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Manche Menschen sind superwichtig - andere stören!

Du bist superwichtig! Du störst!

Ausgangsthese: Die beiden Botschaften "Du bist superwichtig" und"Du störst" werden dann in einem konstruktiven Sinne folgenreich, wenn wir sie normativ und faktisch gegen den Strich bürsten: Den Lernerfolg aller Schüler werden wir nur dann befördern können, wenn zum einen alle Schüler "superwichtig" werden, und wenn zum anderern der (unzufriedene, verdrossene, enttäuschte, kranke, depressive, arbeitsunfähige) Lehrer als Störfaktor und Leerstelle im täglichen schulischen Betrieb wahrgenommen wird. "Inklusion" geht nur, wenn alle superwichtig sind!

 
Was Schüler lernen, bestimme der einzelne Pädagoge. Alle andere Einflussfaktoren - die materiellen Rahmenbedingungen, die Schulform oder spezielle Lernmethoden - seien dagegen zweitrangig. Für nicht verhandelbar hingegen hält John Hattie (siehe Zusammenfassung von Martin Spiewak in der Zeit 2/13) die emotionale Seite des Lernens. Ohne Respekt und Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen könne Unterricht nicht gelingen. Es geht um den Lernerfolg von Schülern, die Einflussfaktoren und ihre (quantifizierbaren) Effektstärken. Es geht nicht um Fragen der Lehrergesundheit, ein inzwischen - auch empirisch - vorzüglich erschlossenes Forschungsfeld (z.B. Potsdamer Studie zur Lehrergesundheit). Aus vielen Studien wissen wir, dass Lehrerinnen und Lehrer seit vielen Jahren als den Hauptbelastungsfaktor Problemschüler nennen.
 
In John Hatties Erkenntnisinteresse liegt ausschließlich die Frage nach dem Lernerfog von Schülern. Und die 800 Metastudien mit erfassten 50000 Einzelstudien (weltweit), die Hattie mit seinem Team in den 15 Jahren analysiert und gerechnet hat, sind nur auf diese einzige Frage hin untersucht worden: Welche Einflussfaktoren wirken mit welcher Effektstärke auf den Lernerfolg von Schülern!

Selbstverständlich verbietet sich die Frage nach den Hauptbelastungsfaktoren in der täglichen unterrichtlichen Arbeit nicht, und selbstverständlich kann man auch wissen, dass sich seit mehr als zehn Jahren die Anzahl derjenigen Lehrerinnen und Lehrer etwa auf ein Drittel reduziert und eingependelt hat, die bei relativer Gesundheit und relativer Berufs- und Lebenszufriedenheit die reguläre Pensionsgrenze erreichen. In Hatties Studien spielt all dies keine Rolle. Die Fokussierung auf den "Lernerfolg" von Schülern entspricht einem notwendigen und legitimen Forschungsinteresse. Die publizierten und gebetsmühlenartig kolportierten Befunde führen in ihren bildungspolitisch folgenreichen Konsequenzen allerdings zu höchst fragwürdigen und Paradoxien. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit der auch von John Hattie als "nicht verhandelbar" formulierten Einsicht, dass Unterricht ohne die Beachtung der emotionalen Seite des Lernens nicht gelingen könne. Hier geht es um Fragen der "vertrauensvollen" Beziehungsgestaltung.

Wenn (möglichst gesunde) Lehrer dies einerseits leisten sollen, und wenn das Inklusionsgebot andererseits nicht nur eine fragwürdige Legitimationsformel unter Ideologieverdacht sein soll, dann lohnt es durchaus andere Positionen als die von John Hattie zur Kenntnis zu nehmen. Es würde zweifellos auch lohnen unter dem Motto: "Was man weiß, was man wissen könnte" noch einmal all die Ergebnisse der vielen Modellversuche zur Integration zur Kenntnis zu nehmen. Man würde sehr wohl sehen können, dass die Rahmenbedingungen die entscheidende Variable darstellen, die den Lernerfolg von Schülern - und zwar von allen Schülern, auch von "Problemschülern" entscheidend beeinflusst - und zwar vermittelt über die Lehrerinnen und Lehrer, die diese emotionale Seite der Lernens gewährleisten sollen. Wir schauen uns dies noch einmal an mit Ulrike Becker, die in der ZEIT (24/2014, S. 71) die Einladung angenommen hat, über die Arbeit mit verhaltensauffälligen und -schwierigen Schülern zu sprechen:

