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Was ist Kommunikation? Eine Einführung – basierend auf Niklas Luhmanns gleichnamigen Aufsatz in: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995. S. 113-124

Die knappe nachstehende Zusammen-fassung ist ein erneuter Versuch, die Prämissen menschlicher Kommuni-kation zu beschreiben. Die Gliederung der Zusammenstellung orientiert sich an den von Niklas Luhmann vorge-nommenen Zwischenüberschriften. Die theoretischen Überlegungen Luhmanns (siehe auch: Luhmannsche Lektion) werden meinerseits an einem „fallbezogenen“ (die Textstellen sind werden jeweils fett und farbig eingeleitet) Beispiel illustriert (eine Ähnlichkeit mit noch Lebenden oder Verstorbenen ist möglich und durchaus beabsichtigt). Norbert Bolz (Berlin 2010) vertritt übrigens an dieser Stelle die Position, dass die Gesellschaft immun  sei gegen ihre Wissenschaft, sie sei viel zu aufwändig und umständlich, um sie für Alltagsorientierung zu nutzen. Ich möchte hier durchaus das Gegenteil zeigen, bestreite aber nicht, dass man sich bei der Lektüre Umstände machen muss. Aber dann kann es auch ein Spass werden.

Ich räume an der Stelle ein, dass die nachfolgenden Ausführungen vor allem diejenigen nicht befriedigen wird, die ihre Beobachtungen auch in ein Bewertungsschema einordnen wollen, und die vor allem auch gerne triftige Erklärungsmodelle hätten, für das, was auf der Ebene sozialer Systeme über die Beobachtung von Kommunikation beschrieben werden kann. Wir landen dann zwangsläufig und typischer Weise bei psychologischen Erklärungsansätzen, die Niklas Luhmann meiner Auffassung nach zu Recht auf der Ebene von Vorurteilen über den Menschen verortet. Am Beispiel von Luc Ciompi und Friedemann Schulz von Thun kann man das sehr eindrücklich belegen. Ich ergänze entsprechende Aspekte im Anschluss an Luhmanns Thesenfolge.

  1. Wir haben ein nicht mehr integrierbares Wissen über psychische und soziale Systeme.

Niklas Luhmann beansprucht „das geläufige Verständnis von Kommunikation“ zu kritisieren und ihm eine andersartige Variante an die Seite zu stellen. Er kritisiert die in der Soziologie geläufige Verwendung der Begriffe „Handlung“ und „Kommunikation“. Sie würden normalerweise subjektbezogen benutzt: „Das heißt: sie setzen einen Autor voraus, bezeichnet als Individuum oder als Subjekt, dem die Kommunikation bzw. das Handeln zugerechnet werden kann.“

  1. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.

Luhmann weist darauf hin, dass ein Anzweifeln der oben angedeuteten Begriffsdispositionen zu dem Einwand führt, letztlich seien es doch immer Menschen, Individuen, Subjekte, die handeln bzw. kommunizieren. Demgegenüber behauptet er, dass nur die Kommunikation kommunizieren könne und dass erst in einem solchen Netzwerk der Kommunikation das erzeugt werde, was wir unter „Handeln“ verstehen.

  1. Selbstreferenz ist kein Sondermerkmal des Denkens.

Niklas Luhmann geht es zunächst um den Hinweis, dass Selbstreferenz (oder ‚Reflexion’) kein Sondermerkmal des Denkens oder des Bewusstseins ist, „sondern ein sehr allgemeines Systembildungsprinzip mit besonderen Folgen, was Komplexitätsaufbau und Evolution angeht“. Er möchte dieser Einsicht Rechnung tragen und erneuert die These, dass man dafür nicht beim Begriff der Handlung, sondern beim Begriff der Kommunikation ansetzen müsse. Wir werden in der Folge sehen, wie sehr diese Prämisse auch unsere Erfahrung alltäglicher Kommunikation berührt. Luhmann betont, er wolle einen Begriff von Kommunikation vorstellen, „der jede Bezugnahme auf Bewusstsein oder Leben, also andere Ebenen der Realisation autopoietischer Systeme streng vermeidet“. Um Missverständnissen vorzubeugen, merkt er an, dass dies natürlich nicht besagen solle, dass Kommunikation ohne Leben und ohne Bewusstsein möglich wäre. Er sei selbstverständlich auch ohne Kohlenstoff, ohne gemäßigte Temperaturen, ohne Erdmagnetismus, ohne atomare Festigung der Materie nicht möglich. Luhmann wirbt in der Folge dafür, seine Überlegungen einmal zuzulassen und die Konsequenzen zu überdenken.

  1. Kommunikation kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen.

Ähnlich wie Leben und Bewusstsein bezeichnet auch Kommunikation eine Realität, einen „Sachverhalt sui generis“: Sie komme zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen – „nämlich Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Missverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information“. Luhmann betont, dass keine dieser Komponenten für sich allein vorkommen könne. Dem aufmerksamen Leser wird auffallen, dass die Begriffe Information, Mitteilung und Verstehen bzw. Missverstehen kursiv gesetzt sind. In der Folge – und dies ist vor allem für die kommunikative Aufarbeitung oder gar Lösung von Konflikten und Streit konstitutiv – sehen wir, wie aufschlussreich und fruchtbar – auch entlastend die Luhmannsche Sichtweise von Kommunikation in der Konsequenz sein könnte.

Luhmann betont, dass Kommunikation nur deshalb zustande kommt, wenn zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung und Information verstanden werde. Das unterscheide sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer (Wahrnehmung verbleibt isoliert und wechselseitig vollkommen intransparent im Bewusstsein – wir machen uns unsere Gedanken!). Im Verstehen – so Luhmann – erfasse die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhaltes und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt werde: „Sie kann dabei die eine oder die andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder auf das expressive Verhalten achten. Sie ist aber immer darauf angewiesen, dass beides als Selektion erfahren und dadurch unterschieden wird.“

Fallbezogen verdeutlicht insbesondere der letzte Hinweis, dass z.B. jemand für sich beansprucht, die reine Information im Blick zu haben: „Wir haben eine Vereinbarung getroffen: Treffpunkt und Ablauf einer Wanderung sind auf der Grundlage eines von allen Beteiligten geteilten Konsenses festgelegt, und ich fordere dies ein!“ Andere achten in der Situation eher auf das „expressive Verhalten“, kritisieren und rügen in der Folge genau dies. Daraus resultiert ein Streit, der drohende Verlust und möglicherweise der Zerfall von ehemals bestehenden sozialen Bindungen im Sinne von Freundschaften.

Niklas Luhmann betont weiterhin, dass man voraussetzen können müsse, dass Informationen sich nicht von selbst verstünden. Eine andere und grundsätzliche Frage ist die nach der Geltung und Akzeptanz von Vereinbarungen.

