Drucken

Roger Willemsen - der leidenschaftliche Zeitgenosse

Zu seinem Tod eine kleine Bemerkung über das Reisen - und darüber hinaus eine Hommage

9.2.2016: Das Letzte zuerst. Der Bios hat ihm nur noch eine sehr begrenzte Zeit gelassen. Roger Willemsen ist am vergangenen Sonntag (7.2.2016) im Alter von 60 Jahren verstorben. Auch mir wird er fehlen mit seinen Anregungen und seiner gelassenen Unruhe: Der Tod bringt bei mir - vermutlich ähnlich wie bei Roger Willemsen bzw. Thomas Stangl - immer schon die ontologische Differenz zum Schwingen, die starke Ahnung, was den Punkt ausmacht, in den die raum-zeitlichen Verschiebungen zusammenfallen. Nach meinem Großvater, nach meinem Vater, nach meinem Bruder, nach meiner Mutter, nach meinem Schwiegervater und Freunden wieder zur Differenz gekommen zu sein (und ihrer bislang auch nicht entgangen zu sein, ist ein kleines Glück, das ich auch RW noch so lange wünsche, wie ihn sein Lebensmotiv treibt und der Bios trägt.

Am 20. August habe ich folgenden Beitrag in meinem BLOG veröffentlicht:

Ich folge Thomas Stangl in "Die Enden der Welt", das Buch, mit dem "Willemsen seine Leser beglückt hat, vielleicht sogar verändert" (Susanne Mayer, Die ZEIT). Thomas Stangl beteiligt sich an der von Insa Wilke herausgegebenen Festschrift für Roger Willemsen. Vor einer knappen Woche - an meinem ersten Urlaubstag - war ich noch gescheitert bei dem Versuch, mir dieses Buch zu beschaffen. So bekam Martin Heidegger noch einmal eine Chance. Der Zipfelmützenphilosoph unterstützt mich zum wiederholten Mal dabei, über die heimische Scholle wieder zur Besinnung zu kommen - dem besinnlichen Denken gegenüber dem rechnenden Denken stärkere Beachtung zu schenken.

Seit gestern liegt mir nun die 519 Seiten starke Festschrift Roger Willemesen (RW) zu Ehren vor. Über RW, den drei Jahre Jüngeren, wird gestern in den Medien in einer knappen Meldung bekannt gegeben, er sei an Krebs erkrankt - alle Termine für dieses Jahr habe er abgesagt. Folgt man dem von RW inspirierten Thomas Stangl, gewinnt man einen Eindruck davon, wie sehr das Leben eines modernen Intellektuellen auch durch seine Einstellung zum Reisen geprägt wird und wie sehr eine Krebserkrankung vor allem einen Kosmopoliten wie ihn treffen muss, der an den Enden der Welt beheimatet ist (contradictio in eo ipso - welch trefflicher Widerspruch in sich - würde RW wohl dazu bemerken)- einmal ganz abgesehen von der leidvollen Dimension eine Person des Zeitgeschehens (V.I.P.) zu sein.

Roger Willemsen hat immer wieder für journalistische High-Ligths gesorgt. Ich erinnere mich besonders an ein Interview, das er 1999 mit Herbert Grönemeyer nach dem Tod von dessen Frau geführt hat. Man kann die Haltung Willemsens vermutlich nicht radikaler konterkarieren als durch ein Gedicht wie "Das Reisen gibt mir keinen Sinn":

 

Ich bin schon da

 

Das Reisen gibt mir keinen Sinn.

Ich komme an,

Wo immer ich schon bin.

Ich ahne keinen Ort,

Der wirklich führt mich fort.

So oft der Horizont sich auch verschiebt,

Der Kreis bleibt in sich selbst verliebt.

