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Eine ZEIT-Reise

Das Echo auf die Flugkatastrophe - Extremismus der Erregung von Bernhard Pörksen in der ZEIT 14/15 -Leitartikel

So elegant ist selten jemand zurückgerudert: Man nehme sich einen renommierten Medienwissenschaftler und lasse (sich) die Leviten lesen. Nachdem man in der letzten Ausgabe den "Absturz eines Mythos" proklamiert hatte, will man mit der heutigen Ausgabe (14/15 vom 1. April) hinter den "Extremismus der Lügen" zurück. Seit mehr als dreißig Jahren bin ich leidenschaftlicher ZEIT-Leser und norde mich im zunehmenden Medien-Hype auch heute noch mit Hilfe der ZEIT im Orkan der Nachrichten ein - und dies gewiss nicht allein deshalb, weil man in Hamburg mit steifen Brisen mehr Erfahrung hat als anderswo.

Was macht nun meine besondere Empfindsamkeit aus und erhöht meine Empfänglichkeit für "Besonnenheit in besinnungslosen Zeiten"? Bernhard Pörksen fordert dies mit der professoralen Autorität des "Medienwissenschaftlers" und glaubt die Medienzunft von A bis Z - zumindest von Bild bis ZEIT auf ein gemeinsames Ethos verpflichten zu können: "Die Mediengesellschaft braucht Regeln zur Wahrung der Besonnenheit in besinnungslosen Zeiten" - vor allem, so Pörksen, um nicht selbst in einem "Extremismus der Erregung" zu versinken und sich in eine Art "mentaler Geiselhaft des Schreckens" zu begeben. Er kreiert zwei Begriffe, die Klemme und Zwangslage der modernen Mediengesellschaft verdeutlichen sollen. Einerseits manövriere sie sich unter dem Druck pausenlos berichten zu müssen in ein Nachrichtenvakuum hinein, was im Übrigen dazu führe, dass man "Pseudo-News" präsentiere, wo man doch gar nichts wirklich Neues zu sagen habe. Andererseits bedinge das Zusammentreffen von Katastrophe und rascher publizistischer Reaktion notwendig ein Faktizitätsvakuum: Man wisse wenig sicher, wolle aber doch Gewissheiten präsentieren. Das hat die ZEIT-Redaktion immerhin dazu verführt, die Headline von 13/15 mit dem "Absturz eines Mythos" zu begründen. Ja, was waren das noch für Zeiten als Bernhard Pörksen ganze Titel von Büchern noch mit der Headline "Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" auf den Punkt bringen konnte.

Aber kehren wir zurück zu seiner Idee eines Faktizitätsvakuums. Versuchen wir es einmal mit einem anderen Begriffsungeheuer, das seit einiger Zeit in einer unstrittig hochgradig funktional differenzierten Gesellschaft einen neuen Romantizismus begründet: Nicht zuletzt ist es der Begriff der Inklusion, der uns daran erinnern soll, dass wir (Menschen) doch alle in einem (gesellschaftlichen) Boot sitzen, und dass uns mehr verbindet als uns trennt. Im Großen und Ganzen soll dies ja sicherlich auch so sein. Bezogen auf die "Flugkatastrophe" ist es ganz sicher nicht so: Der SPIEGEL (14/15) titelt: "Ausgeliefert - Ein Pilot, 149 Opfer"). Gehen wir einmal davon aus, dass Faktizität hier auch Geltung beansprucht, trennt sich diese Gesellschaft in eine große Gruppe derer, die sich unverhofft in der Arena des Medienzirkus wiederfindet, und in eine kleine Gruppe derer, die in bluts- oder wahlverwandtschaftlicher Beziehung zu den Opfern stehen. Für diese kleine exklusive Gruppe - und nur für diese Gruppe - existiert kein Faktizitätsvakuum! Es mag zu einer verzögertern bzw. mit Elisabeth Kübler-Ross oder Vererna Kast auch zunächst verweigerten Realisierung der "reinen Tatsachen" kommen. Aber gnadenlos und ohne Pardon verschafft sich Faktizität hier Geltung, jeden Tag ein wenig mehr bis ihre Anerkennung unausweichlich wird!