5. Es ist von erheblicher Bedeutung, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten.

Fundamental ist der Hinweis, dass Wahrnehmung zunächst ein psychisches Ereignis ohne kommunikative Existenz bleibe. Insofern ist sie nach Luhmann innerhalb des kommunikativen Geschehens nicht ohne weiteres anschlussfähig: „Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten. Es bleibt im Bewusstsein verschlossen und für das Kommunikationssystem ebenso wie für jedes andere Bewusstsein instransparent.“

Fallbezogenen bedeutet dies: Akzeptieren beispielsweise alle Beteiligten eine Aufhebung von Vereinbarungen in actu – indem sie sich zwar ihre Gedanken machen und es einmal wieder unmöglich finden, dass man sich nicht an Absprachen hält, führt dies zwar zu Missstimmungen, die aber wiederum solange nicht anschlussfähig sind, bis jemand bildlich gesprochen der Kragen platzt und durch seine (mitgeteilte) Missbilligung für Anschlussfähigkeit sorgt und sie geradezu erzwingt. Im Luhmannschen Betonen der Alternativen „Ja“ und „Nein“ können sie dann anschließen, indem sie einräumen, dass es eine Absprache gibt und dass man gedenkt sie einzuhalten. Oder sie können irritiert bis verärgert eine fragwürdige Form der Mitteilung von alter zum Anlass nehmen und den Eklat billigend in Kauf nehmen.

Damit ist der Anlass für eine folgende Kommunikation in der Welt. In der Theorie Luhmanns kommt es nun zu einem Hinweis, der die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation noch einmal sehr betont und herausstellt: „Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen und die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies nur nach den Eigengesetzlichkeiten des Kommunikationssystems, zum Beispiel nur in Sprachform, nur durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren – also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.“

Auf den erwähnten Fall bezogen, bei dem Ähnlichkeiten mit noch Lebenden oder auch schon Verstorbenen weder rein zufällig noch unbeabsichtigt sind, könnte es nun so sein, dass man entweder das Gespräch sucht, also versucht Kommunikation mit Kommunikation zu heilen – oder man lässt es eben. Einseitige Versuche führen ins Nichts, solange nicht daran angeschlossen wird. Sucht man die Konfrontation, kann man dies symbolisch beispielsweise dadurch befeuern, dass man – ansonsten hochwillkommene Gäste – anlässlich des eines bevorstehenden Geburtstags ausdrücklich (z.B. per sms) ausläd. Wie man daran wiederum anschließen kann, überlasse ich jetzt der Phantasie des Lesers. Nur eines ist sicherlich im Sinne einer schlichten Beobachtung Niklas Luhmanns zu bedenken: Die „entmutigend schweren Bedingungen“, denen Kommunikation unterliegt mahnen: „Man kann nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Irgendwann, und ziemlich schnell, ist der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder die Geduld – das heißt die Belastbarkeit der psychischen Umwelt – erschöpft. Oder das Interesse an anderen Themen oder anderen Partnern drängt sich vor.“

  1. Auch das Verstehen selbst ist eine Selektion

 Entscheidend ist nun der Hinweis, dass nicht nur Information und Mitteilung, sondern das auch das Verstehen selbst eine Selektion ist. Insofern ist und kann sie nie eine bloße Duplikation der Mitteilung in einem anderen Bewusstsein sein. Sie ist vielmehr „im Kommunikationssystem selbst Anschlussvoraussetzung für weitere Kommunikation“. Im Sinne der Luhmannschen Unterscheidungen erarbeitet sich das Kommunikationssystem ein eigenes Verstehen oder Missverstehen – und vor allem: „Es schafft zu diesem Zwecke Prozesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle“.

Spätestens hier lässt sich – fallbezogen – darauf hinweisen, dass dieses Referat der Luhmannschen Kommunikationstheorie einen Versuch darstellt, solche Prozesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle zu initiieren. Dass dies ein höchst schwieriges und hinsichtlich eines Erfolges unwahrscheinliches Unterfangen ist, wird mit dem 7. Unterkapitel der Überlegungen Niklas Luhmanns überdeutlich.

  1. Über Verstehen und Missverstehen kann nicht so einfach kommuniziert werden, wie die Beteiligten es gerne möchten.

So weist Luhmann darauf hin, dass die schlichte und häufig zu hörende Mitteilung „Du verstehst mich nicht“ höchst ambivalent ist, und dass sie vor allem diese Ambivalenz auch kommuniziert:

„Sie besagt einerseits ‚Du bist nicht bereit, zu akzeptieren, was ich Dir sagen will‘ und versucht das Eingeständnis dieser Tatsache zu provozieren.“ Andererseits – so Luhmann – bedeutet sie die Mitteilung der Information, dass die Kommunikation unter dieser Bedingung des Nichtverstehens nicht fortgesetzt werden könne. Und schließlich und endlich ist sie selbst die Fortsetzung der Kommunikation.

Die „normale Technik des Umgangs mit Verstehensschwierigkeiten“ bestehe – so Luhmann – schlicht in Rückfragen und Erläuterungen, in „normaler, routinemäßiger Kommunikation über Kommunikation ohne besondere psychische Aufladung“.

Fallbezogen würde es zumindest bedeuten, dass man miteinander redet – sozusagen Kommunikation mit Kommunikation heilen möchte. Redet aber nur einer, dann fehlt es dazu schlicht an wechselseitig anschlussfähigen kommunikativen Markern. Wird allerdings z.B. die Ausladung von einer Feier ernst genommen, dann endet vermutlich an dieser Stelle Kommunikation und das betreffende soziale System überschreitet seinen „Grenznutzen“; es bereitet seine Auflösung vor. Weist alter nun – z.B. durch einen schriftlich übermittelten Geburtstagstoast – darauf hin, ergeben sich erneut Anschlussoptionen, die genutzt oder ignoriert werden können. Zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich durch die Komplexität eines sozialen Systems, dass nicht nur aus ego und alter besteht, sondern in dem viele Kombattanten unterwegs sind. Im vorliegenden Fall unterstellen wir einmal, dass ein vielkanaliges Kommunizieren die Situation verkompliziert. Aber immerhin nehmen wir an, dass einige der Kombattanten wieder miteinander reden.