 

Reisen als Sinngebung löst Legitimationsdruck aus, auch wenn Robert Schäfer (2015) davon ausgeht, heute habe sich nicht zu rechtfertigten, wer im Urlaub verreise, sondern wer zuhause bleibe. Diese Haltung gehe doch problemlos als kulturelle Selbstverständlichkeit durch. Seinen Kern habe dieses Deutungsmuster […] in der Idee der Authentizität. Sie bilde das semantische Gravitationszentrum, das das touristische Deutungsmuster zusammenhalte und (nicht absolut und für immer, aber doch vorläufig in praktisch hinreichendem Maß) seinen Sinn sichere. "Sie ist, frei nach Claude Levi-Strauss, der Unsinn, der dem Sinn seinen Sinn gibt."

Thomas Stangl folgt dem Prinzip, dem Unsinn Sinn zu verleihen:

"Warum tue ich mir das an, frage ich mich; was alles wird lästig strapaziös, das zu Hause einfach wäre, was alles werde ich vergessen haben oder verlieren (schlimmstenfalls das Notizbuch!) oder mir kaum zu beschaffen wissen, das ich zu brauchen glaube, wie werde ich mich als dummer Tourist und Fremder zum Idioten machen usf (Festschrift, 205)?" Und weiter:

"Aber diese schlaflose Nacht, dieses lästig Strapaziöse, dieses Vergessen und Verlieren, diese Angst, sogar das idiotische Touristsein- haben sie nicht ihren eigenen Glanz oder können ihn, im Nachhinein, bekommen, sind oder wären nicht gerade sie das Wirklichere, der Aufbruch, der jedes Ankommen ersetzt, und die Erfahrung der Fremdheit (eine Erfahrung an sich selbst, nicht bloß Irgendwo eines fremden Kontinents), die intensivere, körperlich erfahrene Wirklichkeit (Festschrift, 206)?"

Viel tiefer schürft Thomas Stangl mit RW als zum Beispiel Manfred Fuhrmann (1999), der an das richtige Reisen im Sinne eines bildungsbürgerlichen Ethos erinnert - oder Dietrich Schwanitz (1999), der in seiner unnachahmlichen Arroganz die Teilhabe an der Welt über Kommunikation zu unterscheiden weiß zwischen dem Welthorizont und dem Horizont von Wanne-Eickel-Süd. Stangl und Willemsen geht es um die Sehnsucht, die Reisende antreibt, um etwas schwer zu Bestimmendes, etwas, das die billige Metapher, die Reisen und Leben gleichsetzt, mit einem geheimen Sinn erfülle:

"Das Reisen kann gelingen und im emphatischen Sinn Erfahrung sein - ob für den Pauschaltouristen, für den Abenteuerreisenden, den professionellen Reisenden oder den Reisenden aus Leidenschaft -, wenn auch vielleicht nur für Momente, richtige Momente abseits aller Ethik, in denen das Land der Wirklichkeit oder ein Ende der Welt erschient (Festschrift 206f.)."

Stangl ist klug genug Authentizität als zentrales Sinnmuster zu relativieren, es zum Momenthaften zu stilisieren, denn den Tourismus und die mit ihm verbundene Industrie definiert auch er hauptsächlich in ihrem Bemühen, "alles Wirkliche an ihren Traumreisezielen zu zerstören" - selten - so meint er - gelinge es ganz. Aber auch er erinnert sich "an die ziellos herumgehenden Touristen, die versuchten, den Moment auszudehnen [...] Der Parkplatz, der Weg zu Fuß den Felsen hoch, menschenleere Strände unter den Abhängen, der Wind, der Himmel, die Felsen, immer neue Touristen. Es könnte irgendein Parkplatz, irgendein Weg, irgendein Felsen, irgendein Meer sein; aber an einem Ort mit einem Namen, zu einer ganz bestimmten Zeit (Festschrift, 210)."

