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In "Kopfschmerzen und Herzflimmern - Talk im Café Hahn" habe ich eine Reihe von "Experten" miteinander "ins Gespräch gebracht". Roland Barthes, Niklas Luhmann, Peter Fuchs und viele andere entwickeln einen höchst interessanten Diskurs über Liebe, Sex und solche Sachen:

Das alte Café Hahn - auf dem Sprung

Das im Folgenden wiedergegebene Interview mit Sabine Hampel für LANDESART hat im Jahre 2002 stattgefunden, vor dem Umbau des Cafe´ Hahn. Amüsant ist der Hinweis auf ca. 750 Mitglieder des Fördervereins und die Tatsache, „dass wir noch wachsen“. Die Mitgliederzahl hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht; aktuell sind wir bei ca. 2500 Mitgliedern. Das Café Hahn und sein Förderverein unterhalten eine erfolgreiche – quasi symbiotische Beziehung – zu beiderseitigem Nutzen. Beim Anschauen ist mir auf sentimentale Weise bewusst geworden, dass die Bilder zu den Anfängen des Café Hahn neben Günther Ratzke auch Dieter Lippert zeigen, der leider schon 2010 verstorben ist. Spannend auch der Verweis Sabine Hampels auf "unentdeckte Jungtalente" mit der Einblendung von Anke Engelke an der Seite ihrer Schwester. In der Band von Anke Engelke - seinerzeit im Café Hahn - ist auch noch Bernd Rosemeier zu sehen, leider auch viel zu früh verstorben.

Das Café Hahn als Bühne

Adrian und Jupp

Die meisten von Euch wissen nicht, dass ich das Cafe Hahn in meinem Buch "Kopfschmerzen und Herflimmern - Talk im Hahn über Liebe, Sex und solche Sachen" zum Ort einer szenischen Aufführung gemacht habe. Ich versammle dort lauter "Theoretiker" (Soziologen, Therapeuten, Journalisten, Literaten) und lasse sie miteinander - und jeder für sich - über das breite Themenfeld "Liebe, Sex und solche Sachen" räsonieren und diskutieren (hier hat auch - auf Seite 83 - unser Freund Gerd Wayand einen seiner letzten Auftritte).

Mein Alter Ego, Adrian (im Foto rechts), hat die Rolle des Moderators und Interviewers übernommen und lotet mit Roland Barthes, Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Arnold Retzer, David Schnarch, Wolfgang Schmidbauer, Michael Mary, Julia Onken und Susanne Gaschke theoretische und praktische Aspekte des Liebesthemas aus. Unter dem Menülink "Liebe, Sex und solche Sachen" könnt ihr euch in Kürze den Diskurs im Einzelnen und auch die jeweiligen Interviews herunterladen. Im Gesamtzusammenhang sind sie über den obigen Link "Kopfschmerzen und Herzflimmern..." verfügbar.

Das ist eine Festschrift zu meinem 50sten Geburtstag. Ich hab sie selbst verfasst. Viel Spaß. Meine Weggefährten aus früheren Tagen haben jetzt endlich auch eine farbechte Version meiner und ihrer Geschichten.

Selbstversuche

Abstrakte wissenschaftsorientierte Herangehensweisen an biografische Fragen schaffen Distanz zur ausschließlich subjektiv gefärbten und motivierten Erzählform. Spannend hingegen ist der Versuch, diese Theorieangebote zur (Re-)Konstruktion von Biografie zu nutzen - so die Überlegungen Niklas Luhmanns zum Lebenslauf oder die Thesen Ulrich Becks zu dem, was unter "eigenem Leben" versteht.

Ulrich Becks Theoriebausteine „eigenen Lebens“

Ulrich Beck – Ulf Erdmann Ziegeler: eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1997

Wer sich mit der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns auseinandersetzt, stößt unmittelbar auf die grundlegende Unterscheidung von System und Umwelt und die meistenteils mit Unverständnis aufgenommene Platzierung des Menschen in der Umwelt von Gesellschaft. Hier wird nur Bezug genommen, auf die damit verbundene, nüchterne Feststellung, dass soziale Systeme sich ausschließlich über Kommunika-tionen (Kommunikationen, die an Kommunikationen, die an Kommunikationen... anschließen) reproduzieren, während Menschen als bewusstseinsbasierte oder psychische Systeme ausschließlich im Modus von Gedanken, die an Gedanken, die an Gedanken... anschließen, operieren. Beide Systeme sind gegeneinander abgeschlossen und Luhmann hat den Begriff der „strukturellen Koppelung“ von Maturana übernommen oder greift auf den Begriff der „Interpenetration“ zurück, um registrieren zu können, dass psychische und soziale Systeme Formen des Austauschs kreieren.

Nichts anderes geschieht im Folgenden, wenn ich mich selbst anregen lasse durch die Unterscheidungen Ulrich Becks, der sich im Hinblick auf die Reflexion der Selbstgestaltungsversuche von Menschen in der Gegenwartsgesellschaft auf eine Reihe von Kategorien stützt. Der „Dignität der (Lebens)Praxis“ (Schleiermacher) gegenüber, die immer auch wildeste Exzesse, Höhenflüge und Tunnelerfahrungen, aber auch alltägliche Routine und Langeweile umschließt, injiziert man ein Gerinnungsmittel in Form von Kategorien, die zumindest den Versuch offerieren, sich zu dem, was man als Lebenspraxis empfindet, immer wieder auch reflexiv zu positionieren. In dem Augenblick, wo ich dies vollziehe auf der Grundlage von „wissenschaftlich-publizistisch“ angebotenen Begriffen und dies auch noch anderen Menschen zur Lektüre anbiete, beteilige ich mich an jenem gesellschaftlichen Diskurs, der dieses unablässige Rauschen produziert, aus dem die Wahrnehmungsseismographen von Mitmenschen Sinn filtern. Chaotischer Diskurs ohne geregelte Anschlüsse entsteht allerdings erst dann, wenn andere (möglicherweise Du, der du jetzt dich dieser Lesezumutung aussetzt) meine an Ulrich Beck anschließenden Reflexionen zur Kenntnis nehmen.

Beck hält „eigenes Leben“ – zumindest in den westlichen Gesellschaften - für eine Schlüsselmetapher. „Wer heute Menschen befragt, was sie wirklich bewegt, was sie anstreben, wofür sie kämpfen, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw. stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen eigenen Lebens. Geld meint eigenes Geld, Raum meint eigenen Raum, eben im Sinne elementarer Voraussetzungen, ein eigenes Leben zu führen. Selbst Liebe, Ehe, Elternschaft, die mit dem Verfinstern der Zukunft mehr denn je ersehnt werden, stehen unter dem Vorbehalt, eigene, das heißt zentrifugale Biographien zusammenzubinden und zusammenzuhalten (Beck, 9).“ Und als sei es nicht „selbstverständlich“ kommt Ulrich Beck zu der Annahme, dass es die Menschen selbst seien, „ihr Wille, ihre Anspruchsinflation, ihr überschäumender Erlebnishunger, die abnehmende Bereitschaft, auszuführen, sich einzuordnen, zu verzichten“, all dies lasse sie nach den „Sternen des ‚eigenen Lebens’“ greifen.

Und dann Fragen über Fragen, spitz, zugespitzt, polemisch – aus welcher Beobachterposition eigentlich? Vor allem folgende Frage: „Ist es eine Art „Egoismus-Epidemie, ein Ich-Fieber, dem man durch Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen kann? Oder sind die einzelnen bei allem Funkeln und Fechten mit dem ‚eigenen Leben’ vielleicht auch Botengänger, Ausführende eines tiefer greifenden Wandels? Sind dies die Vorzeichen eines Aufbruchs zu neuen Ufern, eines Ringens um ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das vielleicht sogar noch erfunden werden muss? Zeigt sich also im Ringen um ein eigenes Leben ein evolutionärer Wandel, der westliche Gesellschaften bis in ihre Grundlagen verändert (Beck, 10 - warum setzt Beck als opinion-leader der deutschen Gegenwartsoziologie sich eigentlich nicht mit den Luhmannschen Kategorien auseinander?)?“

Davon geht Ulrich Beck aus, und er beansprucht immerhin – etwas hochtrabend – eine solche „Gesellschaftstheorie des eigenen Lebens“ in 15 Thesen zu umreißen. Ich möchte sehen, inwieweit sich mit Hilfe der Beckschen Unterscheidungen, Selbstverstehen und Selbstbeschreiben – also biographische Selbstreflexion – anregen lässt:

1. Der Zwang und die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, entstehen in der hochdifferenzierten Gesellschaft.

Wahrscheinlich ist damit die augenscheinlichste und gleichermaßen am wenigsten bewusste Kennzeichnung moderner Lebensverhältnisse angesprochen. Nur ansatzweise vermögen wir uns noch vorzustellen, wie sehr das Leben von Menschen in sogenannten segmentär oder auch stratifi-katorisch differenzierten Gesellschaften in „festen Bahnen“ verlief und verbunden war mit relativ eindeutigen Verhaltenserwartungen und entsprechenden „Erwartungserwartungen“. Der „Standort“ in der Gesellschaft war vielleicht in archaischen Gesellschaften mit der Zugehörigkeit zu einem Ganzen, mindestens aber zu einem Clan, einer Verwandtschaftsgruppe, später einem Stand, einer Schicht, einer Familie definiert.

Heute empfinden sich Menschen vermutlich immer nur unter Teilaspekten in einzelne Funktionsbereiche eingebunden. In sogenannten „funktional differenzierten“ Gesellschaften unterwirft sich der Mensch den unterschiedlichsten Verhaltenslogiken (Erwartungen). Ulrich Beck sieht Menschen ebenso exemplarisch wie willkürlich als: Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Wähler, Patientin, Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fußgängerin usw. Zum Teil unvereinbare Verhaltenslogiken zwingen Menschen, sich auf die eigenen Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die Hand zu nehmen. „Die moderne Gesellschaft integriert die Menschen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten an diesen teilnehmen (Beck, 10).“

Ich habe z.B. mit Gleichgesinnten im politischen Raum 6 Jahre durch die Beschaffung von Mehrheiten darum gekämpft, in Koblenz der Idee einer Integrierten Gesamtschule eine Verwirklichungschance zu geben. Am Ziel dieses langen und beharrlich verfolgten Weges vollzogen sich in der eigenen Familie Schullaufbahnentscheidungen gegen diese Möglichkeit. Laura und Anne entschieden sich fürs Hilda-Gymnasium. Mein Selbstverständnis als bildungspolitisch aktiver Teilhaber an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen musste sich arrangieren mit meinem begrenzten Einfluss auf entsprechende Prozesse in der eigenen Familie. Nicht nur ich bastele an meiner Biographie, sondern auch meine Kinder nehmen früh Einfluss auf ihre individuelle Positionierung in dieser Welt, die Gestaltung eigenen Lebens.

                Ein unverzichtbarer Exkurs mit den Worten von Reinhard Kahl:

(Ich hoffe, all die Publikations-Profis sehen mir die „unsystematische“ Vorgehensweise, das Stricken mit heißer Nadel, nach – macht einfach einen Gedankensprung, „genießt“ Reinhard Kahls Generalabrechnung und sucht danach den passenden Anschluß im eigentlichen Kontext der „Theorie eigenen Lebens“ wieder herzustellen.)

Ich kann es nicht lassen!!! Aus meinem Schülerleben heraus haben sich die Vorstellungen und Visionen von einer „anderen Schule“ genährt. Mein Studentenleben lang haben sich diese Visionen konkretisiert – in meinem Lehrerdasein habe ich die unmittelbaren Erfahrungen gesucht und nach meinem Vermögen – aus der Praxis für die Praxis – auf den Begriff gebracht. Und seit 1994 praktiziere ich nach meinem Vermögen eine Praxis der Lehrerausbildung in der 1. Ausbildungsphase von der ich in der absoluten Verwaltung des Mangels annehmen kann, dass sie den Studierenden wenigstens Anregungen und Mosaiksteine für eine eigene angemessene Praxis anbietet. Jetzt – unmittelbar vor Abschluss dieses Buches spielt mir „PISA“ (Program for International Student Assesment) eine Argumentation in die Hände, die mein Herz frohlocken ließe, wenn es denn nicht so traurig wäre. Ich bediene mich der Worte Reinhard Kahls, der sich selbst als „Bildungsjournalist“ versteht, und der uns seit Jahren gebetsmühlenartig den Spiegel einer völlig verfehlten und abstrusen Schul- und Bildungspolitik vorhält:

Reinhard Kahl: Depressive Zirkel gibt es genug – PISA zur Mutter der Erneuerung machen in: Erziehung und Wissenschaft (=Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft GEW), 12/2001, Seite 2):

"Der 4. Dezember, Tag der PISA-Veröffentlichung, wird als der schwärzeste Tag in die Geschichte der deutschen Schule eingehen. Vielleicht wird man sich an dieses Gewitter irgendwann auch als radikalen Neuanfang erinnern. Wirksamkeit und Kultur der Schulen sind in Frage gestellt. Diese Doppelniederlage könnte sich als die Mutter der Erneuerung erweisen. Bisher konnte sich mancher trösten: Unsere Schulen sind vielleicht kein Vergnügen, aber doch effektiv. So nach dem Selbstüberwindungsmotto: Nur bittere Medizin hilft. Oder man nahm das Gegenteil in Anspruch: Hauptsache es geht den Kindern gut. Leistung ist nicht so wichtig. Dann wurde ein Glas Limonade neben den Bitterstoff gestellt oder nur noch seichtes Gesöff ausgeschenkt.

PISA zeigt, wir brauchen eine andere Ernährung. Was schmeckt, ist gewöhnlich auch das Bekömmlichere, zumal wenn die Gänge gut inszeniert sind. In vielen Schulen muss man allerdings ganz unten ansetzen: Nahrung muss erst mal gehalten werden. Schluss mit der Bulemie, dieses Fressen und Kotzen, Pseudolernen und Vergessen. Schluss vor allem mit dem Bluff, dieser unglaublichen Energieverschleuderung. Er ist oft das eigentliche Hauptfach von der Grundschule bis ins Studium. Erst recht in diesem unprofessionellen Referendariat.

Es wird nicht leicht sein, die tief in den Genen unserer Schulen gespeicherte Angst zu vertreiben und die Unkultur des Misstrauens durch die Kultivierung von Vertrauen zu ersetzen. Erfolgreiche Länder wie Kanada und die Skandinavier haben es riskiert, Angst aus dem System zu nehmen und Vertrauen zu investieren. Man glaubt schlicht daran, dass Menschen lernen wollen. Eine große Denkschrift in Kanada hieß ‚For the Love of Learning’. Bei aller notwendigen und kompromisslosen Kritik, die jetzt nötig ist: Wir müssen auch an einer ‚positiven’ Denkschrift arbeiten. Besser als die eine Denkschrift wären viele selbstgeschriebene Denkzettel für diese Mentalitätsänderung. Machen wir dafür doch einen Basar auf! Wenn wir jetzt in kollektive Hypochondrie verfallen und der Vorruhestand das Hauptziel wird, geraten wir erst recht in den Sog der Abwärtsspirale. Depressive Zirkel gibt es genug. Lieber die Bremer Stadtmusikanten zum Vorbild nehmen: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall. Die Macken unseres Systems, auch die von uns selbst, wo immer wir sie treffen, zum Thema machen! Wir brauchen eine Doppelstrategie. Veränderungen an den vielen kleinen Schritten, aus denen der Alltag besteht, und neue Visionen für die große Fahrt des Bildungsdampfers.