Es ist Niklas Luhmann selbst, der darauf hinweist, dass derjenige gegen die „Normalroutine“ verstoße, der das Scheitern oder die Gefahr des Scheiterns der Kommunikation in der Kommunikation zuzurechnen versuche: „‘Du verstehst mich nicht‘, camoufliert aber die Härte des Problems von Annahme oder Ablehnung mit einer Semantik, die suggeriert, das Problem sei gleichwohl durch Kommunikation über Kommunikation zu lösen.“ (camouflieren übersetzt der Duden übrigens mit: darüber hinwegtäuschen oder gar „betrügen“ – „Trugschlüssen aussetzen")

Der Referent muss an dieser Stelle einräumen, dass er Luhmanns Einwand für mehr als berechtigt hält. Fallbezogen kann Kommunikation Kommunikation nur heilen, wenn sie von Haltungen begleitet wird, die die Interpunktion von Kommunikation unterlassen; die einräumen und nahelegen, dass hier jeder seinen Teil der Verantwortung zu tragen hat: Der eine für das Unterlaufen der Information: Wir hatten eine klare Vereinbarung! Der andere für die besondere Qualität des Mitteilungscharakters: Ersetzen von Sachlichkeit durch fragwürdige Semantik!

  1. Was ist an diesem Kommunikationsbegriff neu?

Und vor allem: Was sind die Konsequenzen der Neuerung? Wir halten zunächst mit Niklas Luhmann fest: „Neu ist die Unterscheidung der drei Komponenten Information, Mitteilung, Verstehen.“ Damit lösen wir uns von einem in den Sozialwissenschaften immer noch gegebenen handlungstheoretischen Verständnis der Kommunikation. Ein solches Verständnis „sieht den Kommunikationsvorgang immer noch als gelingende oder misslingende Übertragung von Nachrichten, Informationen oder Verständigungszumutungen“. Im Sinne der Luhmannschen Auffassung von Kommunikation wird aber nicht übertragen:

„Es wird Redundanz (überflüssige Information, Verf.) erzeugt in dem Sinne, dass die Kommunikation ein Gedächtnis erzeugt, das von vielen auf sehr verschiedene Weise in Anspruch genommen werden kann.“

Fallbezogen lässt sich dies – im besten Fall – rekonstruieren als Austausch von schriftlicher Kommunikation (e-mails und sonstiges), die man nachlesen kann. Dies bedeutet freilich nicht, dass damit Eindeutigkeit herstellbar wäre. Alter und Ego werden – wie Luhmann andeutet – auf sehr verschiedene Weise auch an die vorliegenden „Dokumente“ anschließen.

  1. Bei den drei Komponenten handelt es sich um unterschiedliche Selektionen

Luhmann verwahrt sich dagegen die drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen als „Bausteine der Kommunikation“ zu betrachten, die unabhängig existieren könnten und vielleicht durch ein Subjekt zusammengesetzt werden müssten. Es handele sich vielmehr um unterschiedliche Selektionen, deren Selektivität und deren Selektionsbereich überhaupt erst durch die Kommunikation konstituiert würden.

„Es gibt keine Information außerhalb der Kommunikation, es gibt keine Mitteilung außerhalb der Kommunikation, es gibt kein Verstehen außerhalb der Kommunikation – und dies nicht etwa in einem kausalen Sinne, wonach die Information die Ursache der Mitteilung und die Mitteilung Ursache des Verstehens sein müsste, sondern im zirkulären Sinne wechselseitiger Voraussetzung.“

  1. Ein Kommunikationssystem ist ein vollständig geschlossenes System

Biologische, psychische und soziale Systeme sind jeweils in sich vollständig geschlossene System – gewissermaßen treten sie wechselseitig als relevante, irritationsauslösende Umwelten füreinander in Erscheinung/Wirkung. Ein Kommunikationssystem wird von Niklas Luhmann deshalb verstanden als ein vollständig geschlossenes System, das die Komponenten, aus denen es besteht, durch die Kommunikation selbst erzeugt.

„Nur Kommunikation kann Kommunikation beeinflussen; nur Kommunikation kann Einheiten der Kommunikation dekomponieren (zum Beispiel den Selektionshorizont einer Information analysieren oder nach den Gründen für eine Mitteilung fragen); und nur Kommunikation kann Kommunikation kontrollieren und reparieren.“

An dieser Stelle sei noch einmal der Hinweis Luhmanns wiederholt, nach dem die Praxis und die Durchführung von reflexiven Operationen ein außerordentlich aufwändiges Verfahren ist. Denn man könne – wie schon weiter oben betont – nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Relativ schnell sei der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder eben die Geduld und die Belastbarkeit der psychischen Umwelt erschöpft. Oder noch schlichter: Das Interesse an anderen Partnern oder an anderen Themen dränge sich vor!

  1. Die Kommunikation hat keinen Zweck

Die These lautet: „Die Kommunikation hat keinen Zweck, keine immanente Entelechie (ein Ziel in sich selbst tragen). Sie geschieht, oder sie geschieht nicht – das ist alles, was man dazu sagen kann […] Jede andere Auffassung müsste begründen, weshalb das System nach dem Erreichen seiner Zwecke fortdauert; oder man müsste, nicht ganz neu, sagen: der Tod sei der Zweck des Lebens.“

  1. Die Theorie der Rationalität kommunikativen Handelns ist schon empirisch falsch

Hier geht es um den Diskurs zwischen Luhmann und Habermas, inwieweit Kommunikation auf Konsens abziele, Verständigung suche. Luhmann geht davon aus, dass Habermasens „Theorie der Rationalität kommunikativen Handelns“ auf dieser Prämisse aufbaue. Man könne aber auch kommunizieren, um Dissens zu markieren, man könne sich streiten wollen – „und es gibt keinen zwingenden Grund, die Konsenssuche für rationaler zu halten als die Dissenssuche.

Fallbezogen kann man daran erinnern, dass sich im sozialen Netzwerk des Referenten – dies mag hier einigermaßen kryptisch wirken – einige Männer unter dem Etikett der sogenannten „Kehrbruderschaft“ allwöchentlich versammeln. Ihr Konsens ruht auf dem Vorhaben auf, die Dissenssuche zu kultivieren, um der Welt auf diese Weise ungewohnte Perspektiven abzugewinnen. Das führt nicht selten zu Irritationen – Ernst von Glasersfeld oder Heinz von Foerster würde von Perturbationen sprechen. Gleichwohl finden sich die „Kehrbrüder“ schon aus allmittwöchentlicher Erfahrung in Luhmanns Feststellung wieder, dass Kommunikation ohne jeden Konsens genauso unmöglich ist, wie ohne jeden Dissens. Und in Bezug auf „momentan nicht aktuelle Themen“ lässt sie die Frage nach Konsens und Dissens bei einer guten Flasche Wein auch schon einmal dahingestellt sein. Ganz gewiss hätten sie ihre Freude an der folgenden trockenen, typisch Luhmännisch daher kommenden Anmerkung:

