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Am Anfang war die Tat (1)

Ein Menschenleben – im kosmischen Zeithorizont nicht einmal der sichtbare Bruchteil einer Nanosekunde. Und doch machen wir uns Gedanken darüber, wie Menschen in dieses Leben hineinfinden, um irgendeines ungewissen Tages daraus wieder zu verschwinden. „Ich bin nicht tot - Ich tausche nur die Räume - Ich bin bei Euch – Ich geh durch Eure Träume“. Für Michelangelo mag das zutreffen, aber für mich, für meinen Bruder, meine Schwester, meinen Vater, meine Mutter, meine Frau und meine Kinder, meine Enkelkinder, die Familie im weitesten Sinne und all die, die schon zu Lebzeiten durch meine Träume geistern? Obwohl es sich eigentlich verbietet, gehen wir als Voyeure durch diese Welt; es verbietet sich nicht nur – es macht uns einsam; zu mörderischen Beobachtern unserer selbst und der anderen. Heute – Covid19 als Katalysator im Nacken – hocken wir vor unseren Laptops, Kindln und Mattscheiben. Dort regulieren wir unseren Gefühlshaushalt und versuchen zu verstehen, was mit uns los ist. So lassen wir uns die Welt erklären und sind froh, dass wir nicht verrückt werden. Die Verrückten unter uns hingegen werden der Gnade Gottes teilhaftig, wie George Steiner (Errata - Bilanz eines Lebens, Hanser - München 1999) meint. Diese Verrückten sind bereit ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie sind bereit sich selber und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen, die sich manchmal einschreiben in das Seelenpergament derer, die weder standhalten noch zu sich selber stehen.

Im Webmuster eines jeden Lebens, lässt sich ein roter Faden erkennen; manchmal dominiert er das Gewebe, zeitweise kann man ihn nur mit Hilfe einer Lupe verfolgen – ein dünnes Fädchen, das jeden Augenblick zerreißen kann. Das Geflecht wirkt streckenweise wie Flickwerk. Dann möchte man das dünne Fädchen wieder aufnehmen und es erneut verknüpfen im dynamischen Patchwork so vieler Fäden. Man bekommt eine Ahnung davon, dass ein Gewebe aus vielen Fäden besteht, miteinander verknüpft, manchmal verstrickt und verknotet. Hilflos versuchen wir – oft genug – die Knäuel zu entwirren, suchen unseren Faden und möchten von vorn beginnen. Der Schreiber dieser Zeilen hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass zum Webzeug zuweilen auch die Schere gehört. Ist man jung, dann träumt man vielleicht davon, dass sich zwei Fäden verknüpfen zu innig miteinander verwobenen Lebensläufen, die erst der Tod zu trennen vermag.

Schau ich zurück auf mein Leben, dann lässt sich nicht verleugnen, dass das Flickwerk einer Schülerliebe in den Frühjahrstagen des Jahres 1979 endgültig in den Schredder geriet. Und der Schreiber meinte sich nicht um das löchrige und mottenzerfressene, ihm viel zu eng gewordene, gemeinsame Kleid scheren zu müssen. Dass er dabei das selbst entworfene Strickmuster verleugnete, war nicht zu übersehen. Er vertraute jetzt einer aufkommenden frischen Brise, die ihm die Segel mächtig blähte und weigerte sich umzukehren und gegen den Wind zu kreuzen. Er wollte sein Leben zurück – ganz! Die alte Liebe – das einst ersehnte ungewählte Band – landete ja nur deshalb im Schredder, weil es galt zwei füreinander eklatant ungeeignete Individuen vor sich selbst zu schützen. Und er hätte damals George Steiner (noch) widersprochen, wenn der ihm gesagt hätte, dass Sexualität bei alledem nebensächlich, vorübergehend sein oder sogar völlig fehlen könne; einer wie Steiner konnte da gut reden – als alter Mann. Der Schreiber dieser Zeilen war dagegen seinerzeit einfach zu jung. Ein Leben muss halt erst einmal gelebt werden, um einen Blick auf die Hinterbühne werfen zu können; eine Hinterbühne, die mit allen Registern – nicht nur der Biologie – dafür sorgt, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe – wie der alte Steiner sagt – in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und in die Seelen zaubert.

