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Was (und wo) wären wir ohne Peter Sloterdijk?

oder: Die irrlichternde Botschaft von der Überflüssigkeit eines Erbes

(alle Sloterdijk-Zitate sind der Vorbemerkung bzw. dem Ausblick seiner aktuellen Buchpublikation entnommen: Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014)

Nur zögernd - so Peter Sloterdijk machten sich die aktuellen Kulturwissenschaften bewusst, dass sie sich mit Grundbegriffen wie "Generation, Filiation und Erbe" nicht mit dem gebotenen Ernst auseinandersetzten. Erblichkeit als solche erscheine "den Modernen" eher als Makel, gegen den es "Widerstandspunkte" zu entdecken gelte. MitGIFT scheint ihm der angemessene Begriff, mit dem man "die Versklavung durch biologische Determinierungen oder die Prägungen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie" zurückweise. Und in einer bemerkenswerten optimistischen Anwandlung weist Sloterdijk darauf hin, dass solche Versklavungen "durch das Herkommen zugleich positive Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten".

Für mein Empfinden und mit Blick auf die Bedrängnisse, denen Kinder und Enkelkinder der Nachkriegsgeneration sich (häufig) ausgesetzt sehen, überzeugt der Hinweis Peter Sloterdijks uneingeschränkt, wonach die "Säkularisation der Erbsünde" zwar das metaphysische Gift ("aus der Hexenküche des Augustinismus") neutralisiere, das Bewusstsein von den "Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldnerseins" allerdings auf neue Bahnen lenke: "Die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori hat zugleich den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen Bereich freigegeben."

Peter Sloteterdijk spricht an dieser Stelle explizit von "ambivalenten Erblichkeiten". Und ich erinnere mich zuerst und spontan der auf "Verankerung" ausgerichteten Suchbewegung Alexander Kluges, für die er Strategien der "Revitalisierung" empfiehlt: "Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern, in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass eir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen."

Damit ist der Blick auf eine gewisse Dimension "ambivalenter Erblichkeiten", wie sie sich mir mehr und mehr aufdrängen, freigegeben: Wir werden uns bewusst, dass wir den "Bauch des Monstrums" noch nicht verlassen haben. Bis in die Enkelgeneration derer, die Opfer und Täter der unmäßigsten Verdichtung von Zeit - bis hin zur ungeheuren Sogkraft "Schwarzer Löcher" (Alexander Kluge spricht Auschwitz an) - geworden sind, tobt sich die Ambivalenz eines Erbes aus, das viele glauben zurückweisen zu können, um seiner damit gleichemaßen ledig zu sein. Dagegen halten wir mit Peter Sloterdijk fest, dass auch "der von der Erbsünde emanzipierte Mensch" sich begreifen muss, "als das in Erbgeschichten verstrickte Wesen":

Die Tatsache, dass wir "in Erbgeschichten verstrickte Wesen" sind, speist diesen BLOG wie eine beharrlich sprudelnde Quelle. Nur ist im Kontext Sloterdijkscher Denkfiguren sogleich die Frage zu stellen, ob es denn lohnen kann, eine kleine sprudelnde Quelle einzufassen, um ihr Quellwasser in Flaschen abzufüllen und mit Etiketten zu versehen, hinter denen unsere kleinen Geschichten sichtbar werden. Denn mit Peter Sloterdijk müssen wir einräumen - und an anderer Stelle habe ich dies mit ähnlichen Worten bereits getan -, dass "die aktuelle Welt einem gigantischem Delta gleicht, in dem Ströme aus Strömungen ein Hyper-Labyrinth von Wasseradern mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten bilden... Alles fließt, indem es stagniert... Aufgrund des Übermaßes an Zuflüssen gerinnt der Ozean zu einer undurchdringlichen Mauer. Delta und Ozean sind ununterscheidbar geworden, Strom und stehendes Gewässer ein und dasselbe."

Und bezogen auf die Vieles, wenn nicht Alles beherrschende Inklusionsdebatte ein letztes Zitat aus Sloterdijks neuestem Buch: "Der Trend zur Inklusion von Exkludierten bezeichnet auch in Zukunft die Hauptrichtung der sozialen Evolution - er macht damit fortbestehende Exklusionen noch auffälliger als bisher. Weitere Inklusion bedeutet: Im Inneren der Rechts-, Anerkennungs- und Anspruchszone steigt der Druck. Von einer Halberfüllbarkeit zu nächsten stürzen die Reklamationslawinen zu Tal (S. 483)."

Die nächste mit Hilfe Sloterdijkscher Unterscheidungen gewonnene Eindeichung von "Unsagbaren" wird dann endlich auf die Irritationen von VERBOTEN im Startblog eingehen.