„Und selbst bei aktuellen Themen – selbst wenn man endlich einen Parkplatz gefunden hat und nach langen Fußmärschen das Café erreicht hat, wo es in Rom den besten Kaffee geben soll und dann die paar Tropfen trinkt – wo ist da Konsens oder Dissens, solange man den Spaß nicht durch Kommunikation verdirbt?“

  1. Alle Kommunikation ist riskant

Machen wir wieder Ernst! Von aller Entelechie oder Teleologie, von aller Zielgewissheit und aller Planbarkeit von Kommunikation haben wir uns mit Niklas Luhmann verabschiedet. Kommunikation führt im Sinne Luhmanns zur Zuspitzung der Frage, „ob die mittgeteilte und verstandene Information angenommen oder abgelehnt werden wird. Man glaubt eine Nachricht oder nicht: die Kommunikation schafft zunächst nur diese Alternative und damit das Risiko der Ablehnung.“

Niklas Luhmann verweist darauf, dass Kommunikation Entscheidungslagen forciere, wie sie ohne Kommunikation gar nicht erst bestehen würden: „Insofern ist alle Kommunikation riskant.“

Es gibt die unterschiedlichsten Strategien die Risiken zu minimieren. Diskretion und Takt wären zu erwähnen. Niklas Luhmann spricht von Vertrauen als einem „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“. Aber dazu muss in der Tat ein soziales System die dauerhafte Erfahrung von Verlässlichkeit und Berechenbarkeit zur Verfügung haben. Oder aber – und darauf weist Niklas Luhmann hin – könnte man darauf schauen, wie andere Kulturen – auch bei unwahrscheinlichen Kommunikationen – noch Annahmebereitschaft sicherstellen. Dies geht soweit – insbesondere in fernöstlichen Kulturen –, dass in umgekehrter Weise sensibilisiert wird:

„Man vermeidet Kommunikation mit Ablehnungswahrscheinlichkeit, man versucht Wünsche zu erfüllen, bevor sie geäußert werden, und signalisiert eben dadurch Schranken. Und man wirkt an der Kommunikation mit, ohne zu widersprechen und ohne Kommunikation dadurch zu stören, dass man Annahme oder Ablehnung zurückmeldet.“

Fallbezogen sind dies sicherlich nicht erwägenswerte Alternativen, obwohl die Antizipation schwieriger Ausgangslagen – zum Beispiel die eingeschränkte Mobilität von Gruppenmitgliedern – dazu anregt, über alternative Szenarien nachzudenken und auch Vorkehrungen für ihre Realisierung zu treffen. Hier kommen sich in der Regel inklusive und exklusive Strategien in die Quere. Aber wer von uns würde sich zutrauen oder einer Haltung preisen, Wünsche zu erfüllen, bevor sie geäußert werden???

  1. Kommunikation dupliziert die Realität.

Damit meint Niklas Luhmann in erster Linie, dass Kommunikation Realität in dem Sinn „dupliziert“, dass sie immer zwei Versionen bereitstelle: „eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung“. Damit zwinge sie zur Selektion.

„Und genau darin, dass nun etwas geschehen muss (und sei es: ein explizit kommunizierbarer Abbruch der Kommunikation) liegt die Autopoiesis des Systems, die sich selbst ihre eigene Fortsetzbarkeit garantiert.“

In dieser Zuspitzung auf die Alternative Annahme oder Ablehnung sieht Luhmann den Zwang zur Selektion und damit Anschlussoptionen, die nun entweder auf erreichtem Konsens aufbauen oder dem Dissens Vorrang einräumen. Man könne sogar versuchen, „das Problem zu cachieren“ und entsprechend heikle Punkte künftig zu vermeiden.

Fallbezogen käme allerdings die Vermeidungsstrategie einem Kommunikationsabbruch gleich, weil man zur Vermeidung künftig auf gemeinsame Unternehmungen eher verzichtet – und damit die Risiken ausschaltet.

  1. Wertbeziehung von Kommunikationen.

Hier geht es um Geltungsansprüche und wie man sie kommuniziert. Luhmann geht davon aus, dass Werte in der Kommunikation per Implikation herangezogen werden. In sozialen Gruppen setzt man sie in der Regel voraus.

Fallbezogen stößt man auf unausgesprochene unterschiedliche Wertorientierungen bzw. –präferenzen hinsichtlich von Fragen der Gruppenorganisation. Während auf der einen Seite die Einhaltung von Absprachen als grundlegender Wert im Sinne von Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit betrachtet wird, genießen auf der anderen Seite Spontaneität und Flexibilität eine höhere Präferenz.

  1. Man diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen.

Hier liefert Niklas Luhmann durchaus praktische Einlassungen, wie sich die Bezugnahme auf Werte und die Unterstellung ihrer Geltung auf gruppendynamische Prozesse auswirken kann. Gibt es wertebasierte Absprachen im Sinne von Abschnitt 15, muss derjenige, der sich abgrenzen will, sich auf die Ausgangslage beziehen. Er hat die Argumentationslast:

„Er läuft die Gefahr, innovativ denken und sich isolieren zu müssen. Und da immer mehr Werte impliziert sind, als im nächsten Zug thematisiert werden können, ist das Herauspicken, Ablehnen oder Modifizieren ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Man diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen, Interessen, Vorschriften, Programme. Das alles heißt nicht, dass es ein Wertesystem gäbe. Es heißt auch nicht, und das ist vor allem wichtig, dass es sich um psychologisch stabile Strukturen handele. Im Gegenteil: psychologisch scheinen Werte eine außerordentlich labile Existenz zu führen. Sie werden mal benutzt, mal nicht benutzt…“

  1. Es gibt keinen Selbstvollzug der Werte

Die folgenden Auslassungen Luhmanns kann man fast als Appell lesen. Was sich ein Bewusstsein (ganz für sich) bei alledem denke, sei eben eine ganz andere Frage:

„Wenn es versiert ist, wird es wissen, dass Wertkonsens ebenso unvermeidlich wie schädlich ist. Denn es gibt keinen Selbstvollzug der Werte, und man kann alles, was sie zu fordern scheinen, im Vollzug immer noch entgleisen lassen, im Namen von Werten natürlich.“

Fallbezogen ist genau dies der Fall. Wenn ein Konflikt sich an just immer derselben Nahtstelle offenbart und rigide Planerfüllung gegen flexiblen Chaotismus steht, erahnt man, dass der Selbstvollzug von Werten – und seien sie noch so oft betont, bekräftigt und abgenickt worden – alles andere als selbstverständlich ist. Letztlich droht dann der Kommunikationsabbruch, weil – wie weiland bei Sisyphos der Stein sich immer wieder am Fuße des Anstiegs einfindet.