An einem trüben Märztag des Jahres 1979 – gegen 21 Uhr – setzte sich der Schreiber also in seine Traurige Lösung, so nannte man seinerzeit die zweitürige Fließheckvariante von VW (1500 TL). Noch in den siebziger Jahren war ihm seine Herkunftsfamilie ein sicherer Fluchtort. Ähnlich wie sein Vater, der als knapp 18jähriger 1941 zum Reichsarbeitsdienst und anschließend in die Wehrmacht einrücken musste, sehnte er sich nach Hause, wenn die Welt da draußen sich sperrig und feindlich zeigte. Hatte er Landskrone und Neuenahrer Berg mehrere Wochen nicht gesehen, rührte sich das Heimweh, wo andere das Fernweh in die Welt lockte. Die vergangenen Tage in seinem Dachzimmer – im geschützten Raum seiner Kindheit und Jugend – hatten in keiner Weise für eine Klärung seiner chaotischen Stimmungslage gesorgt. Ganz im Gegenteil drängten sich all die Bilder übermächtig wieder in sein Bewusstsein, die 1974 mit dem Aufbruch nach Koblenz verbunden waren. Zu sechst ging der Weg seinerzeit nach dem Abitur in die größte Garnisonsstadt Deutschlands – dorthin, wo niemand wirklich hinwollte. Die Universität zu Bonn hatte er sich erwählt als ehrwürdige Alma Mater - Germanistik und Philosophie waren die Fächer seiner Wahl. Wäre er seiner Wege gegangen seinerzeit, gänzlich andere Geschichten wären hier zu erzählen. Und die Lebensläufe so vieler Menschen hätten so gänzlich andere Wege genommen.

Am Abend des besagten trüben Märztages machte sich der Schreiber also auf den Weg und fuhr jene ihm vertraute Strecke ahrabwärts und dann rheinaufwärts Richtung Koblenz. Dass er sich entlang der historischen, mittelalterlichen Hauptverkehrsachse bewegte, die über 1000 Jahre lang  Frankfurt mit Aachen verband – 600 Jahre war Aachen Krönungsstadt – erinnerte ihn daran, dass viele der in Aachen zu krönenden Könige auf genau dieser Passage gereist waren. Der Weg diente zugleich als Heerstraße, Pilgerweg und gehörte auf diese Weise lange zu einer bedeutenden Handelsroute zwischen Italien und Flandern. Die ersten Kilometer, vorbei am Apollinarisbrunnen, durch Heppingen an Heimersheim und Lohrsdorf vorbei in Richtung Sinzig, gehörten allerdings nicht zur alten, historisch verbürgten Heerstraße, die von Bodendorf aus über die Grafschaft Richtung Aachen führte. Dort, wo sich nach einer scharfen Linkskurve das Ahrtal endgültig öffnet und den Blick auf Bodendorf und die Goldene Meile freigibt, überkam ihn seit Kindestagen regelmäßig eine merkwürdige bis unheimliche Anmutung. Dort in dieser scharfen Linkskurve war 1962 ein Freund seines Vaters bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ein bekannter Neuenahrer Taxiunternehmer, der wenige Wochen zuvor ihn selbst, seinen Bruder und seine Mutter nach Flammersfeld im Westerwald gefahren hatte. Nach einwöchigem Aufenthalt, dort, an einem Ort, der – jenseits einer aufmerksamen oder auch nur gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung – immer schon eine bedeutsame Rolle im Leben seiner Mutter und letztlich der Familie gespielt hatte, holte W.T. in Begleitung des Vaters die Mutter und die beiden Söhne ab, um weiterzufahren nach Frankfurt zu einem Besuch des Frankfurter Zoos – dem Zoo Bernhard Grzimeks. Damals fuhren sie in einem historischen Dreieck zuerst über die alte Heerstraße, dann über die Neuwieder Rheinbrücke über die Raiffeisenstraße durch den Westerwald und den Taunus nach Frankfurt, um auf dem Rückweg die Bäderstraße entlang zu fahren über Wiesbaden bis nach Lahnstein/Koblenz. Der Unfalltod des W.T. hatte sich eingebrannt in die kindliche Erinnerung. Er hatte einen Sohn im Alter seines Bruders, und er hatte vor allem eine außerordentlich humorvolle, tröstende und geduldige Haltung offenbart gegenüber seinen gleichermaßen peinlichen wie unabwendbaren Übelkeitsattacken auf den kurvenreichen Strecken durch Westerwald und Taunus.

