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Der Tod und ich - ein "Gespräch" mit

Harald Martenstein

Haben Sie Angst vor dem Tod, Herr Martenstein? Wer keine Angst vor dem Tod hat, mag das Leben nicht sonderlich, auch nicht das Leben der anderen (Harald Martenstein ist seit gefühlten hundert Jahren - immer noch frischer - Kolummnist des ZEIT-Magazins).

Sich mit der eigenen Sterblichkeit abzufinden: Ist das überhaupt möglich? Mit dieser Frage setzt sich Harald Martenstein in "GEO WISSEN" (Nr. 51: Vom guten Umgang mit dem TOD) auseinander. Und ich (Wi-Ro) - seit fast zwanzig Jahren mit dem Themenkomplex "Tod - Sterben - Trauer" unterwegs - führe mit ihm in altbewährter Manier ein "Interview"; nein, nicht face to face, sondern ganz ohne Beanspruchung von Spesen und Reisekosten, indem ich ihn auf meine Fragen mit seinen eigenen Worten antworten lasse. Zum Beispiel so:

Wi-Ro: Lieber Harald Martenstein, gibt es aus Ihrer Sicht im Umgang mit dem Tod so etwas wie Gewissheiten?

Martenstein: Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Tod für uns Heutige eine größere Zumutung darstellt als für unserer Vorfahren.

Wi-Ro: Also ganz sicher sind Sie sich da nicht?

Martenstein: Nein, nur ziemlich sicher. Unter anderem deshalb, weil wir es gewöhnt sind, unser Leben steuern zu können. Zumindest glauben wir, dass wir es könnten.

Wi-Ro: Es könnte also sein, dass die größere Zumutung schlicht aus der Tatsache resultiert, dass wir anmaßender - vielleicht auch dümmer - sind als unsere Vorfahren, weil wir etwas annehmen, von dem wir wissen, dass es eine Illusion ist?

Martenstein: Wir nennen uns gern "selbstbestimmt", "frei" oder "autonom". Das Leben unserer Vorfahren dagegen war schon bei der Geburt vorherbestimmt durch Faktoren, an denen sie nicht viel ändern konnten, die Fesseln der sozialen Herkunft, des Geschlechts der Hautfarbe konnte man nicht so leicht abschütteln. Heute geht das schon eher.

Wi-Ro: Im Diesseits - um eine Grenze zu markieren - kann man eine enorme Zunahme an Autonmie, an Freiheitsgraden zweifellos registrieren. Dass aber der Tod als der mächtigste und konsequenteste "Gleichmacher" letztlich die Oberhand behält, muss doch dann umso schmerzlicher erscheinen!?

Martenstein: Ja, der Tod ist geblieben. Der Tod ist unheimlich, weil wir keinerlei Möglichkeit besitzen, Einfluss auf ihn zu nehmen. Das ist der moderne Mensch nicht gewöhnt, dieses Gefühl der Machtlosigkeit. Am Ende läuft es immer auf den Sieg des Todes hinaus.

Wi-Ro: Sie sagen, dass "keine Erfindung, keine Emanzipationsbewegung, keine Revolution und kein Guru daran etwas ändern werden - irgendwann ist Schluss." Was bleibt uns denn angesichts dieser Unausweichlichkeit aus Ihrer Sicht?

Martenstein: Ich stell mir manchmal die Frage, ob ich anders leben würde, wenn ich wüsste, dass in zwei Jahren Schluss ist?

Wi-Ro: Haben Sie darauf eine Antwort?

Martenstein: Zumindest vermute ich, dass ich mein Leben tatsächlich verändern würde: Ich würde mit dem Job aufhören, viel Zeit mit Menschen verbringen, die mir wichtig sind, ich würde noch ein paar Reisen machen, ich würde einen Teil der Ersparnisse auf den Kopf hauen und den Rest des Lebens in vollen Zügen genießen.

Wi-Ro: Das sind zumindest klare Vorstellungen für diesseitige Veränderungen. Wenn Ihnen das wichtig ist und hohen Sinn gibt, warum ändern Sie Ihr Leben nicht; auch ohne irgendeine finale Diagnose - und im angesicht der Gewissheit des "mors certa - hora incerta"?

Martenstein: Ja, vielleicht mache ich auch einfach weiter wie bisher. Wenn ich tatsächlich 90 werde, brauche ich nämlich die Ersparnisse.