PISA zeigt, der deutsche Sonderweg in der Bildung ist gescheitert. Wir brauchen eine andere Navigation. Das anachronistische drei-gliedrige Schulsystem ist nicht zu verteidigen. Das Hauptargument für die frühe Selektion hieß, dem begabteren Teil der Bevölkerung durch höhere Schulen gerecht werden. Es ist dahin. Das Gymnasium wird seinem eigenen Anspruch Elitebildung nicht gerecht. Auch unsere guten Schüler sind international nur Durchschnitt, und die Schwachen sind tatsächlich auf Dritte-Welt-Niveau. Das besondere Kreuz unseres Schulsystems ist doch: Wenn ein Schüler schlecht steht, sagen ihm die Lehrer auf der höhreren Schule, „hier bist du falsch, geh ab“. Das funktioniert bis hin zum Verweis von der Haupt- zur Sonderschule. Deutsche Lehrer haben geradezu ei-ne Obsession, die falschen Schüler zu haben. Sie sind fix mit Verachtung. Das führt zu einer fatalen Grundstimmung. Schüler interpretieren sie so: Willkommen bist du nicht. Da sind Gesamtschulen keinen Deut besser, wenn sie die giftige Atmosphäre von Selektion wiederholen. Weder Japan, Finnland, noch Kanada, die Sieger, kennen unseren Selektionswahn. In Schweden ist er gesetzlich verboten. Der misanthropische Zug unserer Schulen hat auch viele Lehrer infiziert, die mal mit anderen Ideen hineingegangen sind. Ein Blick in den Spiegel, und PISA ist ein Spiegel, zeigt unsere hässlichen, besserwisserischen, häufig zur Demütigung anderer neigenden Züge. An welcher deutschen Schule lautete das Motto schon „Love and Consequences“, das ich an der Bäckahagens Skola in Stockholm hörte?

Neben der Arbeit an der mentalen Feinstruktur muss die Makro-struktur des Systems neu gedacht werden. Hier ist das PISA-Ergebnis ganz eindeutig: „Schulen schneiden im internationalen Vergleich umso besser ab, je autonomer sie sind“, sagt Andreas Schleicher von der OECD. Die gut platzierten skandinavischen Länder haben ihre traditionell zentralistischen Systeme dezentralisiert. An die einzelnen Schulen in Finnland und Schweden geht das ganze Geld, auch das für Lehrergehälter. Die Zentrale gibt in diesen Ländern Ziele vor und kontrolliert die Ergebnisse. Zur Autonomie gehört Rückmeldung. Dialog ist das allerwichtigste. Den Weg zum Ziel überlässt man der jeweiligen Schule. Um ihren eigenen zu finden, muss sie mit sich selbst in Dialog treten. Dieser Effekt ist beabsichtigt. Bloßes Ausführen geht nicht mehr. Zur Autonomie der Schulen gehört natürlich auch, dass sie sich für den Lernerfolg der Schüler verantwortlich fühlen. Und da wären wir wieder bei der pädagogischen Destruktivkraft unseres Systems, in dem man glaubt, die Probleme aus der eigenen in andere Schulen exportieren zu können. Diese Systemlogik produziert Verantwortungslosigkeit und Verwahrlosung fürs Ganze.“

Na bitte – er passt doch, dieser Anschluss: Ulrich Beck spricht nämlich zu Recht von der „Sozialform des eigenen Lebens“ zunächst als einer „Leerstelle“, die dann angefüllt wird mit „Unvereinbarkeiten, den Ruinen der Traditionen, dem Gerümpel der Nebenfolgen. In den Hohlräumen, welche die einmal regierenden großen Selbstverständlichkeiten mit ihrer Entzauberung hinterlassen, entstehen Trümmerspielplätze des eigenen Lebens.“ (Beck, 10) Lasst sie uns bebauen – diese Trümmerland-schaften des deutschen Selektionswahns – mit einer Schule für alle!

Wenn Niklas Luhmann in einem kurzen Vortrag über „Selbstreferentielle Systeme“ (Simon 1997, 69-77) die Interpenetration von sozialen und psychischen Systemen formal so charakterisiert, dass beide wechselseitig füreinander Komplexität in der Form von Kontingenz und Intransparenz zur Verfügung stellen, dann kommt en passent das „Nein“ in die Welt; und zwar bezogen auf die Lebensbedingungen in der Gegenwartsgesellschaft in einer durchaus anderen Bedeutung als noch in früheren Gesellschaftsformationen oder auch nur Generationen (versucht herauszufinden, wie eure Eltern, eure Großeltern „eigenes Leben“ gestalten konnten): „Das soziale System muss sich entwickeln auf der Grundlage von Situationsdefinitionen, die voraussetzen, dass alle Teilnehmer im-mer auch anders handeln können als sie es tatsächlich tun oder tun sollen oder wahrscheinlich tun werden. Umgekehrt penetriert das soziale System in das psychische System in der Form, dass das Bewusstsein bei aller sozialen Kommunikation immer auch die Möglichkeit mitsieht, Sinnofferten abzulehnen und sich nicht konform, sondern ausweichend, nicht erwartungsgemäß, sondern erwartungswidrig zu verhalten. Und die Sprache, wenn es denn über sie laufen soll, stellt dafür die Möglichkeiten des ‚Nein’ zur Verfügung (Luhmann in Simon 1997, 74).“

Was sich hier höchst formal und abstrakt ausnimmt, kommt alltäglich als Möglichkeit und Chance daher (Haakon heiratet Mette-Marit; meine Kinder besuchen die Hilda-Schule; ich vermiete Wohnungen und bin gleichzeitig aktives Gewerkschaftsmitglied mit Eigensinn, dem PISA mächtig viel Wasser auf die Mühlen gibt!?) oder mit Gunther Schmidt: „Wer bin ich, und wenn ja wie viele – und was mach ich damit.“

2. Das eigene Leben ist gar kein eigenes Leben!

Auch Ulrich Beck schätzt Paradoxien – weniger als Kontingenzformel – denn als harte Grenzmarkierungen für gar zu frei schwebende Allmachts- und Allmachbarkeitsfantasien. Vielleicht ist die paradoxe Konnotierung von Gegenwartsbedingungen eine ihrer Essentialien; also etwas ist/gilt und ist/gilt zugleich nicht. Bezogen auf unser aller Leben klingen Becks Belege dafür allzu plausibel und eindringlich: Das „eigene Leben“ – so Beck – vollziehe sich merkwürdigerweise unter Bedingungen einer extremen – ja geradezu paradoxen – Form der Vergesellschaftung: „Die Menschen müssen ein eigenes Leben führen unter Bedingungen, die sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen. Das eigene Leben hängt z.B. ab von Kindergartenöffnungszeiten, Verkehrsanbindungen, Stauzeiten, örtlichen Einkaufsmöglichkeiten usw., von den Vorgaben der großen Institutionen: Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Sozialstaat; von Krisen der Wirtschaft, der Zerstörung der Natur einmal ganz abgesehen. Manchmal muss nur die Oma, die die Kinder hütet, ausfallen, und die windigen Konstruktionen des eigenen Lebens brechen in sich zusammen (Beck, 11).“ Wie wahr, wie wahr! Dies ist vielleicht nicht die richtige Stelle, einmal Oma und Opa zu danken. Aber dennoch ist euch der Dank der Kinder und der Kindeskinder gewiß. Die vornehmste Kompetenz mag daher möglicherweise darin liegen, mit den Kontingenzbedingungen in einer (post)-modernen Gesellschaft umgehen zu können: Nichts was ist, muss so sein, wie es ist, oder wie es möglicherweise auch nur scheint. Ich kann erheblichen Einfluss nehmen auf meine Lebensumstände. Zu jeder Wahl gibt es (meist nicht nur) eine Alternative. Wir leben nicht nur semantisch in einer zumindest binär codierten Welt, die nur an einem Punkt begrenzt ist: zum Sterben gibt es nicht die Alternative des Nicht-Sterbens. Alles andere ist kontingent, enthält also immer die Negation von Notwendigkeit, wofür zugegebenermaßen immer auch ein Preis in unterschiedlicher Höhe zu zahlen ist. Diese binäre Orientierung könnte zum Beispiel Alternativen vorhalten im Hinblick auf: Heirat/Nicht-Heirat; Studium/Nicht-Studium; Kinder/Keine-Kinder; Hund/Kein-Hund; Karriere/Nicht-Karriere; Selbstentfaltung/Selbstbegrenzung; Konfession/Nicht-Konfession etc.

Man könnte zeigen, dass die „Selbstverfügbarkeit“ niemals so ausgeprägt war. Man bewegt sich dann jedoch in einem Spannungsfeld von selbst- und fremdvalidierten Zuschreibungen, das im politischen Raum vom freiheitlich-liberalen Prinzip der Selbstverantwortung bis hin zu den sozialethischen Prinzipen des Wohlfahrtsstaates reicht. Dieser Spannungsraum eignet sich weder für Polemik noch für zynische Kommentare. Er zwingt uns der Redlichkeit halber zur eigenen politischen Positionierung. Strukturentscheidungen in westlichen Demokratien sind zumindest vordergründig immer noch Mehrheitsentscheidungen (welch sanfter Zynismus angesichts radikaler Globalisierungsfolgen). Aber das ist im Übrigen die Stelle, wo Luhmanns Platzierung des Menschen in der Umwelt von Gesellschaft am nachhaltigsten überzeugt. Niemand von uns – auch nicht Joschka Fischer – hat auch nur den Hauch einer Chance, anders als kommunikativ einzuwirken auf Kommunikationen. Nur die radikale Verweigerung – auch eine redliche Variante persönlicher Artikulation – bietet sich als radikalste Form des „Neins“ an. Erwägenswert!?

3. Das eigene Leben ist das durch und durch institutionenabhängige Leben.

Ulrich Becks Auslassungen an dieser Stelle erscheinen frappierend und ernüchternd zugleich. Die qualitative Differenz zwischen traditionaler und moderner Biographie sieht er eben nicht darin, „dass früher in ständischen und agrarischen Gesellschaften Kontrollen und Vorgaben die Lebensgestaltung auf ein Minimum eingeschränkt und eingeschnürt haben, während diese heute kaum noch bestehen. Gerade im Bürokratie- und Institutionendickicht der Moderne ist das Leben in Netzwerke von Vorgaben und (bürokratischen) Regeln fest eingebunden (Beck, 11).“ Und dennoch scheint die Differenz galaktisch.

Den entscheidenden Unterschied sieht Beck darin, dass die modernen Vorgaben die Selbstorganisation des Lebenslaufs und die Selbstthematisierung der Biographie geradezu erzwingen. Vermutlich liegt genau darin der enorme Druck, die Nischenlosigkeit moderner Existenz. Und es ist auch offensichtlich nicht nur der „Vollzug“ von Handlungszwängen, die uns – bei Strafe ökonomischer und emotionaler Einbußen – zur permanenten Selbstorganisation zwingen, sondern es ist zweifellos auch die biographische Selbstthematisierung, die uns in eine reflexive Position zu unserer Alltagspraxis bringt. „In traditionale Gesellschaften wurde man hineingeboren wie etwa in Stand und Religion), für die neuen Vorgaben dagegen muss man selbst etwas tun, aktiv, findig, und pfiffig werden, Ideen entwickeln, schneller, wendiger, kreativer sein, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen – und dies nicht nur einmal, sondern dauernd, tagtäglich. Die einzelnen werden zu Akteuren, Konstrukteuren, Jongleuren, Inszenatoren ihrer Biographie, ihrer Identität, aber auch ihrer sozialen Bindungen und Netzwerke (Beck, 12).“

Ich glaube, dass genau darin ein Antrieb für dieses Buch liegt, nämlich 50 Jahren der Selbstkonstruktion, der Selbstinszenierung, der Selbstbespiegelung und Selbstthematisierung ein Forum der bewussten Reflexion und Auseinandersetzung zu geben.

4. Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie, zur „Bastelbiographie (Hitzler), zur Risikobiographie, zur Bruch- oder    Zusammenbruchsbiographie

Ohne Brüche, ohne Abstürze ergibt sich nicht jene Chance zur Unterschiedsbildung, die Menschen dazu veranlasst, ja manchmal geradezu unausweichlich zwingt, sich dem eigenen Chaos zu stellen, das ein Übergehen zur TagesOrdnung schlechterdings verunmöglicht. Viele Geschichten und Gedichte in diesem Buch hangeln sich an diesen Brüchen und Abstürzen, aber auch an den damit verbundenen Aufstiegen entlang. Die drei Jahre bei der IGST in Heidelberg haben eine Fülle von Anregungen vermittelt, bei den Abstürzen und Tunnelerfahrungen gerade den Punkt intensiv in Augenschein zu nehmen, an dem die Wende manifest wird, an dem zum ersten Mal wieder ein Lichtschimmer das Ende des Tunnels verheißt. Lösungs- und ressourcenorientiertes Denken stellt einen enormen Gewinn dar für die Bewältigung und möglicherweise für die Umwidmung von Krisenerfahrungen in gewinnbringende Schlüsselsituationen. Da wo Existenz in ihrer Grenzwertigkeit spürbar wird, in der Erfahrung und Reflexion unserer Begrenztheit und Endlichkeit, zeigt sich die Seinsverlorenheit des Menschen und Ulrich Beck registriert zutreffend: „In der Risikogesellschaft... bleiben selbst hinter den Fassaden von Sicherheit und Wohlstand die Möglichkeiten des Abgleitens und Absturzes immer präsent. Daher das Klammern und die Angst selbst in der äußerlich reichen Mitte der Gesellschaft (Hervorhebung, Verf.) (Beck, 12).“

5. Das eigene Leben ist zur Aktivität verdammt

An dieser Stelle zwingt Ulrich Beck uns einmal mehr das Verhältnis zwischen selbst- und fremdvalidierten Anteilen auszuloten. Und das qualitative Gütesiegel eines aktiven Lebens sieht er darin, dass es selbst im Scheitern seiner Anforderungsstruktur nach ein aktives Leben sein müsse: „Jedenfalls müssen, damit die Rede vom ‚eigenen Leben’ sinnvoll ist, Aktivitätsanteile nachweisbar und bewusst sein. Wesentlich ist das Tätigwerden im und am Schicksal, das damit erst zum ‚eigenen Schicksal’, zum eigenen Leben wird (Beck,12).“ Mit der Kultur einer lösungs- und ressourcenorientierten Beratungs- und Therapiearbeit lassen sich schicksalhafte Zwangsbilder beispielsweise von der Suchtpersönlichkeit oder der Krebspersönlichkeit relativieren, ja möglicherweise widerlegen (siehe Grossarth-Maticek/Stierlin). Trotzdem – und ich folge Ulrich Beck in dieser Einschätzung – ist damit nicht der „Schmied des eigenen Glücks“ gemeint, oder der „Held“, der seine Umstände meistert, oder der Architekt, der das Haus des eigenen Lebens plant, bis in die Einrichtung der einzelnen Räume hinein gestaltet. Die Paradoxie schleicht sich auch hier ein, denn Beck ergänzt diese „titanische“ Perspektive durch den entscheidenden Hinweis, dass sich immer wieder beobachten lasse, wie mit Trauer und Stolz über Versäumnisse und Errungenschaften berichtet wird: „Und angesichts der aufbrechenden Entscheidungsmöglichkeiten und Abstimmungszwänge kann es schon erforderlich werden, dass der einzelne zum biographischen Planungsbüro seiner selbst wird. Es kann aber auch sein, dass er ein dilettantischer Situations-Bastler bleibt. Oder scheitert. Oder alles zugleich und nacheinander der Fall ist. Wie wahr! Die Kehrseite? „Scheitern wird zum persönlichen Scheitern – in dem Sinne: es wird nicht (mehr) als Klassenerfahrung, in einer ‚Kultur der Armut’ aufgefangen (Beck, 12).“

Vermutlich liegen in entsprechenden Verschiebungen im Koordinatensystem zwischen Selbstvalidierung und Selbstverantwortlichkeit einerseits und der fremdvalidierten, schicksalhaft verstandenen Fremdverantwortlichkeit andererseits die markantesten Anforderungen an uns.