Es kam dem Schreiber merkwürdig vor, wie sich verschwommene Eindrücke überlagerten, die ihn immer wieder erinnerten an das singuläre Ereignis Flammersfeld und die über fast ein Jahr täglich erfolgte Bahnfahrt von Bad Neuenahr nach Remagen, um dort umzusteigen und den Zielbahnhof Bonn anzusteuern. Nach der achtjährigen Volksschule war er seiner Cousine 1965 gefolgt und hatte nahezu ein Jahr verschenkt durch den Besuch einer privaten Handelsschule – obwohl: Wenn er sich jetzt so beobachtete, wie die Finger seiner beiden Hände über die Tastatur flogen, dann hatte er dort doch ein beträchtliches Kapital angehäuft, das ihm in Zeiten des Studiums immer wieder zu einem bescheidenen Zubrot verhalf und ihm vor allem immer wieder ermöglichte – fast in Echtzeit – seine Gedanken in mehr oder weniger sinnvollen Buchstabenfolgen – verdichtet zu Wörtern und Sätzen – auf den Bildschirm zu bannen. Aber das war lange nicht alles, was sich sozusagen an einem offenkundigen Wendepunkt seines jungen Lebens, der sich nur in Gestalt einer verschwommen Ahnung andeutete, beim langsamen Befahren der B266 kurz vor der Auffahrt zur B9 bei Sinzig an wirren Eindrücken in sein Bewusstsein drängte.

Er hatte es nicht eilig, obwohl er seine Ankunft in der Löhrstraße in Koblenz kaum erwarten konnte. Diese merkwürdige, paradox anmutende Spannung begleitete ihn schon seit Tagen und Wochen. Sie drängte nach Auflösung und Spannungsabfuhr, typisch für einen Zustand, in dem das Alte nicht sterben kann und die Geburtswehen des Neuen sich immer drängender in den Vordergrund schieben. Auf der unterdessen vierspurig ausgebauten B9 konnte er sich bedenkenlos zurücknehmen. Dass ihn fast alle anderen Verkehrsteilnehmer überholten, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu der gewaltigen Kraft, die ihn vorwärtstrieb. Er kannte diesen Widerspruch aus seinem inzwischen zu einer absoluten Marotte ritualisierten Erleben der Adventszeit. So dehnte er die sich nach und nach aufbauende Erwartung bis hin zum 24. Dezember, dem Heiligen Abend, bis zum allerletzten Augenblick, in dem sich ein gleichermaßen einsames wie genüssliches Ausleben dieser Spannung in einem überaus kostbaren wie flüchtigen familiären Fluidum aufzulösen begann. Und die Zeit zwischen den Jahren – zwischen Weihnachten und Neujahr – glich einer Insel im Meer der Zeit, einem Zustand ex tempore.

Das lag nun schon für das Jahr 1978 viele Wochen hinter ihm; Wochen in denen sich für sein Leben – da blieb kein Raum für Zweifel – eine massive Wende ankündigte. Und wenn sich sein Leben wenden würde – auch da war er inzwischen alt und erfahren genug – bedeutete das für die Menschen, mit denen er verbunden war, gleichermaßen eine Wende. Während sich allerdings die vorwärtstreibende Kraft dieses Wandels für ihn mit einem Aufbruch verband, gerieten die Turbulenzen, die er auslöste, für sein bisheriges Gegenüber zu einem reißenden Strom, hinein in die Bodenlosigkeit.

Auch nach zweiundvierzig Jahren haben die Ereignisse des Frühjahres 1979 immer noch den Geschmack des harten Brotes dieser Tage. Geht man selbstgerecht mit allen Widrigkeiten und Verstrickungen um – wie es seiner anfänglichen Haltung entsprach –, dann findet sich im hintersten Winkel des Rucksacks dennoch und immer wieder eine Krume dieses Brotes. Man muss sie gemeinsam noch einmal hervorholen, um sie zu zerbröseln und dem Wind zu übergeben. Das Abwesende müsse präsent gemacht werden, weil der größere Teil der Wahrheit in dem steckt, was abwesend ist – so sagen die einen!?