Ich weiß, wovon die Rede ist: Als am 21. Juni 1994 in der Nähe von Landshut eine viersitzige, einmotorige Sportmaschine "wie ein Stein vom Himmel fiel" und vier Männer in den Sekundentod riss, war das auch der Bild-Zeitung eine Headline wert; alle Mal wert ein Nachrichtenvakuum zu füllen und. Dass es sich dabei letztlich um einen Akt fahrlässiger, wenn auch nicht vorsätzlicher Tötung handelte, ermittelten die Beamten des Bundesluftfahrtamtes in einem üblichen amtlichen Verfahren. Dass einem fahrlässigen Piloten, der versäumt hatte, aus den im Logbuch vermerkten vorabendlichen Flugbewegungen die Notwendigkeit eines Nachtankens abzuleiten, die Aura eines Helden verliehen wurde, gehörte seinerzeit zur offenen Flanke der Berichterstattung: "Ungewissheit im Verbund mit einem Geschwindigkeitsrausch... erzeugt unvermeidlich ein Informationsvakuum".

Allein im Falle meines Brudes war es ein differenziertes bluts- und wahlverwandtschaftliches Netzwerk, das ausgehend vom Epizentrum der Familie so nachhaltig erschüttert worden ist, dass Lebenswege eine Wende, eine Kehre erfuhren, an der sich die Kontingenz unserer Lebensläufe erahnen lässt: "Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen" (Niklas Luhmann). Im Nachhinein würde ich mir für die nunmehr betroffenen 150 Familien- und Freundeskreise wünschen, sie wären nicht diesem unsäglichen Medienhype ausgesetzt und könnten - so tauglich wie untauglich - die Erschütterungen, die in der Regel nichts annähernd so lassen, wie es war, diskret und für sich (wenn auch - sofern gewünscht - mit professioneller Hilfe) verarbeiten. Andererseits müssen diese 150 Betroffenheitskreise in aller Ambivalenz ertragen, dass die ZEIT von heute (14/15) ein gesellschaftliches Signale setzt - wiederum mit seiner Headline: "Ostern - VOM WERT DES LEBENS - Forscher, Philosophen und Künstler erklären: Gerade das Wissen um den Tod ist der stärkste Antrieb, nach einem Leben zu suchen, das diesen Namen auch verdient."

Das diese Besinnung ausgelöst wird durch den Tod von 150 Menschen, offenbart die Ambivalenzen einer modernen Mediengesellschaft! Apropos Menschen:

Es ist etwas Prinzipielles, etwas sehr Grundsätzlich-Fundamentales, was "niemanden im Ausbruch medialer Hysterie gut aussehen ließ: Die Journalisten nicht, die trauernde Angehörige und geschockte Schüler fotografierten und filmten. Die Experten und Pseudo-Experten nicht, die wild über technische Ursachen, ein vermeintliches Gewitter in den französischen Alpen oder die Seelenlage des Piloten spekulierten."

Der Mensch gehört nicht zur Gesellschaft! Wenn wir dies doch nur endlich zu unser aller Vorteil, Respekt und Nutzen begreifen könnten. Niklas Luhmanns Unterscheidung von "sozialen Systemen" auf der einen Seite, die ausschließlich im Modus von Kommunikation und nichts als Kommunikation operieren und "psychischen Systemen", die auschließlich in einem Netzwerk von Gedanken und nichts als Gedanken operieren - und zwar in wechselseitiger Intransparenz, nimmt allen Expertisen und Pseudoexpertisen die Grundlage: Sie bleiben ex-post-factum-Spekulationen!

Und wo bleibt der Mensch??? Antworten wir mit einer Formulierung von Dietrich Schwanitz, die die gesamte Pseudo-Wissenschaft der Psychologie reduziert zu einem gewaltigen und gewaltsamen Generator von Vorurteilen über den Menschen: "Nein, der Mensch wird aus dem Paradies der Gesellschaft vertrieben und treibt sich außerhalb herum, in der Wildnis seiner Psyche." Wie sehr dies der Fall ist, können wir alle daran ermessen, wie sehr und wie widersprüchlich die "Experten" ringen um eine angemessene Deutung der Tatsache, dass der voice-recorder der Unglücksmaschine 4U9525 über Minuten aus der Pilotenkanzel nichts anderes wiedergibt als das "ruhige Atmen des Kopiloten".