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Worüber wir streiten?!

Eine letzte versöhnliche Replik auf Edgar Hammes

Wir haben gelernt uns als Subjekte zu verstehen - entsprechende Theorien gehen mit dem Begriff der Intersubjektivität nach wie vor davon aus, dass es durch Introspektion möglich ist, herauszubekommen, wie andere sich zur Welt verhalten. Subjekttheorien müssen dabei von einer gemeinsamen - oder zumindest von einer gemeinsam beobachtbaren Welt ausgehen (die nachfolgenden Überlegungen basieren auf: Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, in: Ders.: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 218-242).

Niklas Luhmann schlägt vor, die Unterscheidung von "Subjekt" und "Objekt" zu ersetzen durch die Unterscheidung von "System" und "Umwelt" (S.220f.):

"Diese Unterscheidung bleibt bei klassischen Problemstellungen insofern, als sie von einer Differenz ausgeht und deren eine Seite in die andere wiedereintreten lässt. Sie überholt klassische Problemstellungen, weil sie sowohl die Subjekttheorie als auch die Objekttheorie revidiert. Sie kann die Frage der Abkopplung durch Schließung als Frage nach der Ausdifferenzierung von Systemen stellen, und sie kann die Prämisse einer gemeinsamen Welt ersetzen durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme (second order cybernetics.)."

Fragen wir mit Niklas Luhmann zunächst: "Wie ist Schließung möglich?" Seine Antwort unter Bezugnahme auf Humberto Maturana geht davon aus, dass ein System eigene Operationen produziert und im Netzwerk ihrer rekursiven Vor- und Rückgriffe reproduziert. Allein dieser Vorgang erzeuge die Differenz von System und Umwelt, von Maturana Autopoiesis genannt. Kein System könne dabei außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren. Niklas Luhmanns Idee "der Beobachtung beobachtender Systeme" geht von einem Begriff des Beobachtens aus, für den die Begriffe des Unterscheidens und Bezeichnens die Definitionsgrundlage bieten:

"Beobachten findet immer dann statt, wenn etwas unterschieden und, in Abhängigkeit von der Unterscheidung, bezeichnet wird. Der Begriff ist indifferent gegen die Form der Autopoiesis des Systems, also indifferent dagegen, ob als Operationsform Leben oder Bewusstsein oder Kommunikation benutzt wird (222)."

Der gleichermaßen entlastende wie belastende Neuheitseffekt konstruktivistischer Erkenntnistheorie wird von Niklas Luhmann zunächst einmal darin gesehen, dass mit dieser Begriffsfassung, die das Spezfische des Erkennens im Unterscheiden und im dadurch ermöglichten/erzwungenen Bezeichnen sehe, zugleich festgelegt werde, wie die Abkopplung von der Umwelt und damit die Geschlossenheit erkennender Systeme verstanden werden müsse.

"Erkenntnis ist anders als die Umelt, weil die Umwelt keine Unterscheidungen enthält, sondern einfach ist, wie sie ist. Die Umwelt enthält, mit anderen Worten, kein Anderssein und keine Möglichkeiten. Sie geschieht, wie sie geschieht [...] Alles Beobachtbare ist Eigenleistung des Beobachters, eingeschlossen das Beobachten von Beobachtern. Also gibt es in der Umwelt nichts, was der Erkenntnis entspricht; denn alles, was der Erkenntnis entspricht, ist abhängig von Unterscheidungen, innerhalb derer sie etwas als dies und nicht als das bezeichnet [...] Die Unterscheidung von System und Umwelt ist selbst eine erkenntnisleitende Operation  (223f.)."


Es sei hier nur am Rande bemerkt, dass eine solcher Neuheitseffekt vor allem für Pädagogen - in Sonderheit Lehrerinnen und Lehrer - bedenkenswerte Konsequenzen hat. Wenn alles Unterscheiden, also auch das von wahr und unwahr; Leistung eines Beobachters ist, gilt es diese Leistungen mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten - eingedenk der Paradoxien, die damit unvermeidbar einhergehen. Denn "wenn ein Beobachter mit der Unterscheidung wahr/unwahr hantiert, kann er nicht zugleich unterscheiden, ob dieses Operieren selbst wahr oder unwahr ist". Genau darauf macht Luhmann mit Blick auf mögliche und vermutlich unvermeidbare Paradoxien von Unterscheidungen aufmerksam:

"Das führt aber nur zurück in die Paradoxie eben dieser Unterscheidung (wahr/unwahr). Empirische Erkenntnistheorien müssten statt dessen fragen, wie erkennende Systeme eine entsprechende Selbstbeobachtung organisieren, also die laufend produzierten Irrtümer unterscheiden und neutralisieren können (225)."