Wenn nur einer darauf besteht, füreinander eklatant ungeeignet zu sein, muss er sich losreißen, wo der andere festhält. Gerät das Festhalten zum wimmernden Klammern, gerät das Klammern zu einer erbarmungswürdigen Selbsterniedrigung und vermag der andere dem nichts entgegenzusetzen als eine vollkommen erloschene Glut, ein Häuflein Asche als Erinnerung an den innigen Aufbruch, dann sind die Wunden tief und wollen lange nicht heilen. Die Bitterkeit dieser heillosen Lähmung gewann ihre Tiefe und ihren galligen Geschmack aus einer fatalen Umkehrung der Rollenverteilung. Sieben Jahre zuvor wollte sich der nun Flüchtige mit fortgesetzter Zurückweisung nicht abfinden. Hätte er doch nur damals aufgegeben – kam ihm nun immer wieder in den Sinn. Die Hypotheken, die er sich jetzt auflud, wogen umso schwerer und würden ihn eine lange Wegstrecke begleiten.

(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz?  Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)

Er versuchte solchen gedanklichen Attacken zu entkommen und näherte sich der Hochbrücke bei Andernach. Sein Fahrtempo entsprach nun der verordneten Geschwindigkeitsbegrenzung, und er kam sich selbst wie eine Schnecke vor, die mühsam über einen Kilometer aufwärts kroch – weg von der Talsohle auf die Höhe. Nach wenigen Minuten öffnete sich der Horizont und gab den Blick frei auf das Neuwieder Becken, vor allem auf den fertiggestellten Kühlturm des AKW Mühlheim-Kärlich, der wie eine riesige Blumenvase die Horizontale dominierte – das Menetekel eines historischen Irrwegs. Die verdrängte alte Welt sollte endlich einer Erwartung weichen, die sich allerdings nicht nur wegen der mühsam abgeschatteten Bedrängnisse keineswegs als gänzlich ungetrübt erwies.

Claudia wohnte damals – als Einzelkind auf der Flucht vor häuslicher und familiärer Enge – gemeinsam mit ihrer Freundin Gabi in einer 2ZKB-Wohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße. In der besonderen Weltwahrnehmung des Schreibers dieser Zeilen war die platonische Vorstellung von den zwei Hälften, die auf der ewigen Suche nacheinander sind, tief verankert. Die erste gewaltige Welle einer Destruktion dieser kindlichen Vorstellung rollte soeben wie ein Tsunami über seine heillosen Versuche einer ersten solchen Verirrung zu entkommen; nicht etwa um sein Weltbild zu korrigieren und einem wie auch immer begründeten Realitätsprinzip stärkere Geltung einzuräumen. Seit Monaten – eigentlich seit dem ersten Erscheinen auf der kleinen Bühne der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule – vernebelte ihm Claudia jeden Schritt in eine halbwegs von Liebesblödigkeit ungetrübte Weltsicht. Er blieb dem Steinerschen Verdikt tief verhaftet, dass der Satz wahr ist, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Die Ereignisse jener Märztage 1979 bildeten den grandiosen Auftakt dafür, dass hartes Brot für viele Jahrzehnte sein Leben begleitete; ein Auftakt, der auf so unfassbare Weise die Steinersche Weltsicht bekräftigen sollte, und der gewiss ohne die vielfältigen Einflüsterungen, die ihn begleiteten, wohl niemals jenen verrückten und aberwitzigen Verlauf genommen hätte.

Gegen 22 Uhr an jenem trüben Märztag lenkte der Schreiber sein Auto vom Friedrich-Ebert-Ring kommend rechts in die Obere Löhrstraße. Um diese Zeit war dieser Straßenabschnitt immer noch recht belebt, da die Spätvorstellungen in den Kinos liefen und die Restaurants gut besucht waren. Keine einzige freie Parknische bot sich an. Er musste in die Schleife rund ums Carré – Richtung Bahnhof, dann abbiegend in die Roonstraße, um über die Bahnhofsstraße und den Friedrich-Ebert-Ring erneut die Obere Löhr anzusteuern. Unmittelbar vor der Metzgerei Waldrich fand er unverhofft eine Parklücke und versuchte sich zu sortieren. Wie unendlich weit weg ist die Vorstellung heute, dass man nicht  j e d e r z e i t  per Handy seinen Standort, sein Kommen – auch sein Begehren, seine Sehnsucht, seine Verzweiflung, sein  D a s e i n  signalisieren konnte: Ich bin hier – wo bist Du?

Er stieg aus, sammelte sich, ging zur Haustüre, klingelte und wartete und klingelte erneut – und wartete. Es war kühl, er war nervös. Die Haustür war verschlossen und auch wiederholtes Klingeln – Sturmklingeln änderte daran nichts. Aber die Verabredung für den heutigen Abend war unmissverständlich beidseitig – abgesprochen in großer Vorfreude. Er hatte kalte Füße, ihn fröstelte zutiefst. War das alles ein Irrtum? Hatte Claudia noch kältere Füße bekommen, war sie vielleicht gar nicht zu Hause, oder verleugnete schlicht ihre Anwesenheit?