6. Eigenes Leben ist eigenes Scheitern

Wer das Phänomen der „doppelten Kontingenz“ in der Luhmannschen Version zur Kenntnis genommen hat, der wird die folgende Hypothese Becks nur in ihrer Ambivalenz akzeptieren können. In der radikalen Version, in der sich eigenes Leben auch als eigenes Scheitern darstellt, erscheint als eine mögliche Konsequenz, dass auch gesellschaftliche Krisen – zum Beispiel Massenarbeitslosigkeit – in Form individueller Risiken auf den einzelnen abgewälzt werden können: „Gesellschaftliche Probleme können unmittelbar umschlagen in psychischen Dispositionen: in persönliche Schuldgefühle, Ängste, Konflikte und Neurosen. Es entsteht –paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen werden (Beck, 12).“ Hier liege – so Beck – auch eine Quelle für die gegenwärtigen Ausbrüche von Gewalt um der Gewalt willen, die sich gegen wechselnde Opfer (‚Fremde’, Behinderte, Homosexuelle, Juden) entlade.

Nicht um der mir eher fremden Polarisierung sozialpolitischer Positionen aus konservativer Perspektive, sondern aus der durchaus kontingenten Lage persönlicher Lebensumstände, deren beschränkter Beobachter ich immer wieder werde, muss ich an dieser Stelle Becks einseitige Kausalkette in Frage stellen. Und zwar, ohne dabei ignorieren zu wollen, dass Regionen und damit auch Menschen Opfer von Strukturentscheidungen im Zuge globaler Unternehmensstrategien werden.

Aber in unseren unmittelbaren Beobachtungen erleben wir zweifelsfrei den ungemein versierten und kompetenten Konstrukteur seiner Lebens-umstände, der die persönliche Krise auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme auslebt. Wir erleben aber auch das arme Schwein, das die dritte, vierte und fünfte Umschulung, Weiterbildung auf sich nimmt und auf dem Hintergrund seiner zahlreichen Beeinträchtigungen vermutlich nie mehr die Chance haben wird, in Brot und Arbeit zu kommen. All dies steht unter dem Verdikt der blinden Flecken eines jeden Beobachters und der auch von ihm inszenierten „doppelten Kontingenz“ in der Kommunikation. Auch wenn jemand dir anvertraut, dass er die Befindlichkeit, die Motive, die ihn bewegen, niemals in einem Berentungsverfahren, im Rahmen seiner Aktivitäten die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand zu bewirken, äußern würde, so bleiben seine Motive seine Motive und seine Handlungen seine Handlungen.

Die im Folgenden von Ulrich Beck angebotene Unterscheidung zwischen dem „Lebenslauf“ als der Verkettung tatsächlicher Ereignisse und der „Biographie“ als der Erzählform der Ereignisse wird en Detail und im Einzelfall darauf hin zu befragen sein, „ob in einer Biographie nur von ‚Schicksalsschlägen’, ‚Verhältnissen’, von ‚fremden Mächten’ die Rede ist, die ‚hereinbrechen’, ‚vorgeben’, ‚erzwingen’“ (Beck, 12f.). Auch Ulrich Beck würde eine solche Erzählform als den „Widerlegungsfall“ der von ihm formulierten Theorie betrachten. Anders herum lassen sich Elemente einer individualistischen und aktivistischen Erzählform der eigenen Biographie als Grobindikatoren für die „Theorie des eigenen Lebens“ verstehen: „Die Lebensereignisse werden nicht primär ‚fremden’ Ursachen, sondern auch ‚eigenen’ Entscheidungen (Nichtentscheidungen, Versäumnisse, Fähigkeiten, Unfähigkeiten, Errungenschaften, Kompromissen, Niederlagen) zugerechnet (Beck, 13).“

7. Die Menschen ringen um ein eigenes Leben in einer Welt, die sich mehr und mehr ihrem Zugriff entzieht

Ulrich Beck spricht hier sicherlich den Zusammenhang an, der mich persönlich mit am meisten irritiert. Mit dem Begriff einer „neuartigen Ortlosigkeit“ beschreibt er Entwurzelung als vornehmstes Kennzeichen moderner Lebensverhältnisse. Und der Begriff der „Verhältnisse“ enthält in der Tat eine hohe Eigendynamik, bei der die eigenen steuernden Anteile zunehmend marginalisiert werden: „Welchen Sinn macht es denn noch, von einem bestimmten Ort, gar von Heimat zu reden, wenn doch das ‚hier’ überall ist... Was antwortet zum Beispiel ein Pendler auf die Frage, wo er lebt? Dort, wo er frühstückt, abends fernsieht und zumeist auch schläft – ‚und in den Nächten liegen sie abgestellt neben ihren Autos’ (Ivan Illich)? Oder dort, wo er arbeitet. In meinen Seminaren bin ich immer wieder erstaunt, wie sehr junge Menschen um ihre Orte kämpfen, um eine Perspektive, die den „Ort“ als feste Orientierung will. Und ich bin mehr noch erstaunt über die ausgeprägte Verankerung dieser jungen Menschen im Traditionsgut ihrer Heimatregion.

8. Das eigene Leben ist zugleich das enttraditionalisierte Leben

Wie gerade eben erwähnt meint dies nicht, dass Traditionen keine Rolle mehr spielen. „Oft ist das Gegenteil der Fall. Traditionen müssen aber gewählt, oft erfunden werden...“ Sie verstehen sich offensichtlich nicht mehr von selbst. Und dennoch stellt sich im biographischen Prozess, da wo Traditionen (vorgeblich) keine Rolle mehr spielen, irgendwann umso eindringlicher Verlusterfahrung und Sinnkrise ein, weil das Eingewobensein in sinngebende Rituale und Traditionen den Menschen abhanden gekommen ist. Ulrich Beck geht davon aus, dass „die kollektiven und gruppenspezifischen Identitäts- und Sinnquellen (ethnische Identität, Klassenbewusstsein, Fortschrittsglaube) der Industriegesellschaft, die mit ihren Lebensstilen und Sicherheitsvorstellungen bis in die sechziger Jahre hinein auch die westlichen Demokratien und Wirtschaftsgesellschaften gestützt haben, aufgezehrt, aufgelöst, entzaubert werden (Beck, 14).“

Und wenn daraus folgt, dass alle Definitionsleistungen den Individuen selbst auferlegt werden, dann können die meisten von uns am eigenen Leben nachvollziehen, wie extrem die Distanzierung von Traditionen und wie schmerzhaft die Relativierung von Ritualen sich biographisch vollzogen hat – uns auf den Weg einer säkularisierten, entzauberten Welt getrieben hat – und wie mühsam sich teilweise für uns die Wiedergewinnung und auch die Kreation angemessener Traditionen und Rituale darstellt. Wer hat nicht schon die Sehnsucht nach der „heilen Welt“ der Kindheit in sich verspürt, und wer bemüht sich nicht – zumal wenn er selbst Kinder in diese Welt gebracht hat – diese Welt mit jenem Feingewebe an gemeinsamen Ritualen wieder wirtlich zu machen, die jedenfalls in mir die Schätze der Kindheit wieder lebendig gemacht haben. Ulrich Beck meint, die Idylle – Omas Apfelkuchen, Vergissmeinnicht und Kommunitarismus – habe Hochkonjunktur. Wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, dass Lebensentwürfe in besonderem Maße der Gefährdung des nachhaltigen Scheiterns unterliegen, wenn sie nicht von diesem Feingewebe der alltäglichen Routinen, des Traditionsgutes und der großen Rituale gestützt werden. Mit dem Erfindungscharakter und der Herausforderung unserer Phantasie in der Gestaltung dieses Feingewebes ist im Übrigen ein wirksamer Schutz gegen ein blindes und zwanghaftes Vollziehen hohler Rituale und dumpfer Traditionen verbunden. Und auch die Demarkationslinie zwischen den Generationen gerät nicht aus dem Blick, um sensibel zu bleiben für Veränderungsbedarf. Vom alltäglichen Frühstücksritual, dem Ordnungsrahmen eines familiären Zusammenlebens, bis hin zur bewussten Gestaltung von Geburts- und Festtagen haben jeder für sich und alle miteinander die Chance den eigenen Raum und den gemeinsamen Raum zu erfahren und zu verändern.

9. Das eigene Leben ist ein experimentelles Leben

Im Spannungsfeld zwischen Tendenzen der Globalisierung, der Enttraditionalisierung und der Individualisierung sind wir Nachkriegsgeborenen vielleicht die erste Generation, die sich (in der Masse) der Chance und gleichzeitig dem Zwang gegenübersieht, das eigene Leben als „experimentelles Leben“ zu begreifen. Beck sagt, dass überlieferte Lebensrezepturen und Rollenstereotypen versagen. Das in diesem Buch (gemeint ist: Ich sehe was, was Du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau) auch platzierte „Bendorf-Kapitel“ (S. 255ff.) zeigt den Spannungsraum auf, der sich einstellt im Experimentieren mit neuen Lebens- und Wohnformen und dem Weg in tradierte Familienkonstellationen, die aber insbesondere im Hinblick auf die traditionell damit verbundenen Rollenstereotype nicht mehr funktionieren. Insofern weist Ulrich Beck zutreffend darauf hin, dass „eigenes und soziales Leben – in Ehe, Elternschaft ebenso wie in Politik, Öffentlichkeit, Erwerbsarbeit und Industriebetrieben – neu aufeinander abgestimmt werden müssen“ (Beck, 14). Niemand wisse, ob und wie dies gelinge. Anders als frühere soziologische Beschreibungen, die ein weitgehend passives Subjekt – idealtypisch den „Rollenträger“ – unterstellten, habe das eigene Leben demgegenüber den Charakter eines reflexiven Lebens.

10. Das eigene Leben ist ein reflexives Leben

Da ich – wie wir alle – hier und heute lebe, vermag ich aus eigener Anschauung nicht zu beurteilen, ob Ulrich Beck nicht mit übertriebenem Pathos daher kommt, wenn er vom „Aufbruch zu dem fremden Kontinent des eigenen Lebens“ spricht. Ich habe – sicherlich in angemaßter Weise – die Lebensumstände meiner Eltern, die Bedingungen, unter denen sie ihren Entwurf von Ehe und Familie bedenken und vollziehen konnten, in winzigen Splittern beschrieben (S. 141-148). Mit dem Zwang und der Neigung schon früh zum Beobachter solcher und ähnlicher Lebensentwürfe zu werden, verbindet sich in der Tat der nachhaltige Eindruck, mit den eigenen Bemühungen und mit dem eigenen Scheitern einen neuen Kontinent zu erschließen.

Das Scheitern – wie unter Punkt 6 schon explizit angesprochen – ist zum Signum aktuellen Experimentierens geworden (Beispiel Scheidungsquote). Andererseits scheint es so, dass gerade dieses Scheitern gleichbedeutend ist mit einem außerordentlichen Bedarf an Reflexion: „Soziale Reflexion – Verarbeitung widersprüchlicher Informationen, Gespräch, Verhandlung, Kompromiss – und eigenes Leben sind fast bedeutungsgleiche Wörter (Beck, 15).“ Und möglicherweise wird damit das „Scheitern“ zu einem wesentlichen Element eines gleichermaßen aktiven wie reflektierten Lebens. Niemand glaubt mehr ernsthaft an die Illusionen einer lebenslangen romantischen Liebe (selbstverständlich bis auf die, die verliebt vor den Traualtar treten), niemand glaubt mehr an die Vorstellungen von einer beruflichen Karriere aus einem Guss, und niemand glaubt mehr ernsthaft daran, die Anforderungen und Widersprüche von beruflicher und privater und möglicherweise auch noch politischer Existenz auf einen einzigen Nenner zu bringen. Für mich bedeutet es die alltägliche Quadratur des Kreises. Ulrich Beck wählt eine glattere, schmeichelnde Formulierung, wenn er meint, es sei gerade die Vielzahl sozialer Kreise, in denen die einzelnen zu denken, handeln und leben gezwungen werden, die in ihrer Kombination überhaupt erst so etwas wie die Unverwechselbarkeit des Individuums eröffneten. Und ebenso eingängig formuliert Beck seine elfte Hypothese:

11. Die Sozialstruktur des eigenen Lebens entsteht mit fortlaufender Differenzierung und Individualisierung

Ulrich Beck spricht von der „Individualisierung von Klassen, Kleinfamilien und weiblicher Normalbiographie“. Selbst traditionale Lebensverhältnisse würden entscheidungsabhängig, müssten gewählt, gegen andere mögliche Optionen verteidigt und gerechtfertigt und als persönliches Risiko gelebt werden. Die „Kontingenz“ (Luhmann) der Lebensverhältnisse spricht dafür, dass nichts so sein muß, wie es ist:

Ob jemand die „Normalbiographie“ einer Frau zurückweist und mit einem 30 Jahre älteren Mann zusammenlebt – oder umgekehrt; ob jemand als Single sein Leben organisiert – putzen, waschen lässt, den eigenen Herd verbannt und neben Muttis gutbürgerlicher Küche multikulturelle kulinarische Genüsse Tag für Tag bezahlt – oder als Single ganz anders die autonome Lebens- und Kommunikationsinsel kreiert; ob jemand in dritter Ehe mit über fünfzig das fünfte Kind zeugt; ob jemand mit jemand in gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft sein Glück sucht; ob jemand als später Stiefvater Vatersstelle ersetzt und endlich seine Liebe lebt – vice versa; ob jemand mit der/dem siebten oder achten Lebensabschnittsgefährte(i)n alten Wein in neuen Schläuchen „genießt“ und seinen Kindern gute Väter bzw. Mütter besorgt hat, ob jemand sein Leben lang Vater, Mutter, Kind(er) versucht; oder ob jemand als junger wie als alter Mensch (noch einmal) den Versuch wagt, gemeinsames Leben zu organisieren – all dies sind Optionen, die eine Wahl voraussetzen und die als persönliches Risiko gelebt werden. Und um nunmehr zu dem, was bei Beck als Differenzierung und Individualisierung gesehen wird, auch zu ermuntern, gibt es die passende zwölfte Hypothese.