Wie wandelt - nein wandert - man durch eine schneebedeckte Landschaft, ohne Spuren zu hinterlassen. Es kann doch eigentlich nicht sein, dass ein kluger Mann, wie RW noch nie etwas von der Heisenbergschen Unschärferelation (in den Sozialwissenschaften täte es auch die Luhmannsche Lektion) gehört hat!? An welchem Beispiel könnte man dies drastischer zeigen als an Venedig? Thomas Stangl zitiert und interpretiert RW:

"Alle hier Lebenden sind Geschichte und schleppen ihre Geschichte durch den Raum. Nur der Reisende ist reine Gegenwart. Der Bereiste - je rückständiger sein Land oder seine Region ist, je ethnographischer der Blick des Reisenden, umso mehr - steckt an einem Ort fest, der Reisende kann überall sein und ist fast ohne Substanz."

Ja, aber eben nur fast!

Was erzählt Ihr denn den Fischern im Senegal, die auf leergefischten Meeren um ihre Existenz kämpfen, bevor ihr zurückkehrt in die heimische Komfortzone an den Schreibtisch? Was erzählt ihr den einheimischen Lehrern, nachdem ihr erkannt habt, dass die offene Sklaverei der früheren Jahrhunderte sich umgekehrt hat und in den damaligen Herkunftsländern (im Senegal und wo auch immer) heute für Verhältnisse sorgt, die die Sklaverei ohne "kinetische Verschwendung" genau dort perpetuieren, wo die Lebensgrundlagen schwinden und deshalb der Exodus die Menschen in kinetischer Notwendigkeit freiwillig auf "die menschenüberladenen Boote in Richtung Kanarische Inseln" (oder wo auch immer hin) zwingt?

Thomas Stangl erinnert an den immer wiederkehrenen Moment beim Reisen, in dem er sich fragt wozu: "Warum machst du das?" Und Thomas Stangl erkennt, dass es der "eigene absichtsvolle Blick ist" der einen am Sehen hindere. Nirgendwo scheinen mir die blinden Flecken ausgeprägter zu sein, als in der Beschäftigung mit dem Tourismus!

Und was kann dann das Reisen im besten Fall sein?

"Ist es eine Erfahrung der 'Fremde' oder eine Auflösung der 'Fremdheit'? Und 'der Fremde', wie nah kann man ihm kommen, seiner besonderen Wirklichkeit an diesem Ort hier, diesem hier und diesem und diesem, wie fremd kann er einem dabei bleiben?"

Thomas Stangl entdeckt buchstäblich das Nie-Wieder:

"Das Gesicht, die Person, die man nie wieder sehen wird, hat eine schärfere Präsenz als die Gesichter der Bekannten, von denen man meint, als könnten sie weiter und immer wieder als Haupt- oder Nebenfiguren zum eigenen Leben gehören."

Thomas Stangl erzählt (immer mit RW) von Orten, die sagen:

"Sei nicht hier, löse dich auf, über Suizide im Nordmeer oder in den Abruzzen, ein sterbendes Kind in der Eifel, die Geschichte von einem Jungen mit orangenem Barret in Nepal, der hinter einer Straßenkurve verschwindet, und nur sein Barett wird noch einmal auftauchen, bis hin zum Spaziergang in ein Krankenhaus in Minsk, auf der Suche 'nach einem Ort zum Wirklich-Werden, einem Zustand, einer Situation, an der ich mich festkrallen könnte', die Willemsen ins Zimmer eines Sterbenden, zur Beobachtung eines Sterbenden führt. Ist das die Reise in das Land der Wirklichkeit?"

Ja, Thomas Stangl, Du gibst Dir die Antwort selbst - "es ist das Bewusstsein vom Tod, die Suche nach dem äußersten Punkt des Umschlags [...] Der Tod, als der Punkt, an dem die zeitlichen Verschiebungen zum Stillstand kommen oder in den sie zusammenfallen, ist immer gleich nah, immer gleich fern."