Die beiden kannten sich nicht. Die Lawine, in deren anschwellender Dynamik er sich jetzt wiederfand, hatte er selbst mit einer Einladung Claudias und ihrer Freundin Iris zur großen Sylvester-Fete zweier befreundeter Wohngemeinschaften losgetreten. Allein diese Einladung war schon ein absolutes Alarmsignal und bedeutete für E. – seine Lebensgefährtin – einen klaren Affront, hatte er dies doch bewusst und gänzlich ohne Rücksichtnahme auf noch bestehende Beziehungsverhältnisse verfügt. Im Winterchaos des Jahreswechsels 1978/79 kam es dann auch folgerichtig zur Verabredung auf einen Kaffee bei Claudia. Deren Wohnung war ihm sogar schon bekannt. Einmal hatte er sie und eine Freundin aus der Vorhölle, der Studentenkneipe auf dem Oberwerth, mit in die Stadt genommen und war noch auf ein Bier mit in die Löhrstraße gefahren. Und Gabi – Claudias Mitbewohnerin – hatte ihn zur gemeinsamen Einweihungsfete eingeladen. Das erste wirkliche und erklärte Antichambrieren, das unmissverständlich Claudia galt, war erst wenige Wochen her und hatte zur heutigen Verabredung geführt. Ganz und gar merkwürdig und für ihn vollkommen ungewohnt hatte er sich bei diesem Antichambrieren für fast eine Stunde zwischengeparkt gefühlt. Gabi, die Mitbewohnerin Claudias, die er schon länger kannte, hatte ihn an der Wohnungstüre empfangen und mit dem Hinweis in ihr Zimmer gelenkt, Claudia wäre noch im Gespräch mit einem Berater der Krankenversicherung. Er erinnerte sich an ein durchaus kurzweiliges Intermezzo bei Kaffee und verspätetem Weihnachtsgebäck. Jahre später sollte er erfahren, dass er tatsächlich in eine Warteschleife geschickt wurde, weil Claudia sich erst noch von einem Gast verabschieden musste, der ihm – und dem er – nicht begegnen sollte. Claudia war angeblich ohnehin lange der Meinung, er sei doch viel mehr an ihrer Mitbewohnerin interessiert und hatte schlicht mehrere Eisen im Feuer. Dass sie Feuer hatte, hatte sich ihm im Übrigen auf dieser Einweihungsfete extrem ins Gedächtnis eingeschrieben. Er war zu früh und bekam ein Telefongespräch zwischen Claudia und ihrem Vater mit – nie hatte er telefonisch ein solch gewitterträchtiges Funkenschlagen erlebt. Auf dem Höhepunkt dieser Fete kam es dann zu einem Eklat, weil wiederum R. sich eine kräftige Ohrfeige einfing. Irgendwie musste es mit der Tatsache zusammenhängen, dass er Claudias letzter fester Freund war, der sich noch darin zu üben hatte, den aktuellen Status quo zu realisieren.

All dies und noch viel mehr ging ihm durch den Kopf. Er stand vor verschlossener Haustüre wie ein begossener Pudel. Die Vorstellung, dass Claudia tatsächlich kalte Füße bekommen hatte, gab ihm mehr und mehr Sinn. Er hätte sich selbst nicht einen Millimeter über den Weg getraut; was sollte Claudia veranlassen Nähe zuzulassen, gar zu suchen – zu ihm??? War er doch nichts anderes als einer dieser typischen treulosen, orientierungsschwachen jungen Männer, die ihr reihenweise begegneten und den Hof machten! Den Hof machen?

Erst einmal wechselte er die Straßenseite. Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss und präsentierte sich zur Straßenseite hin mit zwei großen Fenstern, jeweils – in Ermangelung von Rollläden – mit schweren Stoffvorhängen abgedunkelt. Trotz dieser, keinerlei Einsicht gewährenden, blickdichten Vorhänge hatte er den Eindruck einen Unterschied auszumachen, so dass sich in ihm die Wahrnehmung breit machte, in Claudias Zimmer müsse eine Lichtquelle für einen sanften Unterschied sorgen – vielleicht Kerzenlicht? Die Gedankenorgel kam nun so richtig in Fahrt und die unteren Register bliesen ihm entgegen: „Das geschieht Dir Recht, mitten im Schlamassel eines ungeklärten Beziehungsdesasters, der alten Enge noch nicht wirklich entwachsen, zeigt Dir jemand deine Grenze; Claudia hatte ganz einfach diese Verabredung vergessen, oder ignorierte sie schlicht, beherbergte möglicherweise einen Gast (vielleicht jenen Gast, dem er seinerzeit schon nicht begegnen sollte) und schickte ihn dorthin zurück, wo er hergekommen war. Ja, wo kam er denn eigentlich her?