12. Das eigene Leben ist ein hoch bewertetes Leben

Ich bin kein Soziologe und nehme mit Interesse Becks Feststellung zur Kenntnis, dass „die positive Bewertung des Individuums“ ein wirklich modernes Phänomen sei. Durch die Geschichte hindurch werde individuelles Verhalten mit abweichendem oder sogar idiotischem Verhalten gleichgesetzt. „In den Räumen der geschlossenen Gesellschaft bleibt das Individuum ein Gattungsbegriff: die kleinste Einheit eines vorgestellten Ganzen. Erst die Enttraditionalisierung, die Öffnung der Gesellschaft, die Vervielfältigung und das Widersprüchlichwerden ihrer Funktionslogiken gibt der Empathie des Individuums gesellschaftlichen Raum und Sinn (Beck, 15).“ Wie ein roter Faden zieht sich die Ambivalenz gesellschaftlicher Veränderungen durch Becks Argumentation, jedoch immer versehen mit einer deutlichen Präferenz für die damit verbundenen Chancen. Allerdings weist Beck auch darauf hin, dass es damit kein „Allgemeines“ mehr gibt aus dem das Individuelle abgeleitet werden kann; ebenso sehr, wie am Individuellen umgekehrt das nur noch vermutbare Allgemeine zerbricht. Daraus folgt die paradox anmutende Hypothese:

13. Eigenes Leben ist das radikal nichtidentische Leben

Ulrich Beck spricht mir aus vollem Herzen, wenn er aus dem Umstand, dass das eigene Leben sich gerade dem Zugriff des verallgemeinernden Denkens und Forschens entziehe, ein eigenwilliges Forschungs- und Reflexionsdesign ableitet: Nämlich die Notwendigkeit Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Fotographie, biographische (Re)Konstruktion und soziologische Analyse zu verbinden – ohne Patentrezept oder Drehbuch – mit dem Ziel, aus all diesen Himmelsrichtungen Licht auf die Rätsel des eigenen Lebens zu werfen. „Vielleicht, dass auf diese Weise den Ureinwohnern des eigenen Lebens dieses, aus dem Dunkel des Selbstverständlichen gehoben, fragwürdig und merkwürdig wird (Beck, 16).“ Dem ist nichts hinzuzufügen!

14. Das eigene Leben ist durchaus ein moralisches Leben

„Jedenfalls ein Leben auf der Suche nach einer Moral der Selbstbestimmung (Beck, 16).“

Das sagt sich so leicht daher. Beck widmet diesem Aspekt gerade ein-mal 15 Zeilen bei zweispaltigem Lay-out. Man braucht vermutlich den empirisch validierten und therapeutisch erfolgreichen Versuch, einmal zu sehen, wie sich denn menschliches Verhalten und seine möglichen Blockaden und Beeinträchtigungen in einem Koordinatensystem von z.B. „Geben und Nehmen“; „Schuld und Unschuld“ in Beziehungen darstellt (vgl. z.B. die Arbeit Bert Hellingers in der Dokumentation von Gunthard Weber, 10. Aufl. Heidelberg 1998).

„Gegenüber (deduktiv daherkommenden) Moraltheorien, die das Wesen des Moralischen in der Konfliktlösung sehen, hat Luhmann immer wieder überzeugend auf das Konflikterzeugungspotenzial jeder Moral hingewiesen: Konfliktlösung erwartet er eher von einer Trennung des personalen und sozialen Systems, die jeweils füreinander zu Umwelten werden. Diese These hat ihm Kritik und den Vorwurf des Antihumanismus eingetragen, einen Vorwurf, der für Luhmann keiner ist, da die humanistische Semantik für ihn keine adäquate Beschreibung dessen erlaubt, was ist, und mithin auch keine Handlungsanweisungen, die mehr wert sind, als das sie gut gemeint sind... (Robert Spaemann in seiner Laudatio auf den Hegel-Preisträger Niklas Luhmann, in: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990, S. 63ff.).“

Es ist – um an die Arbeit von Bert Hellinger und Gunthard Weber anzuschließen – von eminentem Interesse und – als Beobachter – von absoluter Faszination, sich auseinander zu setzen mit Becks ebenso leicht vorgetragener moralischen Attitüde, eine „Moral der Selbstbestimmung“ dürfe freilich nicht mit den „eingeschliffenen, abgegriffenen, widerspruchsvoll gewordenen Pflichtformen und –formeln gleichgesetzt bzw. verwechselt werden“ (Beck, 16). Auch hier gilt, dass wir erst im Scheitern eine Ahnung bekommen von dem, was soziale Beziehungen – von der Ehe bis zur Freundschaft, von der Geschäftsbeziehung bis zur Familie – reguliert und beeinflusst.

15. Das eigene Leben ist das Diesseitsleben, sein Ende ist das Ende

Bei aller Lebenserfahrung und bei aller Vielfalt meiner beruflichen Tätigkeiten scheint mir damit jener Aspekt angesprochen, an dem sich die „Seinsvergessenheit“ des „modernen“ Menschen am nachhaltigsten darstellt. Die Soziologie schaut en detail und die Philosophie sucht die Essenz:

„Die menschliche Grunderfahrung ist Angst. Die Angst ängstet sich nicht so sehr vor anderem Seienden, sondern um das In-der-Welt-Sein als solches, schärfer gefasst: um die Möglichkeit des eigenen Nicht-Seins. Die Angst ist die radikale Erfahrung, in der dem Menschen das Seiende im Ganzen entgleitet: Er begegnet seinem eigenen Tode. Der Tod begegnet aber dem Dasein nicht von außen her. Er gehört ihm zu: Dasein ist nur als Sein-zum-Tode. Aus dieser Begegnung mit dem eigenen Tod als der absoluten Grenze entspringt die eigentliche Bedeutsamkeit und Dringlichkeit des menschlichen Daseins. Verfügten wir über eine unendlich lange Zeit, so wäre nichts dringlich, nichts wichtig, nichts ‚wirklich’. Für gewöhnlich schließen wir die Augen vor diesem Sachverhalt. Wir vergessen, das wir angesichts des Todes unser je eigenes, unverwechselbares Leben zu verwirklichen haben. Wir gleiten ab ins Uneigentliche, ins Unverbindliche, ins ‚man’. Besinnung aber lehrt uns erkennen, dass der Tod uns zur Übernahme der eigenen Existenz aufruft, er offenbart die Unwiderruflichkeit unserer Entscheidungen, ruft uns auf zum eigentlichen und eigenen (‚je meinen’) Leben in Freiheit und Selbstverantwortung (Heidegger in Sein und Zeit, nachgezeichnet von Hans Joachim Störig, Frankfurt 1999, S. 683).“

Was soll man noch mehr sagen? Was daran anschließt sind die Gedanken zum Abschied unmittelbar nach diesem Kapitel.

Ulrich Beck schließt seine fünfzehn Thesen mit einer „Begriffserörterung“ ab. Dies ist hilfreich, um das philosophische Pathos noch einmal in soziologisch fassbare Begrifflichkeit zu übersetzen: Ulrich Beck stört, dass für die von ihm formulierten Bedingungen und Bestimmungen des eigenen Lebens, als da sind die funktional differenzierte Gesellschaft, Zwangsleere, Institutionenabhängigkeit, aktive und individualistische Erzählform der Biographie, Selbstzurechnung auch im Scheitern, Globalität im Sinne von Handlungen über Distanzen hinweg, Individualisierung, enttraditionalisierte, experimentelle, reflexive Lebensform das Etikett „postmodern“ vorherrsche. Vielleicht erhebt Beck seine Einwände zu Recht, wenn er sagt, dass zumindest für seine Konstruktion des „eigenen Lebens“ die angebotenen Bilder unzureichend blieben: Die Lebensform der industriellen Moderne – Klasse oder Schicht, Kleinfamilie, Geschlechterrollen würden weitgehend als normiert und standardisiert gedacht, während die Lebensformen in der sogenannten Postmoderne als weitgehend beliebig erschienen. Beide Bilder verkennen nach Beck, worum es eigentlich gehe: „Die soziale Architektur des eigenen Lebens zwischen Individualisierung und Globalisierung, Aktivität und Zuweisung von Anforderungen, die sich dem eigenen Zugriff vollständig entziehen (Beck, 17).“

Diese „paradoxe Sozialstruktur“ des eigenen und globalen Lebens möchte er entfalten in einer Gedankenfigur, die Modernisierung (im Sinne von Enttraditionalisierung und Individualisierung usw.) auf die Industriegesellschaft selbst anwende: „Das nenne ich ‚reflexive Modernisierung’.“ Gemeint sei damit nicht unbedingt Reflexion von Modernisierung, „sondern ‚Reflexivität’ im Sinne von ungewollter, oft auch ungesehener Selbstinfragestellung, Selbstveränderung... ‚Reflexive Modernisierung’ besagt: Es beginnt ein Konflikt in der Moderne um die Rationalitätsgrundlagen, das Selbstverständnis der Industriezivilisation... Strukturen können nicht mehr nur reproduziert, sie müssen ausgehandelt, entschieden, gerechtfertigt, ja vielleicht sogar neu erfunden werden – in Betrieben und Organisationen ebenso wie in Familien und in der Politik (Beck, 17).“

Erziehung als Formung des Lebenslaufs

Gedanken zur biographischen Selbstkonstruktion in Anlehnung an Niklas Luhmann (siehe dazu auch den entsprechenden Foliensatz)

(Einleitung II zu: Ich sehe was, was du nicht siehst - komm in den totgesagten Park und schau)

Vorsicht – Theorie! Theorie kann spannend und anregend sein; Theorie vermag das Nachdenken über und das Ordnen von Erfahrungen zu erleichtern und im besten Fall auf den Begriff zu bringen – vielleicht lässt sich der Zusammenhang am besten mit einem – Immanuel Kant zugeschriebenen – Aphorismus verdeutlichen, wenn er sagt: Ohne Anschauung sind unsere Begriffe blind und ohne Begriffe bleibt alle Anschauung leer (im Sinne erzählten Lebens eben stumm).

Um Spaß und Vergnügen an diesem Buch zu haben, zumindest Interessantes, Amüsantes, Tragisches, Komisches oder alles miteinander vermischt vorzufinden, kann man diese Einleitung II getrost überspringen und da ansetzen, wo ich mit meinen Erzählungen und Aufzeichnungen beginne. Mich selbst interessieren aber auch theoretische Aspekte dieser Selbstbeschreibung. Daher gibt es in diesem Buch immer wieder „Theorieschübe“, die allein schon an ihrer äußeren Erscheinungsform erkennbar sind.

Liebe, Partnerschaft und Freundschaft

Es mag ein wenig verrückt anmuten, in der Einleitung zu einem zweigeteilten Untermenü einen Vorgriff auf den zweiten Teil anzubieten: Aber in diesem zweiten, eher praxisorientierten Teil, soll es ja um die Erörterung eines "dritten Weges" zwischen Liebe und Partnerschaft gehen. Dieser "dritte Weg" soll und kann erwogen werden sowohl mit Blick auf eine schon beträchtliche Vergangenheit, zu der es eine Menge Geschichten gibt (viele und immer mehr dieser Geschichten sind über diesen BLOG zugänglich). Der Blick gilt allerdings auch einer Zukunft, deren Möglichkeitsraum - wie auch immer - natürlich sehr viel begrenzter ist; aber gleichwohl weniger bescheiden. Dafür wiederum spricht eine Gegenwart, die auf der einen Seite in der theoriegeleiteten Reflexion sensibilisiert für ungeahnte Möglichkeiten; und die auf der anderen Seite in einer tätigen Praxis immer wieder und unmittelbar auf die Gnade und die Grenzen freundschaftlicher Beziehungen stößt. Bezogen auf die Ausgangsfrage wird der zweite Teil im Sinne einer bereits kultivierten "resignativen Reife" (Arnold Retzer) und auf der Grundlage einer langen Ehe (mit Arnold Retzer) der Frage nachgehen, ob sich sogar das Paradoxon einer Liebesehe durch eine Freundschaftsehe oder eine Liebesfreundschaft ersetzen und lebbar machen ließe.

Selbstverständlich bleibt mehr als erklärungsbedürftig, warum ich beide Teile - Freundschaft I und II - unter dem Hauptmenü "Liebe, Sex und solche Sachen" platziert habe. Es ist ja mehr als offensichtlich, dass hier zentrale Fragen von Familie und Partnerschaft thematisiert werden. Aber wie Arnold Retzer selbst untertitelt, geht es um einen "dritten Weg" zwischen Liebe und Partnerschaft. So hat sich die Waagschale ein wenig mehr zum letztendlich gewählten Hauptmenüpunkt geneigt - hier ist die mächtige Urkraft des Eros noch ein wenig mehr zu Hause. Aber selbstverständlich räume ich ein, dass hier eine Trennschärfe nicht mehr wirklich gegeben ist. Und alle an Familie und Partnerschaft Interessierten werden eingeladen einfach quer zu gehen und im Übrigen auch die 2006 im Café Hahn veranstaltete Vortragsreihe zu nutzen.

Freundschaft (II)

Ohne Praxis ist alles Nichts! Und wie ist das mit der Theorie? - Hier gehts zur "Theorie" - Freundschaft (I)

Vermutlich haben wir alle eine Vorstellung von Freundschaft, die sich deutlich jenseits dessen bewegt, was wir unter Intimverhältnissen verstehen. Insbesondere Julia Onken regt mit ihren Unterscheidungen von Eros, Philia und Agape dazu an, hier klare Trennlinien zu ziehen. Mit Arnold Retzer werden wir hingegen andere Akzentuierunge erwägen, allein schon aus der Einsicht heraus, dass weder die (romantische) Liebe noch nüchterne (vertragsgeleitete) Partnerschaft alleine für sich auf Dauer mit dem Leben bzw. mit einem zufrieden stellenden Paarleben vereinbar sind.

