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Harald Martenstein hat die Lösung: Freundlichkeit: Ja bitte. "Wertschätzung": Nein danke

Harald Martenstein, Virtuose der journalistischen Kleinform, gibt mir Gelegenheit, die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Inklusions-Exklusionsdebatte feuilletonistisch zu kommentieren. In der Nr. 23 des ZEIT-Magazins vom 3. Juni 2015 unterbreitet er auf Seite 6 einen "Vorschlag zur Verbesserung der Welt", für den er allerdings keinen Originalitätsanspruch erheben kann. Peter Sloterdijk hat ihn bereits vor Jahren aus der von Niklas Luhmann angedeuteten Haltung der "Selbstdesinteressierung" abgeleitet (Peter Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels, Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien, in: Luhmann Lektüren, Kadmos-Berlin 2010). Da ist die Rede vom "Theorietreiben auf der Stufe der dritten Ironie".

Es fördere eine Neigung zum Desengagement von fixen Meinungspositionen, weil das systemische Denken von sich her eine Komparatistik der Illusionen nahelege. Und er schlussfolgert, dass eine offene, vergleichende Grundhaltung zu einer Verbesserung des Klimas führen könne:

"Kaum nötig zu sagen, dass eine solche Haltung, ließe sie sich generalisieren, einen zivilisierenden Effekt hervorriefe, da sie unweigerlich entfanatisierend wirkt und Höflichkeit (Hervorh., Verf.) verstärkt (Sloterdijk a.a.O., S. 142)."

Ja, sagt Harald Martenstein dazu und formuliert gleichzeitig seine Verlustängste: "Das, was die Menschen an der untergehenden bürgerlichen Welt am meisten vermissen werden, sind die bürgerlichen Tugenden. Höflichkeit, Freundlichkeit, Bescheidenheit, Geduld, Pünktlichkeit, Fleiß...". Und außerdem beweist er mit seinen Ausführungen, dass angesichts solch drohender Verluste sanfte (Selbst-)Ironie ein Trostspender sein kann:

"Wie wäre es, wenn alle Leute freundlich und höflich miteinander umgehen würden? Es ist nicht zu bezweifeln, dass damit eine gewaltige Verbesserung der Lebensqualität verbunden wäre, und zwar für alle. Diese eine, schlichte Veränderung würde in puncto Zufriedenheit und Wohlbehagen mehr bringen als die meisten Reformen der letzten 20 Jahre. Kein einziges Zukunftsproblem wäre gelöst, aber jedes dieser Probleme ließe sich leichter ertragen."

Martenstein ist - wie meistens - hinter den latenten Lebenslügen und symbolischen Erschleichungen her, die ein X für ein U ausgeben. Er nimmt sich den Streik der Erzieherinnen vor und erklärt der Familienministerin Manuela Schwesig, die in der ersten Viertelstunde der Talkshow hart aber fair vier Mal das Wort "Wertschätzung" verwendet habe, - hart aber fair - worum es eigentlich geht. Die Erzieherinnen, so seine nüchterne Feststellung, wollten im Übrigen mehr Geld: "Sie wollen keine Phrasen hören, sie wollen einfach besser bezahlt werden." Pecuniäre oder geldwerte Gratifikationen entsprechen der Logik innerhalb eines Tauschsystems, in dem Arbeitskraft mit Lohn vergolten wird - Phrasen helfen da in der Tat nicht. Im Gegenteil - und hier spürt man bei Martenstein, dass die zivilisierenden Effekte von Ironie offenkundig zur Ableitung zorniger Affekte nicht reichen - befleissigt er sich zur Enttarnung des Phrasenhaften eines soliden Sarkasmus:

"Es gibt im Netz sogar einen Entwurf für die wertschätzende Ablehnung von Bewerbern auf eine Stelle: 'Vorweg ein ganz großes Kompliment: Ihre Bewerbung und die Art Ihrer Bewerbung sind wirklich beeindruckend. Wir finden das ganz toll. Behalten Sie sich diese Form bei, damit heben Sie sich sehr von der Masse ab.' Danach kommt die Absage."

Ja, Harald Martenstein, das klingt verlogen! Und ich stimme Ihnen zu - auch ich möchte so nicht behandelt werden! Und wenn ich Ihnen tatsächlich einmal begegnen sollte, werde ich freundlich und höflich sein und erwarte dasselbe von Ihnen. Und ich gestehe Ihnen zu, dass man sich im Feuilleton auch einmal "erbärmlich flach" geben darf, damit der Groschen auch beim Letzten noch fällt. Aber zu Optimismus gibt es da keinen Anlass. Es irritiert ja auch eher, wenn man die flachen Gewässer verlässt, dass "freundlich sein" eine gemeinsame Sprachwurzel hat mit "freunden" oder gar "Freundschaft".