Er wollte weg! Er hatte das Gefühl, seine Seele verkauft zu haben und wollte sein Leben zurück. Die Welt und das Herz war ihm eng; seit Jahren hatte er das Gefühl in dieser Enge zu ersticken. Der gemeinsame Weg von Bad Neuenahr nach Koblenz war unzweifelhaft ein Irrweg. Diese Einsicht hatte sich bereits nach wenigen Wochen des ersten gemeinsamen Wohnens in der ersten gemeinsamen Wohnung offenbart: Wo gehst du hin? Wo kommst du her? Wann kommst du zurück? Mit wem triffst du dich? Muss das denn schon wieder sein? Er hatte sich bereits zu Schulzeiten politisch interessiert und engagiert. Schon im November schloss er sich der GEW-Hochschulgruppe an. Der Weg mit den anderen Neuenahrern in eine Wohngemeinschaft führte 1976 zu einer vordergründigen Beruhigung und verdeckte viele Konflikte. Wie lernt man eigentlich Partnerschaft – wie gelangt man aus einer romantischen Liebesbeziehung in eine liebevolle, verantwortliche Partnerschaft, ohne sich gänzlich zu verlieren? Es war nur eine dumpfe Ahnung, dass einem die Welt gänzlich zum Nagel gerät, wenn man kein anderes Werkzeug zur Hand hat als einen Hammer.

Dass die erste Liebe auch die einzige bleibt, das soll vorkommen. Nach einem langen Leben nimmt man dies ungläubig zur Kenntnis und weiß es in der Regel besser. Aber er wusste es nicht wirklich besser. Und er wollte Claudia den Hof machen – den  H O F!!! In der der Gefahr wächst das Rettende auch! Das Rettende? Die Häuser der oberen Löhrstraße hatten dort ihre Hauptzugänge mit Eingangstüre und Klingel. Sie waren aber gleichermaßen über die Bahnhofstraße begeh- und vor allem befahrbar; die Warenanlieferung erfolgte über die Hinterhöfe und selbstredend gab es einen Hinterhofzugang, der in der Regel unverschlossen war. So bewegte sich der Schreiber auf kürzestem Weg um den Block und betrat das Grundstück über den Hinterhof. Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Er stieg die 18 Stufen bis zum ersten Treppenabsatz hinauf und versuchte es erneut: Klingeln – Klopfen – Klingeln – Klopfen! Zwischen Ernüchterung, Wut und Verzweiflung stellte sich die Frage: Was tun??? Den Schwanz einkneifen und den Rückzug antreten!? Dafür war er nicht hier, und dafür war er nicht gemacht – weiß Gott, danach stand ihm nicht der Sinn. Spontan brach sich die ihm eigene Sturheit, gepaart mit einer dumpfen Liebesblödigkeit Bahn. Lange vor Gerhard Schröder spürte er, wie sich alles Sehnen, alle Energie, aller Eigensinn begann zu fokussieren auf ein zentrales Ziel: Ich will hier rein – ich muss hier rein, jetzt und heute – unverzüglich! (hätte Schabowski gesagt). Und jener Steiner hätte nun beobachtet, dass sich Gott seiner erbarmte mit der Halluzination eines Lichts nicht von dieser Welt.