  1. Konsequenzen für den Bereich der Diagnose und Therapie von Systemzusammenhängen

Niklas Luhmann macht darauf aufmerksam, dass eine derart tiefgreifende Revision der system- und kommunikationstheoretischen Begrifflichkeit Konsequenzen haben müsse „für den Bereich der Diagnose und Therapie von Systemzuständen, die man als pathologisch (krankhaft) ansieht. Luhmann bekennt, dass dies ganz und gar nicht sein Ding sei und dass ihm für diesen Bereich jegliche Kompetenz und vor allem jene Art von automatischer Selbstkontrolle fehle, die aus einer Vertrautheit mit dem Milieu entstehe.

Fallbezogen nähern wir uns nun dem Herzstück, und ich bin selbst gespannt, was Niklas Luhmann anzubieten hat, wenn er – wie er sagt – in einer Art Zusammenfassung einige Punkte beleuchten will. Zunächst: der Ansatz betont die Differenz von psychischen und sozialen Systemen.

„Die einen operieren auf der Basis von Bewusstsein, die anderen auf der Basis von Kommunikation. Beide sind zirkulär geschlossene Systeme, die jeweils nur den eigenen Modus der Reproduktion verwenden können.

Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches System kann nicht kommunizieren.“

Luhmann weist darauf hin, dass es in der Konsequenz dieses Ansatzes liege, zu sagen, dass das Bewusstsein zur Kommunikation nur Rauschen, nur Störung, nur Perturbation beitrage – und ebenso umgekehrt!

Fallbezogen sind wir genau an diesem Punkt, ohne aus dem Rauschen jene sinnträchtigen Mosaiksteine zu isolieren, die uns wieder wechselseitige Anschlüsse ermöglichen. Wir bewegen uns im Zustand fortgesetzter Kakophonie. Es gibt allerdings wieder einen schwachen Silberstreif am Horizont, denn einige reden wieder miteinander.

Niklas Luhmann gibt noch einige operative Hinweise zur strategischen Vorgehensweise: „Wenn Sie einen Kommunikationsprozess beobachten, müssen Sie die vorherige Kommunikation kennen, eventuell Themen und das, was man sinnvoll darüber sagen kann.“

Fallbezogen gibt es für diejenigen, die interessiert sind, ein kleines Dossier, das zumindest den Verlauf der schriftlichen Kommunikation dokumentiert. Aber hier kommen sehr schnell die Vorbehalte Niklas Luhmanns zum Tragen, und man fragt sich, wer macht sich die Mühe???

  1. Das eigene Bewusstsein tanzt wie ein Irrlicht auf den Worten herum

Der Hinweis ist längst überfällig, dass ein Beobachter natürlich die Interdependenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen erkennen kann. Wir bewegen uns hier mit galaktischem Tempo in jene Regionen, die man nicht nur als „zivilisatorisches Minimum“ ausmachen kann, sondern die – ganz im Gegenteil - die Grundlagen bilden für ein zivilisatorisches Miteinander auf allerhöchstem Niveau. Ich gebe Niklas Luhmann an dieser Stelle ganz bewusst Raum, verbunden mit der Hoffnung, wir alle mögen doch erkennen, wie schmal und absturzgefährdend die Gratwanderung zwischen psychischen Ausgangslagen und Befindlichkeiten auf der einen Seite und den operativen Notwendigkeiten im kommunikativen Umgang miteinander ist. Luhmann unterstreicht, dass die psychische Selektivität kommunikativer Ereignisse im Erleben der Beteiligten etwas völlig anderes bedeutet als die soziale Selektivität:

„Schon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selber sagen, wird uns bewusst, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewusstsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt.“

Fallbezogen müht man sich – vom Ereignis ausgehend – die eigene Haut zu retten, rekonstruiert was der eine und was der andere und was man selbst gesagt hat. Und vielleicht ist dann alles klar und eindeutig und die Zurechenbarkeiten ergeben sich wie selbstverständlich. Und doch:

Luhmann beobachtet Bewusstseinsvorgänge – an sich selbst – überaus selbstkritisch und zurückhaltend. Wenn er feststellt, wie sehr das eigene Bewusstsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt, dann konkretisiert er dieses Herumtanzen, indem er andeutet/vermutet/erlebt, wie das Bewusstsein die Worte benutzt und verspottet, sie zugleich meine und nicht meine, sie auftauchen und abtauchen lasse, sie im Moment gar nicht parat habe, sie eigentlich sagen wolle, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tue:

„Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewusstsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewusstseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewusstsein zu sein; irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst.“

All dies – so Luhmann – gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Der Überlegenheit des Bewusstseins über die Kommunikation entspricht in umgekehrter Systemreferenz eine Überlegenheit der Kommunikation über das Bewusstsein. Es kommt einem Wunder gleich, dass man sich im eigenen Reden von der wahrnehmenden Beobachtung anderer ablenken lässt und dass man trotz der Aufmerksamkeit für die Sequenz der Rede daneben noch Kapazitäten frei hat für das simultane Prozessieren von Wahrnehmungseindrücken.

Fallbezogen ist man allerding schnell ernüchtert, wenn genau dies zusammenschrumpft auf das Prozessieren und Kommunizieren eigener Wahrnehmungen und dass damit einhergehend die Wirklichkeit nur die eine Wirklichkeit wird.

  1. Es ist unvermeidlich, die Kommunikation dem Irrwisch Bewusstsein anzupassen – und: Die Kommunikation lässt sich durch Bewusstsein stören

Luhmann stellt die Frage, inwieweit sich die Kommunikation diesem Irrwisch Bewusstsein anpassen müsse. Er betont, dass Kommunikation auf kommunikativ verständliche Weise angenommen oder abgelehnt werden könne. Und so tritt nach außen an die Stelle der unverständlich rauschenden Bewusstseinsumwelt des Kommunikationssystems eine in der Kommunikation vertretbare Entscheidung: ja oder nein – oder Rückfrage, eventuelle Verzögerung, Vertagung, Enthaltung.

Natürlich lässt sich – so gesehen – Kommunikation durch Bewusstsein stören. Luhmann betont, dass sie dies sogar vorsehe und spricht von einem hohen Maß an „Co-Evolution“. Gleichzeitig räumt er ein, dass seine Analyse noch keineswegs ausreiche, um zu beschreiben, was wir als pathologischen Systemzustand erfahren:

„Das wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren ist, von dieser Theorie her gesehen, ja gerade der Normalfall, für den eine normale Auffang- und Absorptionskapazität bereitsteht – sowohl psychisch als auch sozial. Vermutlich entsteht der Eindruck des Pathologischen erst, wenn gewisse Toleranzschwellen überschritten sind; oder vielleicht könnte man auch sagen: wenn die Gedächtnisse der Systeme hierdurch in Anspruch genommen werden und Störungserfahrungen speichern, aggregieren, wieder präsentieren, über Abweichungsverstärkungen und Hyperkorrektur verstärken und mehr und mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen.“

Fallbezogen könnte die eintägige Investition von Zeit und intellektueller Anstrengung als Beleg für letztere Hinweise in Anspruch genommen werden. Die fallbezogene Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Kommunikationstheorie belegt:

Gewiss sollte man sich davor hüten aus dem derzeitigen Sachstand Schlussfolgerungen zu ziehen, um möglicherweise der Frage nachzugehen, ob man psychische und soziale Patholgien unterscheiden kann. Und es verbietet sich aus meiner Sicht vollständig zu unterscheiden, inwieweit die eine als Indikator oder gar als Ursache für die andere angesehen werden kann.