Roger Willemsen beginne ich zu verstehen. Der Knacks, ausgelöst durch den frühen Tod des Vaters, vor mehr als vierzig Jahren, beginnt die Motive freizulegen, die Unruhe in der Gelassenheit begreiflich zu machen, die RW immer wieder an die Enden der Welt treibt.

Ich wünsche ihm, dass mit sechzig sein individuelles Ende noch nicht erreicht sein möge - gleichwohl er - wie kaum jemand - die Haltung verkörpert, die eine Ahnung davon hat, dass der Tod die Raum-Zeit meint, wo möglicherweise alle zeitlichen Verschiebungen zum Stillstand kommen - in Wanne-Eickel-Süd genauso wie an den Enden der Welt.

Der Tod bringt bei mir - vermutlich ähnlich wie bei RW bzw. Thomas Stangl - immer schon die ontologische Differenz zum Schwingen, die starke Ahnung, was den Punkt ausmacht, in den die raum-zeitlichen Verschiebungen zusammenfallen. Nach meinem Großvater, nach meinem Vater, nach meinem Bruder, nach meiner Mutter, nach meinem Schwiegervater und Freunden wieder zur Differenz gekommen zu sein, ist ein kleines Glück, das ich auch RW noch so lange wünsche, wie ihn sein Lebensmotiv treibt und der Bios trägt.

Wie einleitend bemerkt, war der Bios gnadenlos in der Verkürzung einer so unglaublichen vita activa. Dass Roger Willemsen dies offenkundig selber so nicht gesehen hat, lässt sich aus den Zitierungen lesen, die über die Nachrufe (vor allem in der ZEIT, 7/16, S. 39) in mir noch einmal ein außerordentliches Echo erzeugen:

"Die Krankheit macht mich nicht hysterisch, nicht irrational, sie vernebelt nicht. In schöner Klarheit tritt heraus, wie lange ich um sie kreise, wie die letzten Themen der Vergegenwärtigung, der Moment-Verdichtung, der Feier des Lebens in der Epiphanie, die Rettung der Erinnerung alle Teil einer Verarbeitung waren, die ich gewissermaßen prophylaktisch leistete."

Jörg Bong (Verleger von Roger Willemsen) schreibt ebd.: "Die erste Reaktion auf die Nachricht der Erkrankung war eine Reise nach Oslo: 'Eine große Erlösung, schlicht überwältigend, Munch ergreifend..., die Stadt, das Meer, die Landschaft, das Essen, alles Sinfonisch, und Jörg, hier ist Frohsinn, Lebensfreundlichkeit, Lächeln. Wie dankbar ist man in diesem Zustand für ein solches Leben, diese Zugewandtheit und Bejahung von allem Sinnlichem'."

Noch einmal

Oder - neinmalJ Jörg Bong: "... Also musste er die Welt sehen und die Menschen, die reale Welt, die realen Menschen, auf Reisen sein. Und das war er: permanent auf Reisen. Das Unterwegssein war sein Seins-Zustand. Vor allem und immer wieder: zu denen, die in Not waren, die niemand sah und niemand sehen wollte, die keine eigene Stimme besaßen. Das Passagere war sein Modus. Es erlaubte ihm eine Art von Frei-Sein von sich selbst und dies wiederum die rückhaltlose Vertiefung in die Dinge und die Menschen ihm gegenüber, wahrzunehmen was genuin von dort kommt, vom Anderen. Anti-Narzissmus hieß das Programm in dieser Hinsicht: der Andere! Auch das Andere, die Differenz, ja. Im Gespräch nicht immer bloß sich selbt hören. Im Hinsehen nicht nur das Eigene zu sehen. Er begriff das als ein radikales Lieben, und das tat er verschwenderisch: lieben... wie allen Zynismus hat er auch das modische Sich-Mokieren über den 'guten Menschen' gehasst... er verausgabte sich mutwillig... für Amnesty International, für Care. Unzählige Auftritte hat er bestritten, Honorare abgegeben, beachtliche Teile seines Vermögens."