Aber im Rückblick auf ein langes Leben erinnert man sich ja zunächst einmal an die Freundschaften, die - wenn auch heute eher in seltenen Fällen - ein ganzes Leben lang halten. Bereits im Vorschulalter werden die Weichen gestellt für "Blutsbrüderschaften", die nichts wissen von "freundschaftlicher Gleichheit, Ebenbürtigkeit und auch Eigenständigkeit", die diese Prinzipien aber verkörpern und für die wechselseitige Inanspruchnahme, ja Einstehen füreinander in allen Lebenslagen habituell sind, als vorreflexives Wissen selbstverständliche und alltägliche Praxis.

Wenn die runden Geburtstage anstehen, dann lässt sich an den Einladungslisten, den Zu- und Absagen ablesen, ob es in einem langen Leben gereicht hat zu einem vertrauensvollen und kraftvollen, Gemeinsamkeit begründenden Einvernehmen in grundsätzlichen Fragen der Lebensgestaltung. Und wir sollten uns an der Stelle nichts in die Tasche lügen. Die Messlatte für eine solche Freundschaftskultur liegt hoch. Eine "moralische Institution" kann Freundschaft nur sein, wenn sie eine Praxis begründet, die über das wechselseitige Wohlwollen deutlich hinaus geht. Das Wohlwollen einem Freund gegenüber sieht Retzer als notwendig an, aber es reiche nicht, wenn es sich nicht mit der vollzogenen Wohltat verbinde: "Mit jemandem in Freundschaft leben, heißt also eigentlich: Leben zu teilen und das Teilen zu leben. Wohlwollen kann allenfalls zu untätiger Freundschaft führen. Freunde müssen sich verhalten und Tat-Sachen schaffen (Arnold Retzer)."

Komm wir machen ein Buch: Adrian im Gespräch mit Josef (Die beiden sitzen in der Biwel – ihr könnt es übrigens auf dem Schutzumschlag des Buches sehen – und unterhalten sich über das neue Buch - Kopfschmerzen und Herzflimmern

Adrian und Jupp

Adrian Nemo:   Lieber Freund, ich freue mich, dass Sie sich endlich Zeit nehmen für dieses Gespräch. Es wurde ja höchste Zeit, um den Erscheinungstermin des Buches nicht zu gefährden. Lassen Sie mich zunächst fragen, wie ich Sie anreden darf?

Witsch-Rothmund:   Ja, mein lieber Adrian, es steckt ja immer eine ganze Geschichte dahinter, wie Menschen zu Namen kommen. Die meine möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen, man kann sie nachlesen in dem 2003 erschienen Gedichtbändchen „Das Leben – Ein Klang“. Obwohl – wie eine gute Freundin einmal bemerkte – alle Namen, die einem zukommen, gute Namen sind, ist es mir recht, wenn Sie mich Josef nennen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, biete ich Ihnen als der Ältere von uns beiden an dieser Stelle das „Du“ an.

Adrian:  Ja, gerne lieber Josef, einverstanden! Bevor ich Einzelheiten erfahren möchte über deine Motive, Bücher – und auch insbesondere dieses Büchlein hier – zu machen, bitte ich dich zunächst einmal so etwas zu beschreiben wie das Urmotiv, wenn es so etwas überhaupt gibt.

Josef:   Oh ja, in der Tat gibt es so etwas, wie ein „Urmotiv“. Es ergibt sich ganz einfach aus dem außerordentlichen Spaß an der Gestaltung von Buchstabenwelten. Susan Sontag hat das einmal so beschrieben, dass selbst beim zaghaftesten Schreiben ein Weg aus Wörtern entsteht, den man weitergehen will. Damit meine ich im Übrigen nicht nur den Prozess des Schreibens selbst, sondern in besonderer Weise auch die handwerkliche Seite, ein Buch zu machen, bis man es schließlich in der Hand hält und darin blättern kann. Es gibt daneben ein zweites, ganz anders geartetes Motiv: Gegen Ende dieses Gesprächs werde ich dir auf eine sehr intime Frage mit den Worten Roland Barthes’ antworten, dass das „Subjekt“, das ich selbst bin, keine Einheit bildet. Diese Erfahrung teile ich mit ihm, insofern ich die damit postulierte Einheit meiner selbst in mir nicht wieder finde. In den hier zusammengestellten Texten begegne ich mir immer wieder auch selbst – und dies zum Teil auf überaus überraschende Weise. Ich bleibe der Frager, der über Antworten stolpert und der sich manchmal wie ein kleines Kind freut, weil es die verloren geglaubte Schaufel in der Buchstabenwelt plötzlich und unvermutet an einer ganz anderen als der erwarteten Stelle wieder findet. Auf diese Weise entstehen immer wieder Suchbewegungen mit neuen Fragen und neuen Antworten.

Adrian:   Aha, ein Weg aus Wörtern; die Entstehung einer Buchstabenwelt und damit verbundene Suchbewegungen; ein interessantes Motiv! Aber bei dem, was mir bislang zu Gesicht gekommen ist, muss man doch zunächst einmal feststellen, dass es zum größten Teil gar nicht deine Texte sind, mit denen du dir einen Weg bahnst. Du pflasterst deinen Buchstabenweg – könnte man sagen – mit Textbausteinen, die du offensichtlich aus dem unerschöpflichen Steinbruch vorhandener Texte herausbrichst.

Josef:   Ja und nein! Es gibt – darüber werden wir sicher noch ausführlicher reden – meine eigenen Texte, und es gibt die Texte, die ich mir in der Tat aneigne, die ich zu meinen Texten mache, indem ich sie auswähle und zu Collagen zusammenstelle. Dabei spielst du im Übrigen eine ganz entscheidende Rolle.

Adrian:   Also bei allem Wohlwollen, so ganz verstehe ich das noch nicht. Kannst du mir das zweite Motiv – das mit den Suchbewegungen – vielleicht etwas einfacher und verständlicher erklären?

Josef:   Versuchen wir’s! Von dir habe ich den Hinweis, dieses Buch habe – wie alle meine Bücher – etwas Chaotisches an sich. Was die Suchbewegungen angeht, so kenne ich viele Menschen, die sich in ihrem Leben, vor allem in ihrem Beziehungsleben, in ihrer Partnerschaft, in ihrer Familie, in ihren Alltagsbeziehungen – vorsichtig formuliert – schwer tun, ihr Leben, um es einmal völlig zu überspitzen, irgendwo zwischen Liebe und Wahnsinn organisieren. Die meisten wurschteln sich halt durch, wobei sie nicht selten auch leiden. Die Hintergrundmusik für dieses Durchwurschteln bildet ein radikaler gesellschaftlicher Wandel, der den Menschen eine ungleich größere Vielfalt von Möglichkeiten als früher eröffnet. Was die meisten Menschen dabei im Hinblick auf ihren Lebenstraum miteinander verbindet, scheint allerdings nach wie vor die Sehnsucht nach der einen, der großen, einzigartigen romantischen Liebe zu sein. Davon zeugen viele Umfragen, an dieser Nabelschnur hängen das Kino, die Musik, die Literatur und auf der anderen Seite inzwischen auch immer mehr Therapeuten.

Adrian:   Und wenn wir das jetzt einmal auf den ganz normalen Alltag zurückstutzen, an ganz normale Menschen denken, wie du und ich, und wie sie hier im Café Hahn ein- und ausgehen, wenn wir uns also aller Überspitzung enthalten, glaubst du, dass dieses Buch etwas mit dieser ganz alltäglichen Normalität zu tun hat?

Josef:   Was ist schon normal? Wir alle haben unsere Macken, in unser aller Leben zeigt sich bei aller Normalität auch das Besondere. Jeder einzelne von uns ist etwas Besonderes und er hat seine besondere Lebensgeschichte. Und mehr Menschen als je zuvor sind inzwischen therapieerfahren. Wenn man nun das Gemeinsame und das Verbindende herausstellen will, kann man zum Beispiel die Statistik bemühen: „Die Hoffnungsträger der Republik sind in Wirklichkeit eine hoffnungslose Brut. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt – und sie verweigern sich der Reproduktion. Eine ganze Generation potenzieller Eltern zieht es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Pflegebett bringen soll.“ So eröffnet Jochen Bittner die dritte Folge der Zeitserie „Wo sind die Kinder?“ (ZEIT 6/04). Er lässt ein paar nüchterne Zahlen folgen, deren Interpretation in eine paradoxe, gleichwohl wenig überraschende Situationsbeschreibung mündet.

Adrian:   Aber mein lieber Josef, das muss ich mir nicht unbedingt anhören, bloß weil du meinst, mit euern beiden Kindern hättet ihr – du und deine Frau – den „generativen Part“ erfüllt und könntet mir und anderen jetzt die rote Karte zeigen!?

Josef:   Sei nicht so empfindlich! Ich weiß, dass Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, besonders dann, wenn man sich auch noch angegriffen fühlt. Du musst dich hier nicht wirklich angesprochen fühlen.

Adrian:   Es ist immer dasselbe. Hast du mal das Interesse der Menschen geweckt, schon beginnst du zu langweilen.

Josef:   Meine Güte, wart’ es doch erst einmal ab. Jochen Bittner gelingt es mit wenigen Zeilen und ein paar statistischen Daten jene Paradoxie herauszuarbeiten, die uns das ganze Leben über begleitet und die auch dieses Buch maßgeblich prägt: Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner – habe sich in den vergangenen Jahren verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute statistisch bei 40% (in den siebziger Jahren waren es 13%).“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Lebenserfahrung: Individualität siege über alte Konventionen. Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr: Die Deutschen mögen also freier sein als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage – „sind sie deswegen auch glücklicher“? Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse der zugrunde liegenden empirischen Studie, so die Schlussfolgerung, erscheinen paradox: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung – und nicht von vornherein eine auf Zeit. Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

Adrian:   Ist das etwa des Pudels Kern – die große Liebe? Warum sagst du das denn nicht gleich? Vom Winde verweht! Casablanca! Pretty Woman! Damit kann doch jeder etwas anfangen. Wobei mir das mit der Paradoxie schon einleuchtet. Das Leben der meisten Menschen nimmt sich doch dagegen ziemlich fade aus. Und welche Geschichten willst du uns nun erzählen? Welche Geschichten stecken denn hinter all diesen Statistiken und diesen nüchternen Zahlen?

Josef:   Hinter den Zahlen verbergen sich natürlich hunderte, tausende, Millionen von Lebensgeschichten, alle unterschiedlich, alle ein bisschen gleich und alle auch immer ein bisschen paradox und widersprüchlich.

Adrian:   Kannst du denn nicht wenigstens mal eine dieser Geschichten erzählen?

Josef:   Ja, natürlich könnte ich das. Ich habe in meinem Büro hunderte von so genannten „Lerntagebüchern“, in denen junge Menschen ihre Geschichten erzählen, um ein wenig Klarheit und Unterscheidungsvermögen in ihre Lebensmotive und -visionen zu bringen.

Adrian:   Ja und, spiegelt sich denn in diesen Geschichten die „große Zahl“ wider?

Josef:   Sicher – mehr oder weniger ausgeprägt; und vor allem sicherlich so, dass man die Unterschiede geradezu schmeckt und spürt, die sich in einem ungeahnt erweiterten „Möglichkeitsraum“ individuell ergeben und darstellen lassen.

Adrian:   Dann lass doch mal einen dieser Studenten erzählen!

Josef:   Meinetwegen: Erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, mitten im Staatsexamen, nach einem Leben, für das die Achterbahn am ehesten als Sinnbild stehen mag; aber eben auch an einem Haltepunkt, der nach 26 Jahren gleichermaßen die Enttäuschungen und Zumutungen wie das Wachstum und die Ressourcen zur Lebensbewältigung sichtbar werden lässt:

„Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern. Meine ganze bisher bekannte Lebenssituation veränderte sich. Wir verkauften unser Haus, meine Schwester zog zu meinem Vater, ich blieb bei meiner Mutter… Meine Eltern sind beide Akademiker und standen damals voll im Beruf. Durch die Trennung wurde ich auch von meiner Schwester getrennt. Ich besuchte meinen Vater jedoch regelmäßig. Meine Mutter arbeitete sehr viel, so dass ich die meiste Zeit allein war. Zu dieser Zeit besuchte ich die Grundschule, danach wechselte ich auf das Gymnasium. Meine Leistungen wurden sehr schnell schlechter, und ich musste die Schule verlassen. Über eine Hauptschule, die Berufsfachschule fand ich wieder den Einstieg ins Gymnasium. Es war schwierig den Anschluss zu finden – sowohl inhaltlich als auch sozial. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon den unbedingten Willen, das Abitur zu machen. Mit neunzehn hatte ich es geschafft.“

 Adrian:   Ja, ist doch prima. Hut ab! Super – ich finde, das ist doch aller Ehren wert; da geht jemand gestärkt und als Persönlichkeit aus den Feuern seiner Kindheit und Jugend hervor!

Josef:   Find’ ich auch! Und das spiegelt sich auch im Selbstbild dieser jungen, starken Frau wider. Willst du noch ein bisschen mehr hören? In meinen Seminaren gibt es immer auch den ein oder anderen Impuls, damit sich die Lebensgeschichten nicht vorschnell lesen, als seien sie mit dem Glättspan gearbeitet.

Adrian (rümpft die Nase und reagiert ärgerlich und gereizt):   Glättspan, Glättspan! Was soll das nun schon wieder heißen? Wenn jemand klar kommt, dann macht er sich bei dir gleich verdächtig. Sei doch froh, wenn am Ende eines holprigen Weges eine Erfolgsstory lacht, meinetwegen ein „Happy End“. Na klar will ich mehr desselben hören – ich bin ja froh, wenn du die Menschen einfach einmal erzählen lässt!

 Josef:   Nun gut, hören wir zu, wie die junge Frau zum Beispiel die Frage beantwortet, wo sie denn als Kind Hilfe benötigt hätte und wie sich das heute darstellt:

„Ich denke, ich hätte als Kind einen Halt gebraucht. Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Sie waren in dieser Zeit nicht belastbar, sehr mit sich selbst beschäftigt – auf der Suche nach sich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht auf sie verlassen kann. Es wäre wichtig gewesen, dass sie mir z.B. in der Schule geholfen hätten. Ich habe gelernt, das alles alleine zu machen, und ich bin dadurch sehr früh sehr selbstständig geworden. Meine Mutter hat in der Nacht geweint. Mein Vater war nicht da, er hatte ständig wechselnde Beziehungen. Vielleicht hätte ich meine Bedürfnisse stärker zum Ausdruck bringen müssen – aber mit sieben? Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich meine Mutter eines Morgens betrunken antraf. Sie konnte einfache Fragen, die ich ihr stellte, nicht mehr beantworten. Da begriff ich, dass ich stärker sein muss als sie. Sie war total hilflos. Ich kann mich noch genau an meinen Schulweg an diesem Morgen erinnern. Ich kam mir ganz orientierungslos und verloren vor. Die Trennungszeit meiner Eltern und ihr diesbezügliches Verhalten über Jahre prägten meine gesamte Schullaufbahn. Ich habe nicht gelernt zu lernen und zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich hatte nie eine Hausaufgabenbetreuung. Meine Eltern haben meine vorgegebene „Stärke“ dankend angenommen und mich damit etwas überfordert. Ich habe gelernt, mich wirklich nur auf mich selbst zu verlassen. Auch heute habe ich noch manchmal Probleme damit.“

Willst du noch mehr hören?