Zweifellos darf man - oder muss man gar - in einem sozialen System, das lange mit dem Begriff der Freundschaft versehen worden ist, die Frage stellen, ob wertebezogene oder verhaltensorientierende Präferenzen von Mitgliedern zusammenpassen, oder ob es – ohne eine beiderseitige Korrektur – nicht schonender für die psychischen Umwelten und das soziale Klima ist, wenn man künftigen Konflikten den Nährboden entzieht.

 

Am 11. Juni 2016 stelle ich mir die Frage, wie es denn nun weitergeht und vor allem, wie ich selbst denn die Dinge sehe?

Bei dem oben abschließend geäußerten Resümee handelt sich um eine relativ neutrale Aussage. Und es zeigt sich nach den ersten Reaktionen, dass es offensichtlich nicht um Heilung, sondern um Schonung geht. Die in den Fall Involvierten wollen interpunktieren, Ursache und Wirkung zuschreiben; sie wollen vor allem nicht eine Haltung in Erwägung ziehen, die beiden - sozial fragwürdigen - Grundhaltungen jeweils ihren Teil der Verantwortung lässt und eine Kehrtwende dadurch einleitet, dass man sich für den Eigenanteil entschuldigt - dies käme ganz offensichtlich einem Gesichstverlust gleich, der höher bewertet wird, als eine friedliche Koexistenz. Jeder sucht primär nach der Schuld des jeweils anderen. Die eine Partei mit Blick auf den asozialen Chaotismus und die Unzuverlässigkeit der anderen Partei. Und die andere Partei mit Blick auf den asozialen Expressionismus (Mitteilungscharakter) der einen Partei.

Ich räume gerne an dieser Stelle ein, dass der von mir selbst vertretene Relativismus nicht für jedermann und jedefrau eine tragfähige Alternative darstellt. Meine Grunddevise des "Lass sie gehen!" erfordert eine gute Portion dessen, was Peter Sloterdijk am Beispiel Niklas Luhmanns als eine Grundhaltung der "Selbstdesinteressierung" bezeichnet hat. In sozialen Netzwerken, die auf Freundschaft und Freizeit ausgerichtet sind, würde das bedeuten, situativ tragfähige Lösungen anzustreben, bei denen alle Beteiligten auf ihre Kosten kommen. Wie weiter oben bereits angedeutet findet dies ganz offenkundig seine Grenzen dann, wenn prinzipienversessene Regelfanatiker auf chaotisch agierende Selbtverwirklicher stoßen. Beide Seiten werden - da bin ich mir mehr als sicher - meine Etikettierungen empört zurückweisen.

Eher nolens volens referiere ich in der Folge ein paar Auslassungen, die am Beispiel Luc Ciompis zeigen, dass man sich ins Feld des Spekulativen begeben muss, wenn man z.B. die fallbezogenen Beobachtungen von weiter oben in Bewertungs- und Erklärungsschemata einordnen will. Wie sehr dies der Fall ist lässt sich an den dialogischen Erörterungen Bernhard Pörksens und Friedemann Schulz von Thuns verdeutlichen. In "Kommunikation als Lebenskunst" (Heidelberg 2014) offenbart Friedemann Schulz von Thun, wie sehr er sich in seinen Beispielen zum "Kommunikationsquadrat" als Leser von Kaffeesatz outet und wie sehr Bernhard Pörksen - als exzellenter Kenner der Systemtheorie - aus strategischen Gründen theoretische Rückschritte in Kauf nimmt, um Schulz von Thun ein dienlicher Kommunikationspartner und Stichwortgeber zu sein:

Zunächst ein paar Anmerkungen zu Luc Ciompi

Im siebten Kapitel seines Buches "Die emotionalen Grundlagen des Denkens - Entwurf einer fraktalen Affektlogik" (Göttingen 1997) geht Luc Ciompi auch auf Niklas Luhmann ein:

"Einen systemtheoretisch fundierten  Zugang zum Thema der Beziehungen zwischen Affekten und Gesellschaft finden wir des weiteren bei NIKLAS LUHMANN. Gefühle sind für ihn [...] in erster Linie kulturell codierte Transaktionselemente in selbstorganisatorischen sozialen Kommunikationssystemen [...] Folgerichtig befasst sich Luhmann nicht direkt mit den Wirkungen von Affekten auf das kollektive Denken, sondern nur indirekt über die - für ihn entscheidende - Rolle von sozialen Systemen als Kommunikations- und Sinnsysteme, bziehungsweise Problemlösungssysteme, oder Möglichkeiten der Komplexitätsreduktion durch sinngebende Selektion aus der komplexen Umwelt (a.a.O., S. 240)."

Ciompi betont, dass Luhmanns ganzer systemtheoretisch-konstruktivistischer Ansatz mit Einschluss seines Begriffs der Interpenetration zwischen dem psychischen, sozialen und organisch-biologischen Bereich weitgehend mit seinen eigenen Auffassungen übereinstimme.

"Um so verwunderlicher mag es deshalb erscheinen, dass Luhmann die Wirkung von Affekten in sozialen Systemen jeder Größenordnung nicht als die grundlegende Kraft und Energie anerkennt, die die ganze Systemdynamik erst in Schwung bringt und zugleich organisiert (ebd. S. 240f.)."

Ich vermute, Luc Ciompis Argumtentation ist - wie meist - scharf und präzise, verfehlt aber die Ausgangslage eben genau so präzise. Niklas Luhmann beschränkt sich auf die Klärung der Frage: "Was ist Kommunikation". Er beteiligt sich nicht an der spekulativen Attribuierung von Ursache-Wirkungs-Erklärungen, die über spekulativen Charakter nicht hinaus gelangen - und kommen sie auch noch so wissenschaftlich ummäntelt daher:

"Es gibt für eine Wissenschaft vom Menschen genug Wissen und zwar, wenn man von der Psychologie absieht, allgemeines Wissen, das nicht im Verdacht steht, Vorurteile über 'den Menschen' zu transportieren (Luhmann 2002, S. 22)."

