskirche katapultierte mich in diesem Sinne einerseits tief in meine eigene Kindheit zurück - meine Oma hat mit uns und für uns gesungen und war ein reiner Liederquell. Andererseits befremdete mich der Kontext, und ich selbst war wohl zu tief beeindruckt von der schlichten Mahnung, sich angesichts des Anlasses auch zu besinnen. Das endliche Besinnen mag sich immer dann geradezu aufzuzwingen, wenn wir zutiefst betroffen sind. Und wann könnte man betroffener sein, als beim frühen Tod eines geliebten Menschen. Andreas war uns an diesem frühen Nachmittag noch einmal nahe, und das Maß der Nähe bestimmt sich sicherlich einerseits durch die Blutsbindung, die ganz sicher für seine Mutter und für seinen Vater den unaussprechlichsten Schmerz bedeutet. Andreas war aber - wie könnte es anders sein bei einem 29jährigen Mann - auf wahlverwandtschaftliche Weise vielen Menschen verbunden. Und alle, die diese Nähe in sich spürten und erinnerten, haben den Schmerz von Christa und Rudi annähernd nachempfinden können. Und wie anders, als so ungemein wertschätzend und positiv, wie bei Andreas, mag man denken, sollte ein solches Erinnern ausfallen?

"Die persönlichen Worte von Freunden" spiegelten in der Tat einen Menschen, an dem die Menschheit hätte genesen können. Der Vortrag eines seiner Freunde zeugte von tiefer Verbundenheit, war getragen von Humor und außerordentlicher Wertschätzung. Andreas, der Schrauber, erschien da in einer Facette, die vordergründig betrachtet, so gar nicht zum Habitus eines Zahlen- und Schraubermenschen auf höchstem Niveau passen wollte. Sein Engagement für das Tierheim in Karlsruhe mündete in der Bemerkung, dass er geradezu Trauer empfunden habe, als sein Lieblingshund im Heim endlich ein neues Zuhause gefunden hatte.

"Wir sehnen uns nach Hause, und wissen nicht wohin (Joseph von Eichendorff)."

Dass die Welt bei dieser Trauerfeier nicht gänzlich unbehaust erschien, verdankt sich des Weiteren der ungemein einfühlsamen Haltung der Pfarrerin. Noch nicht einmal ihren Namen vermag ich hier zu nennen. Aber nach so vielen Trauerfeiern, Beisetzungen, die ich teils mit gestaltet habe, erinnere ich keinen Profi, der in einer solchen Weise bewegende Worte gefunden hat und selbst in einer solchen Weise bewegt war (das ist nicht ganz richtig, weil  mich die Haltung der Pfarrerin an die Betroffenheit von Rudi Demerath bei der Trauerfeier für Guido Heinrich und Dennis Binotsch 1995 erinnert hat). Die Pfarrerin legte in ihren Ansprachen das Hauptgewicht auf die Dankbarkeit, Andreas gekannt, als Sohn, als Freund gehabt zu haben. Mir wurde ein bisher ungeahnter Zugang zu einer christlichen Vorstellung von Ewigkeit eröffnet. "Von Ewigkeit zu Ewigkeit" verdichtete sich hier zu einer Erinnerung kostbarer Augenblicke, in denen sich die Kernschmelze von Gedanken und Empfindungen einstellt. Mehr können wir als diesseitige Menschen sicher nicht erreichen. Und der Trost in einer trostlosen Gesellschaft besteht aus der Erinnerung solcher Augenblicke. Erinnerung in diesem Sinne setzt eine tätige, kraftvolle, lebenszugewandte Haltung voraus.

Das ist die Mahnung, die ich mitnehme. Sie wurde verstärkt durch Rudis letzte Worte, die in der Erinnerung jenes Schäfchens ausmündete, das Andreas vor 20 Jahren seinem Vater zugedacht hat: "Ein langes Leben, lieber Rudi, dein Andy." Rudi hat den Kreis symbolisch geschlossen, indem das Schäfchen nun Andreas selbst auf seiner "Reise" begleitet.

Da wir selbst in Grenzsituationen Beobachter (immer auch unserer selbst) bleiben, schien mir zuletzt Versöhnliches und Versöhnlichkeit aufzuscheinen. Im Verlauf der Trauerfeier packte uns die von Andreas' Freunden eingespielte Ballade "Es ist an der Zeit" (siehe auch "Green Fields of France" siehe auch Originalversion von Eric Bogle) tief in unseren verletztlichen und auch verletzten Seelen; allerdings begleitet von einer - auch die Pfarrerin einnehmenden - Irritation. Die irische Interpretation verdeckte für manch einen unbedarften Zuhörer den historischen Kontext zur Entstehung und Zielrichtung dieser Anklage. Andreas ist kein Kriegstoter. Er ist einer von mehr als etwa 3 1/2 Tausend Verkehrstoten, die wir in Deutschland jedes Jahr beklagen. Was sollen da jetzt Eindrücke von Versöhnlichem und Versöhnlichkeit bedeuten? Befremdlich war bei dieser Trauerfeier, dass Vater und Mutter nicht Seite an Seite saßen. Aber wie sollte dies überzeugend der Fall sein, wenn die Eltern getrennte Wege gehen. Jeder hat sein Leben ganz zu leben, hat Rudi Dutschke einmal gesagt. Zur Ganzheit eines Lebens gehören die Halbheiten nur halb gelungener Leben. Mit Fulbert Steffensky stimme ich in das "Lob der Halbheiten" ein. Man kann auch als träumerischer Realist in dieser Welt überleben - in der Gewissheit, dass der Mensch nur ist, weil er sich verdankt. Ich danke meinen Eltern, meiner Frau, meinen Kindern und allen, die mir nahe sind, weil sie mir Trost spenden in einer trostlosen Gesellschaft. Und ich danke allen, die diese Trauerfeier für Andreas ausgerichtet haben. Auf diese Weise bleibt er auf besondere Weise lebendig in unserer Erinnerung - und vielleicht ist es so, wie Rudi es seinerzeit schon Björn gewünscht hat, und ein Stern ruft auch seinen Namen.

Ja, die Erfahrung des Todes hat meine Wahrnehmung ein weiteres Mal verändert. Gestern, am 12.9. bin ich mit Rudi in den Odenwald gefahren. Wir haben Andreas' persönliche Sachen aus dem Autowrack geborgen, wir sind an die Unfallstelle gefahren. Die Baustelle, die am 27.8. noch mit einer Ampel geregelt wurde, war vollständig aufgehoben, die Straßendecke erneuert. Vom Unfall selbst zeugen nur noch die Kreidemarkierungen der Polizei. Wir sind den letzten Kilometer der Unfallstrecke abgefahren und haben uns unsere Gedanken gemacht. Der Odenwaldkreis hat an den unfallträchtigsten Straßenabschnitten Schilder mit Unfallstatistiken aufstellen lassen. 2015 gab es eine Vielzahl von Unfällen, neunmal mit Todesfolge. Am 27.9.2016 wurde die Statistik für 2016 um einen weiteren Unfall mit Todesfolge ergänzt. Es sind heute die Straßen, die häufig für junge Menschen zur Todesfalle werden und ein sinnloses "Sterben in der Gesellschaft der Sieger" (Passwort: wiro2015) zur Folge haben.