Ich erinnere mich, dass Ende der achtziger Jahre über die sogenannte Krecker-Studie (bibl. Angaben unten) zur Prognosevalidität von Schullaufbahnempfehlungen unterschiedliche Systembezüge beoachtbar wurden: Die Wissenschaft belegte in signifikanter Weise, dass die Schullaufbahnempfehlungen mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von mehr als einem Drittel nur eingeschränkte und alles andere als verlässliche Prognosen bedeuten. Die Politik - damals noch eine CDU-geführte Landesregierung in Rheinland-Pfalz - reagierte angefressen und ließt die Ergebnisse in der Schublade verschwinden. Erst nach dem Regierungswechsel 1991 veröffentlichte die dann SPD-geführte Landesregierung die Studie in der sogenannten "Weißen Reihe" und hob in der Folge die Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlungen auf. Innerhalb der pädagogischen Praxis nahmen die Bauchschmerzen zwar ab. Aber Luhmanns Hinweis, dass der Erziehung - auch der schulischen Erziehung - mit dem Lebenslauf ein anderes Medium zugrunde liege als der Wissenschaft, ist bis heute nicht wirklich im Bewusstsein der Beteiligten angekommen. In der Theorie und Praxis der Beobachtung beobachtender Systeme fällt - mit Blick auf das erwähnte Beispiel - auf, dass einerseits wechselseitige Irritationen stattfinden; dass sie aber nur bedingt zu den erwarteten bzw. gewünschten Konsequenzen führen: Die Schulpädagogik versucht nach wie vor, was sie nicht kann. Sie trennt Schüler früh, nach der vierten Grundschulklasse entlang dem binären Code: geeignet/nicht geeignet. Die Schulpolitik schließt daran an und lenkt auch im reformierten Schulsystem - trotz aller Inklusionsdebatten - Schülerströme entlang dieses Codes. Die Wissenschaft spaltet sich auf und bedient einerseits nach wie vor lineare Fortschrittsmythen, während sie andererseits Überlegungen zu einer kontingenzgewärtigen Theorie von Schule und Unterricht anstellt.

Dies alles spielt sich in einer Welt ab, in der die Akteure in der Regel glauben, dass sie in ihren alltäglichen professionellen Selbstoffenbarungen auch können, was sie zu tun beanspruchen: die Wissenschaft verkündet Wahrheiten, die Politik gründet ihre Entscheidungen auf dem besseren (dem besten) Argument, und LehrerInnen legitimieren ihre pädagogischen Entscheidungen auf der Grundlage vorgeblich solider Ist-Soll-Analysen. Gerade Letzteres erweist sich vermutlich als notwendiger operativer Anspruch jemandes, dem wir die Kompetenz eines anspruchsvollen Lehrprofis zubilligen würden:

Edgar Hammes stellt in diesem Sinne folgerichtig die Frage: "Wie kann ich aber individuell, differenziert, und kindgerecht auf das Potential des einzelnen Kindes hin mit meinem Kommunikationsverhalten, mit Aufgabenstellungen und Methoden reagieren, wenn ich nicht durch eine individuelle Ist-Analyse u.a. Sprachvermögen, Denkfähigkeit, Zusammenhangwissen, fachliche Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen, Einstellungen, 'biografische und Milieu bedingte' Vorerfahrungen des ganz bestimmten Kindes diagnostiziert habe?"

Niklas Luhmann macht uns lediglich darauf aufmerksam, dass ein "erkennendes System" (eine Lehrerin/ein Lehrer) sich mit demselben Gegenstand (einer/einem meinetwegen lernschwachen bzw. hochbegabten Schülerin/Schüler) befassen kann, "während das, was sich sich so bezeichnet zu werden gefallen lassen muss, sich schon wieder geändert hat".