Wir sind vielleicht alle geneigt - wie Luc Ciompi -, Norbert Elias zuzustimmen, der meint, die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte, sie seien unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. Diese Haltung klingt plausibel und hat im Kern vermutlich eine Reihe von evidenten Argumenten für sich. Aber sie kann für sich eben nicht beanspruchen, exakte Wissenschaft zu sein.

Überaus deutlich wird dies, wenn sich Luc Ciompi nach der kritischen Referenz auf Luhmann auf Randall Collins (1984) bezieht, indem er ihm attestiert, dass er genau den Schritt weitergeht als Niklas Luhmann, indem er soziale Mikro- und Makrostrukturen als vorwiegend emotional determiniert verstehe:

"Sympathie und Antipathie, Hass und Liebe, Interesse und Indifferenz gliedern nach Collins den sozialen Raum vertikal wie horizontal in Oben und Unten, Freund und Feind, Außen und Innen. Zugleich stabilisieren sie ihn durch Gefühle von Solidarität, von Eigentum und Autorität. Außerdem stellen Emotionen für ihn 'eine Form von sozialer Energie' dar, indem sie als Motor allen sozialen Handelns im Kampf um Ressourcen  funktionieren. Ebenfalls nahe Beziehungen zu unseren eigenen Konzepten hat seine ethologisch-anthropologische Auffassung des Menschen als einerseits emotionales und andererseits in einzigartiger Weise sprachbegabtes Wesen, oder 'emotionales Tier', indem sich seine komlementäre Dichotomie von Emotion und Sprache recht weitgehend mit unserer Komplementarität von Affekt und Kognition oder Logik überlappt (ebd., S. 241)."

Allerdings - so Ciompis Einwand - blieben auch bei ihm (Collins), wie bei praktisch allen von Ciompi genannten Autoren, die zentralen Begriffe von Affekt (oder Emotion) und Kognition durchweg unscharf.

Bei allen von Luc Ciompi in Verlauf seiner Ausführungen erwähnten und geschilderten Fallbeispiele laufen alle von ihm angedeuteten Zusammenhänge auf Spekulationen und diffuse Zuschreibungen von biografisch bedingten, genetisch disponierten und situativ aufgeladenen bzw. ausgelösten Dynamiken hinaus. An keiner einzigen Stelle gelangt er über eine vermutete und spekulierte Interdependenz dieser unterschiedlichen Einflussdimensionen hinaus. Genau hier würde Luhmanns Kritik an Luc Ciompi ansetzen - wie an allen Spekulationen über die exakten Zusammenhänge der Interpenetration von psychischer, sozialer und biologischer Einflusssphäre.

Ein paar Anmerkungen zu Friedemann Schulz von Thun (FSvT)

FSvT ist seit 2009 Emeritus der Universität Hamburg. Im Nachwort zur weiter oben erwähnten Veröffentlichung "Kommunikation als Lebenskunst" äußert er seine Skepsis zu dem von Bernhard Pörksen (BP) angestoßenen Vorhaben, seinen "Beitrag zur Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation durch eine Reihe von Interviews zu erläutern und zu vertiefen [...] Hatte ich nicht schon alles supersverständlich dargelegt (a.a.O., S. 209)?"

Ich würde FSvT im Grundsatz zustimmen. Aber es ist durchaus ein Glücksfall, wenn er sich von BP dazu ermuntern lässt, zu seiner epochemachenden Konstruktion des Kommunikationsquadrats zum wiederholten wiederholten Male "ein paar Schlüsselbeispiele herauszugreifen". Ich zitiere die entsprechende Passage etwas ausführlicher (einige Begriffe/Worte habe ich fett und kursiv gesetzt sowie gelb unterlegt):

"Dann lassen Sie uns das Urbeispiel nehmen, das heute tatsächlich in den Schulen gelehrt wird. Folgende Situation: Ein Mann und eine Frau sitzen im Auto, der Mann auf dem Beifahrersitz, die Frau fährt. Und er sagt: 'Du, da vorne ist grün!' Auf der Ebene der Sachinhalte ist dies eine überprüfbare Information, die wahr oder falsch sein kann. Es ist eine Information über die Verhältnisse in der Welt. Gleichzeitig bzw. simultan gibt der Mann - Stichwort Selbstkundgabe - auch etwas von sich selber preis, eventuell ist er ungeduldig oder in Eile. Man weiß es nicht so genau. Auf der Ebene der Beziehung lässt er vielleicht einen Kompetenzzweifel an ihrer Fahrtüchtigkeit erkennen. Und womöglich enthält seine Äußerung den Appell, etwas schneller zu fahren, um noch bei grün über die Ampel zu kommen ('Gib Gas!'). In jedem Fall zeigt schon dieses kleine Beispiel, dass drei der vier Botschaften implizit bleiben. Sie sind deutungsfähig, interpretationsoffen und man muss, um sie zu dechiffrieren, den Tonfall und die begleitende Mimik beachten, den Kontext kennen, eventuell auch die Vorgeschichte der beiden."

Immerhin schließt BP unmittelbar daran an, indem er auf "die Macht des Empfängers"  aufmerksam macht. Aber bleiben wir zunächst bei FSvTs Beispiel und den feinen sprachlichen Relativierungen. Er geht davon aus, dass es eine "überprüfbare Information" gibt - "eine Information über die Verhältnisse in der Welt". Ist allein diese Prämisse schon aberwitzig, so erweist sich FSvT immerhin insofern als seriöser Kommunikationspsychologe als er vier beinharte Relativierungen der von ihm angebotenen Interpretationen einräumt: Er räumt mit Blick auf die innere, das heißt psychische Befindlichkeit des Mannes - "er ist ungeduldig oder in Eile" - ein, dass dies eventuell so sein könnte: "Man weiß es nicht so genau." FSvT räumt ein vielleicht ein im Hinblick auf die von ihm geäußerte Vermutung, dass der Mann auf der Beziehungsebene Kompetenzzweifel an der Fahrtüchtigkeit der Frau erkennen lasse. Und er schränkt schließlich auf der Appellebene seine Deutung mit einem womöglich ein, wenn er die Idee vertritt, dass der Mann die Frau dazu veranlassen möchte, "etwas schneller zu fahren".

Immerhin - möchte man sagen - räumt FSvT in seinem Resümee ein, dass "drei der vier Botschaften implizit bleiben; dass sie deutungsfähig, interpretationsoffen seien, dass man - um sie du "dechiffrieren", den Tonfall und die begleitende Mimik beobachten müsse, dass man den Kontext und eventuell auch die Vorgeschichte der beiden kennen müsse!