Adrian:   Ja, verdammt noch mal – auch wenn es mehr nach einer Never-ending Story schmeckt als nach einem Happy End!

Josef:   Also, wenn ich diesem „Einzelfall“ noch ein wenig Aufmerksamkeit widme, dann nicht, um die Welt als Jammertal zu beschreiben, sondern um das Leben – zwischen Liebe und Wahnsinn – in seinen unterschiedlichsten Facetten und in seinen Wirkungen auch „fallbezogen“ spürbar zu machen: Interessant ist die Antwort der jungen Frau auf den Impuls, sich „die eigene Familie einmal als Haus“ vorzustellen:

„Es ist sehr klein, liegt dunkel im Schatten von großen Bäumen. Von der Grundkonstruktion her wäre es schön, es ist aber sehr wackelig und leider baufällig. Dort, wo Steine runterfallen, wird es notdürftig zusammengeflickt. Die Bewohner leben auf verschiedenen Ebenen – es gibt kein gemeinsames Zimmer. Ich wohne im untersten Stockwerk, mein Vater im Zweiten, meine Schwester im Dritten, meine Mutter wohnt im Vierten. Wenn man sich gemeinsam treffen möchte, trifft man sich auf dem Platz vor dem Haus. Dies geht aber nicht immer, wegen der Wetterverhältnisse. Dann trifft man sich eben nicht. Das Haus ist auf Liebe gebaut, dieser Boden hält jedoch nicht alles aus. Es gab schon ein paar Mal Erdbeben, dabei ist der Grund etwas abgesackt. Aber es hält. Nur das Haus wird dadurch etwas schief und brüchig. Wenn die Bewohner das Haus betreten, müssen sie immer durch meine Etage. Dabei machen sie Unordnung und ich muss immer wieder aufräumen. Dadurch komme ich manchmal nicht dazu, meine Arbeiten zu erledigen. Ich bin gerade dabei, für die anderen Bewohner eigene Zugänge zum Haus zu bauen. Eigentlich finde ich, dies könnten sie auch selbst machen. Sie sind damit nicht ganz einverstanden, da es für sie unbequem ist. Oft ist es so, dass sie bei mir rumsitzen und ständig irgendetwas von mir wollen. Das nervt mich. Sie haben auch ständig Fragen an mich. Ich möchte mich manchmal auch nur auf mich selbst konzentrieren. Aber ich kann immer zu ihnen kommen. Sie denken immer, dass ich stark bin.“

Adrian:   Hmh, das beeindruckt mich sehr; ein sehr schönes, pardon – ein treffendes Bild, das mit dem Haus, der Baufälligkeit und den herabfallenden Steinen. Hast du denn wenigstens nach deinen 52 Jahren für dich den Stein der Weisen gefunden?

Josef:   Es sind ja schon fast 53 Jahre. Natürlich habe ich den Stein der Weisen genauso wenig gefunden wie du! Ich halt’s da eher mit Bertolt Brecht und seh’ den Vorhang zu und alle Fragen offen. Diese Fragen, die Widersprüche und Paradoxien, die uns umtreiben, und die auch in diesem Fallbeispiel sichtbar werden, möchte ich in diesem Buch gerne irritieren mit den Sichtweisen, die uns Roland Barthes, aber eben auch aktuelle Reflexionen im Wissenschaftsbereich, im therapeutischen oder journalistischen Kontext anbieten. Die junge Frau, die uns etwas verstehen lässt im Hinblick auf prägende Kindheitserlebnisse, lebt möglicherweise in einer festen Beziehung oder ist auf der Suche danach. Sie nimmt diese Erfahrungen mit in ihre Beziehungswelt und der Möglichkeitsraum ihrer Beziehungsgestaltung wird vermutlich immer durch das emotionale Nadelöhr dieser Erfahrungen gepresst werden. In dem, was wir hier zusammengetragen haben und anbieten, stecken für sie und für uns sicher eine Fülle von Anregungen, die auch das Vermögen haben, uns vielleicht in die ein oder andere Antwort hineinlesen und möglicherweise auch hineinwachsen zu lassen.

Adrian:   Und warum machst du es so kompliziert? Warum sagst du nicht einfach: Da und da steht es, kauf dir dieses oder jenes Buch, lies und gesunde!?

Josef:   Du machst mir Spaß! Ja, wirklich – ich finde diese Idee grandios, und ich bin ein großer Anhänger der „Bibliotherapie“. Sie hat mich überleben lassen. Aber ich will ja vor allem auch noch meinen eigenen Spaß haben. Bei den Recherchen für das Buch stieß ich auf einen Hinweis, mit dem Hans Joachim Störig den „ästhetischen Kunstgriff der Verfremdung“ bei Sören Kierkegaard zu erklären versucht (Kierkegaard hatte alle seine Schriften unter Pseudonymen veröffentlicht): Kierkegaard wählte diese Form offensichtlich sehr bewusst, „weil er diese Form der indirekten Mitteilung für die einzig mögliche hält. Denn für ihn ist, was sich direkt mitteilen lässt, was man als objektive Wahrheit, als Wissenstand besitzen und also auch einem anderen mitteilen; mit anderen teilen kann, nicht eigentlich Wahrheit, es ist vielmehr unerheblich und lenkt vom Eigentlichen nur ab.“

Adrian:   Nun gut. Wenn du glaubst, auf eine verfremdende Weise deinen Bazillus eher unter die Menschen zu bringen. Ich hab da eher meine Zweifel. Obwohl – ich vermute fast, dass ich diesen Winkelzügen vielleicht sogar meine eigene Existenz irgendwie verdanke. Sei’s drum: Ein wenig klarer wird mir die Sache schon; trotzdem hab ich noch eine Reihe von Fragen. Ein Buch über die Liebe mit Gedichten, mit Geschichten und einer Reihe von Interviews; was ist das für ein merkwürdiges Konzept – steckt dahinter überhaupt ein Konzept?

Josef:   Ja und nein! Ich antworte dir mit Roland Barthes, ohne dessen Verführung dieses Buch so nicht entstanden wäre. In einer Sammlung von Interviews, die mit ihm geführt worden sind, stieß ich auf ein Interview, das er 1977 dem Playboy gegeben hat: „Der größte Mythenentzifferer unserer Zeit erzählt uns von der Liebe“. Barthes hatte zuvor seine „Fragmente einer Sprache der Liebe“ veröffentlicht. 27 Jahre danach war ich sofort von der Idee fasziniert, diese vergessenen Texte auf ihre Frage- und Antwortperspektiven hin zu befragen.

Adrian:   Einen Augenblick – wenn ich dich unterbrechen darf – verstehe ich das richtig, Auslöser für dieses Buch war anfänglich ein Interview?

Josef:   Ja und nein! In meinem Gedichtband „Das Leben – Ein Klang“ gibt es ein Kapitel, das mit der Überschrift „Gravitationsfelder“ versehen ist. Man kann es mit der sichtbaren Spitze eines Eisberges vergleichen – es enthält nicht eigentlich Liebesgedichte, sondern eher Gedichte über die Liebe. Die Liebesgedichte selbst treiben gewissermaßen im Verborgenen, unter der Wasseroberfläche. Man kommt ihnen – eingedenk des Schicksals der Titanic – besser nicht zu nahe. Warum dies so ist, wurde mir schlagartig bewusst, als ich eine kurze einleitende Bemerkung Roland Barthes’ zu seinen „Fragmenten“ las. Ich möchte sie an dieser Stelle zitieren: „Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches (der „Fragmente“) hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß?) von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig im Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein. Diese Bejahung ist im Grunde das Thema des vorliegenden Buches.“

Adrian:   Auch dieses Buches?

Josef:   Ja! Aber auf andere Weise. Zweifellos kann hier zunächst nur die Ermunterung stehen, sich Roland Barthes’ grandiose „Bejahung“ zu erlauben, um sich – wie er sagt – von den Abwertungen des Liebesgefühls nicht beeindrucken zu lassen. Fast dreißig Jahre nach Roland Barthes möchte ich zeigen, dass sich die „theoretischen Sprachen“ – und damit der Diskurs über die Liebe – sehr viel differenzierter darstellen. Deshalb bette ich das Playboy-Interview, das Roger Philippe mit Roland Barthes führt, in den Zusammenhang unterschiedlicher theoretischer Sichtweisen ein und habe dich – lieber Adrian – gebeten, eine Reihe von Interviews zu führen. Die dabei auch hervortretenden theoretischen Ambitionen verraten einen ungleich differenzierteren Diskurs über die Liebe, als Roland Barthes ihn in den siebziger Jahren offensichtlich beobachten konnte.

Adrian:   Aber die Abwertung des verliebten Menschen hat sich auch aus deiner Sicht damit nicht wesentlich relativiert?

Josef:   Nein, aber ich glaube einfach, dass die in den letzten dreißig Jahren zu beobachtende „Reflexion über Intimsysteme“ uns heute – natürlich eingedenk der damit prinzipiell verbundenen blinden Flecken – anderes sehen lässt und neue Perspektiven eröffnet. Deshalb sind Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Susanne Gaschke, Peter Sloterdijk, Arnold Retzer und einige andere eingeladen, um mit ihnen zu schauen, inwieweit der Diskurs über die Liebe neue Sichtweisen hervorgebracht hat.

Adrian:   Der „Diskurs über die Liebe“ – das theoretische Reflektieren – ist die eine Sache. Aber was ist mit dem individuellen Sprechen, was ist mit der Sprache der Liebe?

Josef:   Wenn ich mich recht erinnere – ich habe mir die Aufzeichnungen über das von dir moderierte öffentliche Räsonnieren im Café Hahn mehrfach angesehen – dann wird selbst im Verlauf dieses theoriegeschwängerten Gespräches etwas von dem Fluidum zumindest der Verliebtheit spürbar. Der ganze Rest – die Welt der Liebe – bleibt die Welt der Poesie. Darum will ich mich bemühen. Ich möchte versuchen, all das, was ihr da so abgehoben und theoretisch erörtert, durch eine Art „Parallelpoesie“ zum Flimmern zu bringen.

Adrian:   Das kann ja dann nur bedeuten, dass dieses Buch hier – zumindest in diesen Teilen – das Buch eines Verliebten ist.

Josef:   Diese Frage hat Roger Philippe schon Roland Barthes im besagten Interview gestellt. Jeder von uns war doch schon einmal verliebt!? Und eines zumindest dürfte ziemlich klar sein: Verliebte schreiben keine Bücher. Ich neige dazu, mich Roland Barthes anzuschließen, wenn er sagt: „Gleichwohl – warum sollte ich es nicht sagen? – gab es kristallisierend wirkende Episoden. Man könnte sagen, dass ich das Buch (die „Fragmente“) als eine Möglichkeit verstanden habe, mich nicht zu verlieren, nicht der Verzweiflung anheimzufallen. Ich habe es geschrieben, wodurch sich die Dinge selbst dialektisiert haben.“

Adrian:   Das ist eine recht undurchsichtige Antwort, und es scheint mir vor allem nicht deine eigene zu sein.

Josef:   Nun schau her, was mit „kristallisierend wirkenden Episoden“ gemeint ist, zeigt sich beispielsweise an der einzigen in diesem Buch enthaltenen Prosa (S. 191-201). Es gibt Seelen und Körper, die sich im Feuer dieser Kristallisation gehäutet und geformt haben. Ich habe selbst eine große Distanz zu Liebesgeschichten und bevorzuge knappe, pointierte lyrische Formen. Aber diese Formen lassen sich nicht gewinnen, wenn die „Dinge sich nicht selbst dialektisieren“.

 Adrian:   Demnach sind es wohl immer Anfang und Ende von Liebesgeschichten, die zum Schreiben bewegen?

Josef:   Schreiben besitzt eine wunderbar besänftigende Kraft. Auch da folge ich Roland Barthes. Ich schreibe erst seit fünf oder sechs Jahren. Und jeder kann ermessen, dass die Distanz schaffende Kraft des Schreibaktes kaum einen Unterschied macht hinsichtlich der zeitlichen Dimension der Anlässe und Kristallisationen. „Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“ Vollkommen einverstanden mit Hartmut von Hentigs Bildungsverständnis (1996, 15f.) betrachte ich meine Erfahrungen mit Liebe und Tod als einen einzigen unabgeschlossenen Prozess der Selbstbildung, von dem ich hoffe, dass er bis zu meinem eigenen Ende andauert.

 Adrian:   Hmh, warum immer gleich so pathetisch und philosophisch, gib doch einfach einmal Butter bei die Fische. Schließlich bist du es doch selbst, der da – als Verliebter – immer wieder spricht?!

Josef:   Auch hier antworte ich dir mit Roland Barthes, der im Übrigen zugibt, dass seine Antwort wie ein „Ausweichen“ erscheinen mag. Doch für meine Begriffe legt er auf überzeugende Weise dar, dass dem nicht so ist: „Das Subjekt, das ich selber bin, bildet keine Einheit. Dies empfinde ich zutiefst. Die Aussage ‚Das bin ich!’ hieße somit, eine Einheit seiner selbst zu postulieren, die ich in mir nicht wieder finde.“

 Adrian:   Das ist eine unmögliche Antwort! Du bist ein Hinkebein und ein Chamäleon!

Josef:   Ja, das habe ich in einem meiner Gedichte – Hirnflimmern – genau so beschrieben.

Adrian:   Lass uns das Thema wechseln. Kehren wir noch einmal zurück zur Konstruktion dieses Büchleins. Warum diese „Interviews“ – warum nicht nur Lyrik oder Geschichten?

Josef:   Es ist genau die schon angesprochene Differenz zwischen den Möglichkeiten einer theoretischen Sprache und einem damit verbundenen Diskurs auf der einen Seite und den damit nie einholbaren Möglichkeiten einer poetischen Sprache auf der anderen Seite. Mit letzterer spricht man nicht über die Liebe, sondern in denen manifestiert sich im Wesentlichen eine Sprache der Liebe. Natürlich werden auch Interferenzen, Grenzbereiche sichtbar, sozusagen ein Oszillieren zwischen diesen beiden Sprachwelten.

Adrian:   Wozu aber hast du mich erfunden? Bist du dir selbst nicht genug?

Josef:   Ich schätze dich, lieber Adrian, als ein Alter Ego, als eine Distanz schaffende Persönlichkeit, in der ich nie ganz aufgehen würde und die selbstverständlich in mir auch nur sehr bedingt aufginge.