Martin Spiewak führt das Interview und eröffnet mit einer Frage, die sofort die Not und die Hilflosigkeit vieler Lehrer in den Fokus rückt (siehe auch Fack Ju Göhte):

"Frau Becker, kennen sie Schüler, vor denen Lehrer Angst haben?" Die Antwort gleicht der Beschreibung einer permanenten psycho-sozialen Grenzsituation, mit der Kinder und Jugendliche als Unterrichtsstörer in Erscheinung treten: "Ja, diese Schüler gibt es. Sie halten sich nicht an die Schulregeln und stören permanent den Unterricht. Viele von ihnen strahlen eine unterschwellige Wut aus. Meist sind es Kinder mit massiven Ängsten, die ihr geringes Selbstwertgefühl in Aggression umwandeln. Bei dem geringsten Anlass können sie gewalttätig werden."

Im Fortgang des Gesprächs äußert sich Ulrike Becker sowohl zu erkennbaren Hintergründen und ursächlichen Zusammenhängen als auch zu den Formen und Spielarten dieser extremen Belastungsituationen:

Ulrike Becker ist Sonderpädagogin und Privatdozentin an der Universität Potsdam. Für Kinder mit schweren Verhaltensauffälligkeiten hat sie das Projekt "Übergang" konzipiert. Sie leitet außerdem eine Integrierte Sekundarschule in Berlin. Die Konsequenzen für eine angemessene Ausstattung von Schulen mit Inklusionsanspruch beschreibt sie insofern auf der Grundlage umfassender Erfahrungen:

Martin Spiewak insistiert gleichwohl mit der Frage, ob es nicht Schüler gebe, "die zumindest zeitweise eine Spezialeinrichtung benötigen und ob nicht Schwerpunktschulen die Inklusion dieser besonders schwierigen Schüler übernehmen sollten?"

Martin Spiewak spricht an dieser Stelle aus, was der Mehrheitsmeinung von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland entspricht: "Viele Lehrer würden auf diese Lerngelegenheit liebend gern verzichten." Und Ulrike Becker formuliert die das Schisma in der Lehrerschaft auslösende Position ebenso klar und kompromisslos: "Möglich, aber diese Kinder sind nun einmal da, und sie haben ein Recht darauf, mit Gleichaltrigen aufzuwachsen." Manchmal brauche es auch Mut und Fantasie für unkonventionelle Lösungen: "In einem Fall wurde einer Schule ein Viertklässler zugewiesen, der schon ein halbes Dutzend Straftaten verübt hatte. Es war unmöglich, ihn in eine Klasse mit Gleichaltrigen zu integrieren. Wir haben den Neunjährigen dann mit einem eigenen Lehrplan in eine zehnte Klasse gesetzt." Martin Spiewaks Reaktion, zumindest das Verprügeln von Mitschülern sei damit ja wohl obsolet, ergänzt Ulrike Becker mit dem Hinweis: "Nicht nur das. Die großen Jungs haben dem Kleinen Halt gegeben und sich rührend um ihn gekümmert."

Wenn schon die Hattie-Jünger behaupten - und ihre Behauptung als empirisch erwiesen ausgeben -, dass die Rahmenbedingungen für den Lernerfolg von Schülern nur sekundäre Bedeutung habe, dann sollten wir ihnen entgegenhalten, dass die Rahmenbedingungen aber offenkundig der entscheidende Einflussfaktor für die Lehrergesundheit darstellt. Mit kranken und unzufriedenen Lehrerinnen und Lehrern stehen nicht nur Inklusionsvorhaben zur Disposition, sie stellen für die Länder langfristig auch eine ungleich höhere finanzielle Belastung dar als die Schaffung von gediegenen Rahmenbedingungen im Sinne Ulrike Beckers und so vieler Gesundheitsstudien und letztlich auch in Inklusionsfragen erfolgreicher Schulen.

Die beiden Botschaften "Du bist superwichtig" und "Du störst" werden dann folgenreich, wenn wir sie normativ und faktisch gegen den Strich bürsten: Den Lernerfolg aller Schüler werden wir nur dann befördern können, wenn zum einen alle Schüler "superwichtig" werden, und wenn zum anderern der (unzufriedene, verdrossene, enttäuschte kranke, depressive, arbeitsunfähige) Lehrer als Störfaktor und Leerstelle im täglichen schulischen Betrieb wahrgenommen wird.