"Und noch erstaunlicher: das erkennende System kann, soweit es über Sprache verfügt, konstante Ausdrücke verwenden zur Bezeichnung von etwas, was als inskonstant gemeint ist - etwa das Wort Bewegung zur Bezeichnung von Bewegungen. Es braucht mit anderen Worten, Veränderliches nicht durch Eigenveränderung zu simulieren. Das alles sind noch recht unschlüssige Anhaltspunkte dafür, dass die Ausdifferenzierung eines erkennenden Systems jedenfalls zu Zuständen führt, die zwar gleichzeitig, aber nicht mehr rhythmisch-synchron zur Umwelt geordnet sind; was nur erreicht werden kann, wenn auch in der Umwelt zeitliche Diskontinuitäten vorkommen, gegen die das System seine eigenen Operationen unterscheiden kann (230f.)."

Was solche Diskontinuitäten angeht, wird von Peter Bichsel, dem Erfinder der Kindergeschichten, folgende Geschichte kolportiert, die erzählt, warum der Peter Bichsel irgendwann kein Lehrer mehr sein wollte: Eines Abends - Peter Bichsel steht am Tresen seiner Stammkneipe - gesellt sich ein junger Mann zu ihm. Nicht dass der Peter Bichsel schon alt gewesen sei; der junge Mann mag so Anfang bis Mitte dreißig gewesen sein, der Peter Bichsel vielleicht Mitte bis Ende vierzig. Sie führen ein angeregtes Gespräch. Dabei erzählt der junge Mann u.a., dass er in der Nähe als leitender Ingenieur mitverantwortlich sei für ein großes Brückenbauprojekt. Eine beträchtliche Zeit und sechs bis sieben große Biere später tritt der junge Mann zwei Schritte zurück, stellt sich vor den Peter Bichsel hin und sagt: "Gell, Herr Bichsel, Sie kennen mich nicht mehr???" Dem Bichsel schwant nichts Gutes und à la Keuner erbleicht er, als er aus dem Mund des jungen Mannes hört: "Ja, aber ich bin doch der Rüedi, den Sie in der dritten Klasse für die Überweisung in die Hilfsschule vorgeschlagen haben!"

Wir knüpfen an die Luhmannsche Idee des Lebenslaufs an, seiner Auffassung nach das allgemeinste Medium, in dem sich die Wirkungen von Erziehung beobachten - keineswegs aber vorhersagen lassen! Und auch wenn die Analogie manch einem als überstrapaziös erscheinen mag, möchte ich seine Lebenslauftheorie kommentieren mit einem Originalzitat aus "Erkenntnis als Konstruktion":

"Eine verfeinerte Begriffsarbeit könnte hinzufügen, dass das Medium durch die Formung nicht verbraucht werden darf, sondern sich regenieren muss; dass die Form jeweils stärker (durchsetzungsfähiger) ist als das Medium, ohne dass dem eine heimliche Rationalität zugrunde läge; und das auch das jeweilige Medium als lose gekoppeltes Substrat (also immerhin als Kopplung, also als Struktur) wieder als Form wahrnehmbar ist, wenn dafür ein geeignetes Medium (etwa ein Messapparat mit hohem Auflösevermögen) zur Verfügung gestellt werden kann. Man gelangt auf diese Weise schließlich zur Quantenphysik als einer Theorie, die nur noch das Beobachten von Physikern durch Physiker beschreibt, also nur auf der Kybernetik zweiter Ordnung etabliert ist und die Realtiät, korrelativ dazu, als unbestimmbar beschreibt (232)."

Nicht mehr und nicht weniger möchte man Lehrerinnen und Lehrern zubilligen - und natürlich ihren Schülerinnen und Schülern. Niklas Luhmann macht uns lediglich darauf aufmerksam, dass ein "erkennendes System" (eine Lehrerin/ein Lehrer) sich mit demselben Gegenstand (einer/einem meinetwegen lernschwachen bzw. hochbegabten Schülerin/Schüler) befassen kann, "während das, was sich sich so bezeichnet zu werden gefallen lassen muss, sich schon wieder geändert hat".

Hoffentlich können wir das irgendwann sehen und müssen nicht - wie seinerzeit Peter Bichsel - die Flinte ganz ins Korn werfen!

 

Die weiter oben erwähnte Studie zur Prognosevalidität von Schullaufbahnempfehlungen ist wie nachstehend bibliografisch ausgewiesen:


Ministerium für Bildung und Kultur Rheinland-Pfalz: Prognose und Abschluss - Schullaufbahnen an der Integrierten Gesamtschule Kaiserslautern - Lothar Krecker und Thomas Miethig (v. Hase & Köhler Verlag Mainz), 1991 (ISBN: 3-7758-1259-8)