Warum - wie weiter oben schon bemerkt - BP sich mit einem unterkomplexen Versatzstück von Kommunikationstheorie bzw. -modellierung an die Öffentlichkeit begibt, erschließt sich mir nur bedingt. Für beide - für FSvT, ganz  besonders aber für Bernhard Pörksen - gerät es allerdings zu einer Peinlichkeit, wenn man unter den durchaus ansehnlichen und einschlägigen Literaturhinweisen vergeblich nach Niklas Luhmanns kleinem und bescheidenen (bereits 1995 veröffentlichen) Aufsatz "Was ist Kommunikation" sucht. Hat er doch die von FSvT eingeräumten Relativierungen in einer gleichermaßen nüchternen wie ernüchternden Auseinandersetzung mit der Frage, was Kommunikation sei, sehr viel grundsätzlicher und systematischer berücksichtigt.

Man glaubt eigentlich nicht, dass zwei durchaus renommierte Mitglieder der wissenschaftlichen Community 2014 von "Dechiffrierung" reden und so tun, als führe das "Urbeispiel" zu irgendeiner Auflösung der Spannung, die durch Luhmanns Unterscheidung der drei Komponenten "Information, Mitteilung und Verstehen" in die Welt gekommen ist; als müsse man nur die "begleitende Mimik beobachten", den "Kontext kennen" und "eventuell auch die Vorgeschichte der beiden". Weder BP(!) noch FSvT lassen auch nur annähernd erkennen, dass sie in Erwägung ziehen, dass es in der Tat aberwitzig ist, Schülern und Studenten nahezulegen, "Dechiffrierung" sei unter Maßgabe der von ihnen erwogenen Relativierungen möglich. Vielleicht wäre es spannend, mit den beiden zu erörtern, was Niklas Luhmann denn meint, wenn er davon ausgeht, dass die drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen nicht als "Akte, nicht als Horizonte für Geltungsansprüche" interpretiert werden können, ja dass sie nicht einmal als "Bausteine der Kommunikation, die unabhängig existieren könnten" betrachtet werden können. Luhmann fragt danach, durch wen das geschehen sollte? Etwa durch das Subjekt?

"Es handelt sich um unterschiedliche Selektionen, deren Selektivität und deren  Selektionsbereich überhaupt erst durch Kommunikation konstituiert werden. Es gibt keine Information außerhalb der Kommunikation, es gibt keine Mitteilung außerhalb der Kommunikation, es gibt kein Verstehen außerhalb der Kommunikation - und dies nicht etwa in einem kausalen Sinne, wonach die Information die Ursache der Mitteilung und die Mitteilung die Ursache des Verstehens sein müsste, sondern im zirkulären Sinne wechselseitiger Voraussetzung."

Einmal ganz abgesehen von der Frage, wer die Zeit denn hätte, im Fluss der Kommunikation - wie Luhmann betont - immer genauer und immer genauer nachzufassen - allein die Anschlüsse entscheiden darüber, was in der Kommunikation geschieht. Wer darüber mehr erfahren will, der beobachte einmal Alltagskommunikation daraufhin und daraufhin, wie oft sie sich auf einer Ebene von allten gewollter Metakommunikation erfolgreich um die Lösung von Konflikten bemüht (siehe dazu weiter oben die Abschnitte 12 und 13).

FSvT mag man vielleicht zugestehen, dass er mit seinem Kommunikationsquadrat -ähnlich wie Watzlawick - darauf aufmerksam macht, dass alle Kommunikation auf einer Sach- bzw. auf einer Beziehungsebene stattfindet. Den Mitteilungscharakter von Kommunikation differenziert er in einen Beziehungsaspekt, einen Aspekt der Selbstoffenbarung/-kundgabe und einen Aspekt des Appellativen. Während Luhmann Verstehen grundsätzlich als Differenz auffasst zwischen der Information und dem Mitteilungscharakter einer Kommunikation, suggeriert FSvT man könne die vier Seiten tatsächlich sauber voneinander unterscheiden.

Aber immerhin: Auf den Hinweis von BP - und sofort stellt sich die Frage, ist das ein Akt der Wertschätzung von Seiten BPs oder ist es provokative Beobachtung zweiter Ordnung verbunden mit einer bewussten Vorführung und Bloßstellung des Kollegen??? - sein (FSvTs) "eigenes, verborgenes Axiom der Kommunikation hieße dann, dass derjenige, der Kommunikatin analysiert und alle in ihr enthaltenen Botschaften expliziert", glücklich werde, reagiert FSvT konsterniert und geradezu empört:

"Um Gottes willen, nein! Es besteht wohl die Gefahr, dass mein Kommunikationsquadrat als eine Aufforderung missverstanden wird, möglichst alle vier Botschaften stets explizit zu formulieren, das Implizite jederzeit und möglichst umfassen deutlich zu machen. Das kann in manchen Momenten eines verqueren oder schwierigen Gesprächsverlaufs eine heilsame Operation sein - gut, wer es dann kann! Aber als gültige Norm würde das Gebot zur vierdimensionalen Explizitheit das menschliche Miteinander zumindest sehr umständlich machen, wenn nicht sogar plump und grell um alle Feinheiten berauben. Zur wahren Meisterschaft gehört auch die Kunst der indirekten Kommunikation, die es ermöglicht, das eigentlich Gemeinte zwischen den Zeilen so anklingen zu lassen, dass er andere es an sich heranlassen kann, ohne gleich reagieren zu müssen."

Und wiederum doch nicht: Man mag es kaum glauben, wie naiv hier Kommunikationsprofis kommunizieren und den Normalfall einer undurchschauten und undurchschaubaren dynamischen Kommunikation durch Training und Aufklärung heilen wollen. Die wahre Meisterschaft hat einen Sonderfall im Blick, der im Rauschen gesellschaftlicher Prozesse den Normalfall markiert. Im Übrigen verwundert es schon, dass FSvT meint, dass das komplexe Phänomen "Kommunikation" sich in den "vier Botschaften" (Information, Selbstkundgabe, Beziehung, Appell) erschöpfend erfassen ließe. Noch einmal: Darin äußert sich nach wie vor ein technisches bzw. technologisches Verständnis von Kommunikation. Erst der jeweilige situativ sich vollziehende Verstehensakt als  Prozessieren der Differenz zwischen dem, was jemand als Information "versteht" und wie ihm diese Darbietung als Mitteilung erscheint/vorkommt, lässt eine Vorstellung davon aufkommen, was in der Kommunikation geschieht. Man ist - sofern man diese Sichtweise zulässt - dann auch nicht wirklich überrascht, was sich im Prozess der Kommunikation für die Beteiligten als gelungener, zumindest aber als akzeptabler - oder umgekehrt als bedingt oder vollkommen misslungener Anschluss(versuch) darstellt/ergibt.