Er erlebte die folgenden Minuten in einer ähnlichen Entrückung. Und dennoch begann er mit kühlem Kopf die Gesamtlage zu sondieren: Das Treppenhaus verfügte unterhalb jedes Treppenabsatzes – jeweils etwa von der dritten Stufe treppab aus zu öffnen – über schmale Fensterluken, die auf einen Lichtschacht hin ausgerichtet waren. Öffnete man die Luke und kletterte auf die Fensterbank, erblickte man – schräg nach oben versetzt – das Fenster zum Badezimmer der Einlass verweigernden Wohnung von Claudia und Gabi. Unterhalb befand sich ein Glasdach, das den Lieferanteneingang zur Metzgerei vor Regen schützte. Das Badezimmerfenster verfügte über eine solide Fensterbank mit einer Tropfkante. Etwa einen Meter unterhalb dieser Fensterbank verlief in der Horizontale ein ca. zwei Zentimeter breiter Absatz in Art einer Putzkante. Gelang es in einem flüssigen Bewegungsablauf Fuß zu fassen auf diesem Absatz und gleichzeitig Halt zu finden an der Fensterbank, um sodann unverzüglich das Fenster aufzustoßen – sollte es nicht verriegelt sein –, oder aber im Falle der Verriegelung mit einem einzigen gezielten Ellbogenstoß die Fensterscheibe zu demolieren, hätte man die Chance, Einlass zu finden. Das Treppenhaus lag ruhig und verlassen, kein menschliches Wesen ließ sich blicken oder vernehmen. Er war alleine und unbeobachtet. Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Das worst-case-szenario würde  mit einem Absturz in das etwa zwei Meter unterhalb aufgespannte Glasdach enden. Dabei würde er sich aller Voraussicht nach nicht das Genick brechen, aber einen Höllenlärm verursachen und Gott und die Welt – und ganz sicher die Polizei – auf den Plan rufen.

Der Schreiber dieser Zeilen war in jenen Jahren ein durchtrainiertes Leichtgewicht, das bei 187 cm Körperlänge etwa 74 Kilogramm Lebendgewicht auf die Waage brachte; als Bezirksschulmeister im Hochsprung hatte er 1972 seine eigene Körperlänge übersprungen. Er trug eine Lederjacke und Boots mit einer recht steifen Besohlung. Was sich nun zutrug, stand möglicherweise unter göttlichem Segen, und sollte er hier bis heute einer Wahnvorstellung aufsitzen, so hatte er ganz unzweifelhaft eine andere Schutzmacht auf seiner Seite. Er wog die Chancen mehrmals ab, taxierte die Entfernungen und war schließlich fest entschlossen. Bei der worst-case-Erwägung kamen ihm seine Eltern in den Sinn; Vater und Mutter hatten immer blindes Vertrauen gezeigt, auch in wendepunktträchtige Entscheidungen, wie seinerzeit bei der eigenmächtigen Durchsetzung des Wechsels von der Privaten Handelsschule zum Are-Gymnasium in Bad Neuenahr. Ein letztes Zögern verbat sich nun allein schon aus den Einflüsterungen, die er – bei der Ehre seiner Mutter – überdeutlich vernahm. Er sah vor allem die Mutter, die ihn ermunterte und ihm die Sicherheit vermittelte das Richtige zu tun. Alle Erwägungen, ob dies nun Recht sei oder sittsam, spielten überhaupt keine Rolle. Sein Handeln stand einzig unter dem Steinerschen Verdikt, wonach die Liebe in wechselnder Intensität das gebieterische Wunder des Irrationalen in die Welt und die Seelen zaubert. Zugegebenermaßen war sein Vorhaben nicht nur irrational, sondern zweifelsfrei idiotisch, wenn nicht selbstmörderisch. Erst zwanzig Jahre später sollte er vollends begreifen, warum gerade die Mutter die Patenschaft für seinen aberwitzigen Husarenritt übernommen hatte.