Wi-Ro: Was bedeutet für Sie Tod konkret - haben Sie Jenseitsvorstellungen?

Martenstein: Manchmal phantasiere ich das totale Nichts, das Verschwinden in die Bewusstseinslosigkeit - vielleicht ist das ja die bessere Form von Jenseits, in der ich umhergeistere und von meinem Tod nichts weiß. So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein, diesen Satz hat der katholische Künstler Christoph Schlingensief geschrieben, als er schwer krank war und wusste, dass sein Tod ihm nahe ist.

Wi-Ro: Das ist ein interessanter Gedanke. Können Sie den Gedankengang noch etwas konkretisieren, den Zusammenhang zwischen Tod und Bewusstsein?

Martenstein: Der Tod ist unbegreiflich, weil man sich das Nichts nicht vorstellen kann, genau so wenig wie die Unendlichkeit. Lassen wir die Tröstungen der Religion einmal beiseite, dann bedeutet Tod: das Ende des Bewusstseins. Es ist das Bewusstsein, das zählt, dieser Kosmos in unserem Kopf, bestehend aus Erinnnerungen, Bildern, Wünschen, Gefühlen und Gedanken, aus Glück und Unglück. Man kann es nicht weitergeben, auch wenn man zehn Memoirenbände schreibt. Die Welt in unserem Kopf ist viel reicher, als wir es jemals ausdrücken könnten, sie ist unser Leben.

Wi-Ro: Können Sie etwas anfangen mit der Idee Alexander Kluges, wonach die Toten gar nicht tot sind?

Martenstein: In meinen Träumen treten die Toten auf, die ich gekannt habe. Es werden immer mehr, da drüben. Meine Großeltern leben in meinem Kopf weiter. Von Zeit Zeit kommentieren sie Dinge, die sie zu Lebzeiten nicht gekannt haben. Ich höre keine Stimmen, ich habe auch keine Erscheinungen. Es ist nur so, dass ihr Tonfall, ihr Humor und ihre Abneigungen mich bis zu meiner eigenen Todesstunde begleiten werden.

Wi-Ro: Und Ihre Eltern?

Martenstein: Mein Vater hat mit mir niemals über den Tod geredet. Er lebte, als ob es für ewig sei. Noch mit über 70 zog er nach Südafrika und baute ein Haus. Mit Ende 80 kam er nach einem Schwächanfall ins Krankenhaus, ein paar Tage später starb er.

Wi-Ro: Ist das nicht vorbildlich? Tatkräftig, dem Heute und Morgen zugewandt?

Martenstein: Eher fragwürdig: Wusste er, dass es mit ihm zu Ende geht? In unserem letzten Telefongespräch, zwei Tage bevor er einschlief, gab er es nicht zu erkennen. Und auch ich habe nichts gesagt, keine Abschiedworte oder so etwas. Was ging in ihm vor? Hatte er Angst? Ich weiß es nicht. In Wirklichkeit weiß ich gar nichts über den Tod... Ich habe also kein Rollenmodell, wenn es bei mir so weit ist.

Wi-Ro: Und Ihre Mutter?

Martenstein: Im Gegensatz zu meinem Vater, der alles gern positiv sah und die Gedanken an den Tod verdrängte, spricht meine Mutter ganz lässig über ihren Tod: "Wenn ich tot bin, hier findest du alle Unterlagen. Wenn ich tot bin, kannst du über dieses und jenes schreiben, auch über mich, ich muss es ja dann nicht mehr lesen."

Wi-Ro: Also doch ein passables Rollenmodell?

Martenstein: Vielleicht. Trotzdem werde ich die Angst nicht los. Nein, vielleicht ist "Angst" das falsche Wort. Es ist eher Trauer, um meine Welt, die zum Untergang verurteilt ist. Diese Trauer ist natürlich narzisstisch. Sie hat mit Eigenliebe zu tun.

Wi-Ro: Na und?

Martenstein: Ja, Eigenliebe ist vielleicht nicht wirklich verwerflich, man braucht ein bisschen was davon, behaupte icht. Wahrscheinlich macht sie uns empathiefähig. Wer keine Angst vor dem Tod hat, mag das Leben nicht sonderlich, auch nicht das Leben der anderen.

Wi-Ro: Lieber Harald Martenstein, ich danke Ihnen für dieses "Gespräch".