Adrian:   Aber warum diese Interviews? Ich gebe zu, es hat mir eine Menge Spaß gemacht zu lauschen, zu fragen, zu intervenieren, zu irritieren. Aber so ganz habe ich das Prinzip und die Absicht noch nicht verstanden, die hinter alledem stehen.

Josef:   Roger Philippe und Roland Barthes haben mich auf die faszinierende Idee gebracht, Zugänge zu eher sperrigen, teils langatmigen Texten auf eine ungewöhnliche Weise zu eröffnen.

Adrian:   Kannst du das noch etwas genauer erklären?

Josef:   Ja, es ist genau dieses Prinzip, das du hier zur Anwendung bringst: Einen sich linear, monologisch entwickelnden Text zum Schwingen und Flimmern zu bringen; aus dem langen Atem die kurze Weile zu schöpfen; zu unterbrechen, nachzufragen, eben nicht dem Monolog zu folgen, sondern in der Fragehaltung immer auch inkongruente Perspektiven ins Spiel zu bringen.

Adrian:   Und wie bist du zu den Texten gekommen?

Josef:   Darauf kann ich nur bedingt eine Antwort geben. Ich bin ganz überzeugt davon, dass die Texte im Wesentlichen zu mir gekommen sind – und dies auf unterschiedliche, immer wieder faszinierende Weise. Ich bin ja kein Spezialist für die Semantiken der Liebe – vielleicht ein ganz klein wenig für ihre poesiegeschwängerten Auswüchse. Das Faszinierendste ist einfach die Erfahrung, aus einem nahezu unendlichen Ozean von Texten die herauszufischen, die in dir selbst etwas zum Schwingen bringen.

Adrian:   Und dazu gehört zum Beispiel auch dieses unverdauliche systemtheoretische Sprachspiel?

Josef:   Ja, der Mensch lebt ja nicht von Luft und Liebe allein; zumindest die filigranen Luftgebilde stillen nur eine Sehnsucht, tief in den Gedärmen und ihren kognitiven Sinnderivaten. Für den Kopf gönne ich mir – auch wenn es manchmal Kopfschmerzen macht – Niklas Luhmann, Peter Fuchs und Peter Sloterdijk. Und am besten, dafür steht der Sloterdijk ja nun zur Gänze, ist es halt, wenn’s auch schon einmal mit der Sprachachterbahn quer durch Kopf, Beine und Gedärme geht, wenn die Birne flimmert und die Knie zittern.

Adrian:   Du hast also Originaltexte genommen und komponierst dir eine dialogische oder auch multilogische Partitur?

Josef:   Mit dem größten Vergnügen. Nehmen wir z.B. den Aufsatz von David Schnarch „Der Weg zur Intimität“. Er ist in einem Periodikum erschienen, das sich als „Interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung“ versteht („Familiendynamik 2/2004), also eher an „Spezialisten“ adressiert ist. Auf der anderen Seite entwickelt Schnarch – der Name ist hier nicht Programm – eine hochinteressante, anregende Betrachtungsweise, die beispielsweise davon ausgeht, dass sexuelle Intimität und intensive Erotik in der Ehe vom Grad der individuellen Differenzierung der beiden Partner abhängen; und noch etwas spezifischer, dass der Schlüssel zu (sexuellem) Wachstum in der Fähigkeit liege, Angst aushalten zu können. Das sind doch höchst irritierende Sichtweisen, die ein breiteres Publikum verdient haben.

Adrian:   Soll ich jetzt lachen, oder meinst du das ernst mit einer Auflage von gerade einmal 50 Exemplaren? Und würdest du vielleicht noch ein anderes Beispiel beschreiben!

Josef:   Volltreffer! Aber es ist ja auch ein Akt der Wertschätzung mir selbst gegenüber. Ich verstehe mich selbst als den ersten Adressaten dieses Büchleins. Ja, ein weiteres Beispiel ist das grandiose Buch von Arnold Retzer „Systemische Paartherapie“. Die ersten 55 Seiten des ersten Kapitels „Paare, Ehen und Familien: Sinn und Kommunikation“ entwerfe ich mit deiner Hilfe zu einem anregenden, dialogisch montierten „Interview“, das über ein Frage- Antwort-Spiel der linear aufgebauten Textstruktur eine gewisse Lebendigkeit einhaucht. Die „Liebesbeziehung“ und der „Kommunikationscode der Liebe“ werden auf diese Weise bis zu einer Grenze durchdekliniert, jenseits derer – wie Arnold Retzer sagt – die „Partnerschaft“ einen radikal anderen Kommunikationscode bereitstellt. Es dürfte doch spannend sein zu ergründen, inwieweit sich z.B. mit der „Partnerschaft“ ein sozialer Systemtyp anbietet, der für Paare eine größere soziale Verträglichkeit verspricht. Um über diese Möglichkeiten mehr zu erfahren, müssen unsere Leser allerdings dann auch Arnold Retzers Buch erwerben und lesen. Unser Büchlein enthält da zweifellos eine Reihe von Leseempfehlungen bzw. -anregungen, von deren Ertrag ich überzeugt bin.

Adrian:   Und was ist mit dem Prolog, mit dieser Szene im Café Hahn? Du hast mich teils in unmögliche Situationen hineinmanövriert. Willst du das etwa zur Aufführung bringen – kurzum: Bist du jetzt auch noch unter die Dramatiker gegangen?

Josef:   Nein, mir reicht das Kopfkino. Mit diesen Dialogen lässt sich kein Theater inszenieren. Aber auf der Ebene des Kopfkinos wäre ich schon manchmal ganz gern an deiner Stelle gewesen. Wer weiß, wenn mir die Welt der Textcollage und des Kopfkinos zu eng wird, dann werde ich dich zum Leben erwecken – und gleichermaßen Fleisch und Blut geworden – auf der Bühne des Lebens agieren lassen.

Adrian:   Also gegenwärtig reicht mir das, was ich tue. Du solltest noch etwas sagen zu den anderen „stilbildenden“ Mitteln. Warum gehst du ins Café Hahn mit dieser ganzen Geschichte und bleibst nicht in deinem dir vertrauten universitären Kontext mit seinen Sprachspielen. Der Hahn ist doch kein Ort für solch abgefahrene intellektuelle Hirnwichsereien. Da geht’s doch um Musik und Comedy, um Varieté und Kleinkunst, da wird getrunken, gegessen und gelabert!

Josef:   Genau, ganz genau! Ich brauche eine Bühne, eine Theke, ich brauch Personal! Ich brauch prickelnde Lebendigkeit, ich brauch Kontraste – und ich will Musik. Die Musik ist und bleibt eines der eindrücklichsten und mächtigsten Fragmente einer Sprache der Liebe; es ist die Sprache der Klang(in)fusionen, die unseren unmöblierten, hohlen Köpfen und Seelen (wieder) Leben einhaucht, wie eine Sinndroge, die uns in Gegenwelten entführt. Und genau deshalb ist das Café Hahn in der Anthroposphäre (ein Begriff, den der etymologische Tiefseetaucher Peter Sloterdijk verwendet, ebenso wie den folgenden unterstrichenen) ein Ort der Orte; mit Verlaub gesagt geradezu ein Erototopos, an dem man im Übrigen nicht nur trefflich Gedichte schreiben kann.

Adrian:   Und dennoch ist doch gerade deine Hochschule, diese niedliche, kleine Campus-Uni ein prickelnder Ort, vielleicht auch ein Erototop, der ungeahnte Möglichkeiten der Inszenierung bietet?!

Josef:   Siehst du, ich schätze dich gerade wegen deiner brillanten Ideen. Aber ich habe keine Lust einen weiteren „Campus“ zu stilisieren, obwohl die Uni eine nie versiegende Quelle ist, mit der sich „die Gruppe als ein Ort der primären erotischen Übertragungsenergien organisieren und als Eifersuchtsfeld unter Stress setzen lässt“ (Sloterdijk). Und zweifellos hätten wir auch die tragenden Figuren.

Adrian:   Was zahlst du denn eigentlich dem Sloterdijk für seine Sprachphantasien – die sind ja maßgeschneidert!?

Josef:   Für „Sphären III – Schäume“ (Suhrkamp 2004) musst du bei Reuffel (natürlich auch anderswo) € 29,90 auf den Tisch des Hauses legen. Aber jetzt lass den Quatsch! Es liegt mir einfach am Herzen, meine lieben Leser aus dem universitären Milieu – wie im Übrigen alle Leser – vor einem „Terrorismus der Transparenz“ zu schützen. Dass wir offensichtlich so schon gebeutelt genug sind, zeigt doch ein Zitat von Stefan Breuer aus der FAZ vom 18.6.99, in dem er – in einer kritischen Würdigung von Jürgen Habermas – universitäres Kleinklima im Kontext einer diskursethischen Verortung beschreibt: „Umso rätselhafter, woher Habermas eigentlich sein Vertrauen in radikaldemokratische Öffentlichkeiten, gar den Glauben an die Möglichkeit eines vernünftigen Gemeinbewußtseins nimmt, aus dem sich seine Diskursethik speist. Wenn schon die Universität ein solcher Ort des Mißverständnisses, der theatralischen Inszenierungen und Selbsthysterisierungen ist, als den Habermas ihn decouvriert hat, wie soll es dann erst die Gesellschaft, die hierfür weit weniger Zeit hat, zur Verschmelzung der Verständnishorizonte bringen? Und ist dieses Ziel überhaupt erstrebenswert? Führt es nicht in einen Terrorismus der Transparenz?“

Adrian:   Bei aller Wertschätzung, mein lieber Josef, jetzt bist du völlig übergeschnappt. Aber sei’s drum – wenn du dich jetzt nach der Verschwendung von elf kostbaren Textzeilen besser fühlst!? Ein lieber Freund – Reinhard – eröffnet frohe Runden und Trinkgelage häufig mit dem unvergleichlichen Trinkspruch: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn!“ Ich hab jetzt einfach die Schnauze voll und würde gerne ganz schlicht ein Bier trinken – wenn’s nicht anders geht, auch mit dir gemeinsam.

Josef:   Oh ja – das gefällt mir: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn – Talk im Hahn zwischen (system)theoretischen Irritationen und lyrischen Impressionen“! Das wäre auch ein schöner Titel für dieses Buch gewesen. Komm, Adrian, lass uns rüber in den Bühnenraum gehen, ich höre, der Herbert probt schon, heute gibt’s einen Leckerbissen unplugged. Wir gönnen uns jetzt erst einmal ein frisch gezapftes Kölsch und lassen es ordentlich krachen. Aber vorher gibt’s noch was zu essen, eben live und lecker, wie es hier üblich ist. (Adrian und Josef betreten den Bühnenraum. Herbert Grönemeyer steht auf der Bühne, ganz alleine mit einer Gitarre und singt: „Ich bin dein siebter Sinn, dein doppelter Boden, dein zweites Gesicht…“)

Der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen – Erinnerungen an den Tod meines Vaters im März 1988

Der folgenden Erinnerungen sind dem Buch: "Ich sehe was, was du nicht siehst - Komm in den totgesagten Park und schau" (S. 157-172) entnommen. Die mit Fotos ausgestattete Version kann man sich durch obigen Link verfügbar machen. Der Tod und Sterben von Vater und Mutter - oder auch Geschwistern bzw. Großeltern markieren "Wendepunkte" im Sinne der Luhmannschen "Lebenslauftheorie". Die folgenden - ca. zwölf Jahre nach dem Tod meines Vaters aufgezeichneten - Erinnerungen verbürgen ein große Kontinuität meines Denkens und Fühlens:

Es gab lange Zeit ein kraftvolles Ritual, worin - bei aller frühen jugendbewegten und ablösungsnotwendigen Distanzierung von Traditionen - die Verbundenheit mit den Wurzeln der Heimat und der Gemeinschaft auflebte: Kirmesmontag führte die Familie und die Vereinsgemeinschaft im Festzelt des SC07 Bad Neuenahr zusammen. Das sind die Lebenssituationen, wo man im Sinne von Familienzugehörigkeit und im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft die Zeit anhalten möchte oder zumindest als slow-motion intensivieren möchte. Die Verlangsamung der Bewegung und des Denkens wurde durch den Konsum alkoholischer Getränke begünstigt. Da kamen alle noch einmal zusammen, nicht als Trauergemeinde, nein alljährlich als moderate Sauf- und Festgemeinde. Und mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, vor allen die Ulla, bildeten das Zentrum. Vater und Bruder - schon jeder auf seine Weise Institution und nicht wegzudenkende Keimzellen und Arbeitstiere in diesem alljährlichen Kraftakt des SC07. Und wir, alle anderen waren dabei; früher die Schulfreunde, später die Studienfreunde, die Freundinnen, noch später die Schwiegertöchter, deren Zugehörigkeit von meinem Vater regelmäßig in der Sektbar bekräftigt wurde - bis 1987.

1987 war mit der Kirmes die Wende eingeleitet und die letzte schwere Runde eingeläutet, so dass man, angesichts des Verlaufs dieser letzten sieben Monate, meinem Vater den von ihm immer gewünschten „schnellen Tod“ auch vergönnt hätte. Aber auch wenn diese sieben Monate einen Leidensweg bezeichnen, so war diese Zeit nicht ohne Hoffnung, bis zuletzt. Denn was sich an diesem Kirmesmontag 1987 zeigte, war zunächst nichts anderes als eine Gallenkolik, vielleicht schon eine Entzündung der Gallenblase.

Für mich war dieser Kirmesmontag 1987 aber auch in anderer Hinsicht noch bemerkenswert. Es war die erste Kirmes mit Laura. Laura war genau 2 Monate alt. An diesem Kirmesmontag, einem milden Herbstvormittag, habe ich mit ihr einen langen Spaziergang durch den von mir geliebten Kaiser-Wilhelm-Park bis hoch zum Dahliengarten gemacht. Es gab einen ersten kleinen Anflug von Routine, einen Rhythmus, der es erlaubte, einen Vormittag, einen Tag zu planen und zu gestalten. Diese letzte Kirmes stand also einerseits im Zeichen von Laura - und natürlich auch von Ann-Christin, die ein knappes Jahr älter ist als ihre Cousine Laura. Andererseits nahm dieser schöne Herbsttag eine bedrohliche Wende. Am Nachmittag waren wir bei Ulla und Ernst in Ahrweiler zum Kaffee eingeladen.

Traditionell ging der Frühschoppen über in einen ausgedehnten Kaffee zu Hause in der Kreuzstraße 113. Dort trudelten bis zum späten Nachmittag Verwandte und Freunde ein. Ein großes buntes Treffen; wie immer ein offenes Haus, das wegen seiner Gastlichkeit und Offenheit von vielen Menschen geschätzt wurde. Hier gibt es die schönsten Erinnerungen an den Aufbruch von der Kindheit in die Jugend - von der Schule ins Leben, Kirmesmontag immer ins Festzelt - vom Festzelt in die Kreuzstraße, wo jeder willkommen war.