Er vergewisserte sich, ob das Umfeld weiterhin ruhig blieb, stieg auf die Fensterbank der Luke zum Lichthof, taxierte noch einmal genau Abstände und Sachverhalte, den zu erreichenden Absatz und die Griffigkeit der Fensterbank – die schien aus geriffeltem Basalt zu bestehen. Dann atmete er tief durch, machte einen weiten Ausfallschritt, kam unterhalb des Badezimmerfensters zu stehen, versuchte gleichzeitig mit den Fingern der rechten Hand die ausgefräste Führung der Tropfkante zu greifen, während der Daumen im Verein mit den Fingern wie eine Zwinge die Fensterbank von oben klammerte. Dies gelang innerhalb weniger Sekunden. Und es blieben nur wenige Sekunden, sich klammernd auszubalancieren und in einem finalen Rettungsakt das Fenster aufzustoßen. Es verschwimmt zwischen akuter Panikattacke und einer verzweifelten Willensanstrengung zuerst realisieren zu müssen, dass das Fenster verriegelt war, um dann mit letzter Kraftanstrengung den linken Ellenbogen in die Fensterscheibe zu rammen, die splitternd und klirrend zerbrach (die Vorstellung jenes Badezimmerfenster hätte seinerzeit bereits über eine einbruchsichere Doppel- oder Dreifachverglasung verfügt, wirkt heute noch schweißtreibend). Der endokrine finale Mix aus Adrenalin und Testosteron hatte inzwischen jede abgeklärte, eiskalte Haltung in einen Zustand innerer Wallung verwandelt, so dass sich die nächsten Schritte wie in Trance vollzogen. Er fand sich inmitten des kleinen Badezimmers wieder. Der Einbruch selbst hatte sicherlich nicht mehr als eine gute Minute gedauert. Dass dieser Gewaltakt eine unüberhörbare Lautkulisse erzeugt hatte, brachte ihn sekündlich in die reale Welt zurück. Zu seiner Verblüffung blieb alles totenstill, in der Wohnung genauso wie im gesamten Haus. Nun half es nicht mehr Beistand bei Vater, Mutter und allen Schutzheiligen zu suchen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte er sich in einen irren Hasardeur, der glauben musste einen lupenreinen Grand auf der Hand zu haben. Aber das hier war keine Skatrunde, und urplötzlich stand die Frage im Raum, ob er sich nicht maßlos überreizt und verzockt hatte? Warum rührte sich nach dem Zersplittern des Fensters immer noch nichts. Dass Gabi nicht zu Hause war, war von Anbeginn seiner Bemühungen klar, aber was war – verdammt noch mal – mit Claudia?

Er schaltete das Licht ein und setzte sich auf den Badewannenrand, sah, dass er an der Hand blutete, stand auf und wusch sich das Blut ab. Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und blickte in das Gesicht eines… ja, in wessen Gesicht blickte er da? Eines irren, liebesblöden Einbrechers, der sich jetzt den Konsequenzen seines Handelns stellen musste!? Die nächsten Minuten würden darüber entscheiden, ob hier eine Heldengeschichte geschrieben wurde, oder ob ein betrogener Betrüger sein Waterloo erfuhr. Immerhin so viel lässt sich sagen, dass Claudia während der vergangenen Stunde, in der jemand alle Zustände des Verrücktseins durchlebte, Leib und Leben riskierte, straffällig wurde und alle mehr als berechtigten Selbstzweifel halluzinativ und endokrinologisch in Schach hielt und dabei das Vermögen entfaltete, dem Schacht zu entgehen, in aller Seelenruhe in ihrem Bett lag und schlief – fahrlässig zumal, weil sie einer Kerze erlaubte ein schütteres Licht auf ihre weltentrückte Schönheit zu werfen.

Und der Schreiber war gut beraten, 42 Jahre und 5 Minuten Abstand zwischen sich und den geschilderten Ereignissen wachsen zu lassen. So kommt er heute endlich in Augenhöhe mit Steiner, der vor gut zwanzig Jahren – damals just im Alter des Schreibers – glaubte behaupten zu können, dass erstens die gefeierte Pascalsche Maxime, wonach das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, einiges für sich hat, und dass sich zweitens damit die Schlussfolgerung ziehen lasse, dass all dies für die jeweils Handelnden Sinn mache – und zwar jenseits aller Vernunft, jenseits von Gut und Böse und sogar jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt sei. Die hier geschilderten Ereignisse aus jenen trüben Märzstunden im Frühjahr 1979 befüllen jedenfalls eine bis heute nicht versiegende Sinnquelle.

Über den Sinn, den diese Ereignisse für das begehrte Gegenüber, jene einzigartige schlaftrunkene und weltentrückte Schönheit hatten, mag der Schreiber nicht wirklich spekulieren. Dass uns in wenigen Monaten die Rubinhochzeit (40 Jahre) winkt und die Glocken läuten für ein erhofftes fürsorgliches Finale mag als Antwort überzeugen. Und wenn Pascal sagt, dass das Herz seine Gründe hat, welche der Verstand nicht kennt, so würde Pascal sich heute die Augen reiben: Denn das Herz triumphierte in den Märztagen des Frühjahrs 1979 – und man hört es heute noch pochen; und so wie das Herz den Verstand belebt, so gibt der Verstand dem Herzen heute so viele Gründe, an denen es sich erbauen kann. Allein aus diesen Gründen lohnt es den Geschichten nachzugehen, die der Schreiber hier festhalten möchte – auch für die Nachwelt