An diesem Kirmesmontag 1987 war das zum ersten Mal anders. In Ahrweiler verschlimmerte sich das Befinden meines Vaters deutlich. Die Schmerzen nahmen zu, und wir entschlossen uns nach langer Beratung und den unausweichlichen Widerständen meines Vaters ins Krankenhaus zu fahren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange der erste Aufenthalt meines Vaters im Bad Neuenahrer Maria-Hilf-Krankenhaus gedauert hat. Behandelt wurde jedenfalls eine Entzündung der Gallenblase. Es gibt im Verlauf dieses ersten Krankenhaus-Aufenthalts meines Vaters eine kleine Geschichte, an die ich mich erinnere: Der „Män“, ein etwa gleichaltriger Cousin meines Vaters (auf diesem Foto zwischen meiner Mutter und der Schwester meines Vaters, Tante Agnes) hatte eines Tages „Reibekuchen“ - in Koblenz sagt man dazu „Krebbelchen“ - mit ins Krankenhaus gebracht. Das sind flache, in Fett ausgebackene Kartoffelkuchen. Rohe Kartoffeln werden fein gerieben, mit Eiern, fein gewürfelten Zwiebeln vermischt, dann mit Salz, Pfeffer und Muskat gewürzt und in der Pfanne mit viel Fett oder Öl ausgebacken; eine absolute Lieblingsspeise meines Vaters. Er hat drei oder vier Stück davon prompt gegessen und damit in der Familie einen Eklat heraufbeschworen. Der „Män“ - der heute noch lebt - war seither „persona non grata“. Rückblickend würden natürlich alle miteinander - bei aller Unvernunft - sagen, gut, dass er sie sich hat schmecken lassen. Daran ist er nicht gestorben.

Wie dann im Weiteren die Verlegung in den Koblenzer Kemperhof zustande gekommen ist, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Die Gallenblase sollte entfernt werden. Warum dies nicht in Bad Neuenahr, sondern im Kemperhof geschah, weiß ich nicht mehr. Uns bescherte das in Güls immerhin den fast vierwöchigen Besuch meiner Mutter. Wir wohnten damals „Im Pühlchen 1a“ - in einer großen, sich über das erste Obergeschoss und das Dachgeschoss erstreckenden Wohnung. Von unserem Dachbalkon aus konnte man auf die Mosel schauen und schräg gegenüber, moselabwärts bis zum alten Kemperhof. Eingeprägt hat sich mehrfach ein Bild, bei dem ich am Fenster stehend meine Mutter mit meinen Blicken begleite, während sie auf der anderen Moselseite in Richtung Kemperhof geht; ab und zu auch noch den Kinderwagen mit Laura vor sich herschiebend. Der Fußweg von uns zum Kemperhof beansprucht etwa eine halbe Stunde über die Gülser Eisenbahnbrücke und dann am Moselufer mit seinen hohen Bäumen entlang.

Im Kemperhof ist mein Vater im November 1987 operiert worden. Diese Operation gestaltete sich kompliziert, eher durch die Schwierigkeiten einer angemessenen Anästhesie. Durch die Hirnschläge und wohl auch eine massive Beeinträchtigung des Herz-Kreislauf-Systems barg die Operation unkalkulierbare Risiken. Ich arbeitete damals beim Caritas-Verband in der Sprachförderung und Betreuung von Aussiedlern und Asylbewerbern. Ich habe - wie immer in solch existenziell bedrohlichen Situationen - alte Ängste und Befürchtungen in mir verspürt, die mich schon früh begleitet haben in dem Wissen um nachhaltige gesundheitliche Belastungen und Gefährdungen meiner Eltern.

Die Operation und die erste Phase danach hat mein Vater so überstanden, dass Hoffnung auf nachhaltige Gesundung bestand. Wir haben sogar damit begonnen, Vorbereitungen für seinen 65. Geburtstag am 11.12.1987 zu treffen. Auch hier gibt es im Vorfeld eine kleine Episode, die mich lange belastet hat und die fehlende Souveränität „junger, alter“ Eltern zeigt: Die Entlassung aus dem Kemperhof war von mir so arrangiert, dass eine erste Station - vielleicht sogar mit einer Übernachtung - bei uns in Güls sein sollte. Es hat großen diplomatischen Geschicks bedurft, um meinem Vater deutlich zu machen, dass er zu Hause eine bessere Möglichkeit der Erholung und Betreuung habe. Der eigentliche Grund, mögliche Infektionsgefahren für unser Baby - Laura - kommt mir heute absurd vor. Die Sorge war übertrieben und hat lange Jahre in Ansätzen einer fortgesetzten Haltung der Überfürsorglichkeit und der Vorsicht eine fragwürdige Kontinuität erfahren. Ein kleiner Trost liegt in den wenigen Begegnungen, die mein Vater dennoch mit Laura noch gehabt hat.

Es ist sicherlich die richtige Stelle, um zu erzählen, dass die Beziehung meines Vaters zu Ann-Christin sehr viel intensiver gewesen ist. Ihren dramatischen Höhepunkt hatte sie in einer akuten Magen-Darm-Infektion Ann-Christins, bei der zum Schluss wohl Stunden über Leben und Tod entschieden haben müssen. Ann Christin war zu diesem Zeitpunkt wohl erst ein halbes bis dreiviertel Jahr alt. Kinderarzt und örtliches Krankenhaus waren mit der dramatischen, über extremen Flüssigkeitsverlust einsetzenden Lebensgefahr überfordert. Nur der entschlossenen Haltung Helgas und Willis, die nachts nach St. Augustin in die Kinderklinik gefahren sind und der dort erfolgenden Akutmaßnahmen ist die Rettung Ann-Christins zu verdanken. Für meinen Vater muss dies eine Grenzerfahrung gewesen sein, die sich in seiner tiefen Art der Zuneigung und der Faszination über dieses Enkelkind - der Michael war damals ja schon 25 Jahre alt - ausgedrückt hat.

Wie schwierig im Übrigen für relativ „alte Eltern“ die Eingewöhnung in die Welt mit Kind war, zeigt der im engen zeitlichen Kontext stehende 50. Geburtstag meines Schwagers Ernst. Am 3. Dezember feierte er seinen runden Geburtstag auf der Adenbach-Hütte in Ahrweiler. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt noch nicht soweit, als dass er daran mit Lust und Laune hätte teilnehmen können. Meine Eltern wohnten noch in meinem Elternhaus in der Kreuzstraße 113, während Willi und Helga mit Ann-Christin noch auf der anderen Ahrseite in einer großen städtischen Wohnung lebten, die in den Gebäudekomplex des städtischen Gartenschwimmbades integriert war. Sie hatten uns angeboten dort zu übernachten.

Rückblickend stellt sich unser (Claudias und mein) Verhalten als ein über die Maßen ängstliches Such- und Tastverhalten dar. Ein kleines Beispiel mag in der diplomatischen Zurückweisung liegen, mit der wir alle „Einmischung“, teils auch Formen von Nähe zurückwiesen. Den eigenen Weg auf unsicheren Füßen selbst suchen und finden. So geriet dieser Geburtstag zu einem einzigen Horrortrip, weil wir uns entschlossen hatten, Laura in Willis Wohnung am Schwimmbad unter Betreuung einer Bekannten für einige Stunden „allein“ zu lassen. In der Unsicherheit und in der Ängstlichkeit gab es kaum Unterschiede. So konnten wir uns natürlich auch nicht mit der entsprechenden Ruhe und Gelassenheit der Geburtstagsfete zuwenden. Und natürlich hat Laura die drei Stunden unserer Abwesenheit unentwegt geschrieen; aber immerhin hat sie‘s überlebt.

Eine deutliche Erinnerung habe ich allerdings noch daran, dass ich gegen 20 Uhr, nachdem das Büfett eröffnet war, mit leckeren Sachen von Ahrweiler aus nach Bad Neuenahr gefahren bin, um meinem Vater ein köstliches Abendessen zu bringen. Eine Zeit lang - vielleicht eine halbe Stunde - habe ich mit ihm zusammen gesessen, und es ist mir ein recht lebendiges Bild in Erinnerung geblieben: Unser Wohnzimmer in der Kreuzstraße war - wie wohl die meisten Wohnzimmer in den 70er und 80er Jahren – eigentlich ein „Fernsehzimmer“. Neben der obligatorischen Couch mit Wohnzimmertisch stand meines Vaters Fernsehsessel, einer Erfindung der 70er Jahre. Ein breiter, bequemer Sessel, den man dank eines stabilen Kippmechanismus in einen Liegesessel verwandeln konnte, ausgerichtet, nicht in kommunikationsförderlicher Weise, auf die anderen Sitzgelegenheiten hin, sondern daran vorbei auf den Fernseher, der in einer eigens dafür ausgesparten Fernsehnische im Wohnzimmerschrank stand.

Als ich kam, saß er dort, vermutlich bei einer seiner Lieblingssendungen (Der Fahnder, Stan und Olly...): „Wie isset?“ „Et jeit!“

Es ging - ich habe jetzt seitenlang belangloses Zeug zusammengeschrieben, nur um mich zu der Grundstimmung vorzuarbeiten, die mir mehr hoffend als zuversichtlich sagte: Geschafft! Die Tortur der letzten zwei Monate ist ausgestanden, eine Ende ist gefunden, ein Anfang gemacht. Die Ursache allen Übels - eine entzündete Gallenblase - ist entfernt. Und in dieser Entfernung von drohendem Übel zeigt sich die Perspektive der nächsten Jahre überdeutlich. Und in der Tat, es schmeckte meinem Vater wieder. Er hatte - und dies sollte sich in den nächsten drei bis vier Monaten noch deutlich stabilisieren - einige Kilogramm zugenommen, und er hatte seine rosa-rote, eher gesund als kränklich erscheinende Gesichtsfarbe, er hatte das alte schelmische Lachen zurückgewonnen, er neigte wieder mehr zu einer scherzhaften mit sanfter (Selbst)Ironie gepaarten Grundhaltung. Und vor allem: Er nahm Zug um Zug seine gewohnten Aktivitäten wieder auf. Morgens ausschlafen, Besorgungen machen (mit dem Auto) für die eigene Familie, für die Nachbarschaft, regelmäßiger Mittagstisch, nachmittags ein Spielchen. Nicht mehr Skat, dafür war die Frauenpräsenz zu erdrückend. Mama, Tante Annemie, Frau Jochemich, Frau Thieme, so gut wie keine Männer; also eher Rommé oder Kniffel. Die Männer kamen dann abends ins Spiel. Wer Mann bleiben will, muss unter Männer gehen.

Am Abend - und ich glaube es gab in den letzten Jahren in der Woche wenige Abende, an denen dies nicht der Fall war - war Theo die gute Seele im Vereinsheim des SC07 Bad Neuenahr. Ja meine Güte, wenn das nicht heißt: Jetzt, mit 65 über den Berg und dann auf der Hochebene noch mal 10 bis 15 geruhsame Jährchen, natürlich auch im Vereinsheim; das lag mal gerade 100 Meter von der Kreuzstraße. 113 entfernt auf der anderen Straßenseite. Dort trug er die Verantwortung für die gesamte abendliche Betreuung sowie für wichtige Angelegenheiten des Spielbetriebs. Da war über Jahre eine gewisse Unentbehrlichkeit: Einkauf, Thekenbetrieb sicherstellen (Würstchen und Brot, Getränke), den Spielbetrieb ermöglichen: Organisation des Waschens und Pflegens der Trikotagen, Instandhaltung = Aufpumpen und Fetten der Bälle; Verkauf, ja Thekenbetrieb! Und die sonntäglichen Aufgaben eines Platzwarts. In diese Arbeiten hat er mich Zug um Zug einbezogen. Viele Jahre haben wir gemeinsam den Spielbetrieb gewährleistet und damit eine angenehme Aufbesserung meines Taschengeldes sichergestellt.

Nach dem Training, nach dem Duschen trafen sich Spieler und Trainer zu einem Bier, einem Würstchen und zu „Plänerei“, zum Fachsimpeln. Vorher aber, während die Jungs noch trainierten, trafen sich im Vereins-heim, an dessen Wänden die Zeugnisse einer glorreichen Vergangenheit den passenden Rahmen abgaben, also dort - nicht im „buena vista-social-club“, sondern im „buena-vista-football-social-club“, dort trafen sich die alten Kämpen: immer, solange er lebte Witsche-Pitte (Namens-, Job-, Kampf-, Weggefährte meines Vaters in Beruf, Hobby und Spiel und Vater von Peter-Georg, der in Kinder- und Schulzeit mein Weg- und Kampfgefährte war), die Brüder von Witsch-Pitte, der Albert, der Hans, Elfgangs Pitte, Schwedens Heinz, Wirtze Jünter, sein Schwager, H.G. Hansen und wie sie alle hießen. Alle tranken ein Bier, zwei oder drei, viele aßen ein Würstchen, mein Vater immer. Die Würstchen waren excellent - und mein Vater machte Profit. Der Gewinn floss in die Vereinskasse. Ein elementares, urwüchsiges Phänomen der Gemeinschaftserfahrung. Der Fußballplatz und das Vereinsheim vor der Haustüre. Dort war ein Ort der Sozialisation, für meinen Vater ein zentraler Lebensmittelpunkt, ein Ort, an dem sich leben, trinken, essen, lachen, erzählen ließ, an dem die Höhen und Tiefen der Vereinsgeschichte durchlitten, gefeiert und bewältigt wurden.

Wundert es da, dass am 17. April 1988 der Anruf kam, von dem ich an anderer Stelle gesagt habe, dass er irgendwann kommt, und dass er kommen darf, am Tag und in der Nacht. Aber er kam gar nicht in der Nacht. Es geschah am helllichten Tag, kurz vor Abpfiff. Ab und zu habe ich es mir auch noch als verheirateter Mann und sogar noch als Vater herausgenommen, die erste oder zweite Mannschaft unseres Vereins anzuschauen. Aus diesen seltenen Erfahrungen weiß ich, wie schon früher an eigener Haut erlitten, die unsäglichen Reaktionen und die „Anteilnahme“ der Altvorderen einzuschätzen. Wenn die Jungs, die ja letztlich - als aktuelle erste oder zweite Mannschaft die Vereinsfarben vertreten, versagen, die hochgeschraubten Erwartungen enttäuschen, wenn klar wird, wie klaffend groß ihr Unvermögen gegen die eigene Klasse sich ausnimmt, ja dann war die Stunde der Adrenalinschübe, der fortgesetzten Hypertonie, der Zornesausbrüche, der stillen Enttäuschung und des Schmerzes über den Verlust der eigenen Jugend und der eigenen Unbesiegbarkeit. Meinem Vater trete ich mit der letzten Aussage uneingeschränkt zu nahe. Ihn, gerade ihn, habe ich Zeit meines und seines Lebens als über die Maßen fairen Sportsmann erlebt. Da nahm er als Jugendbetreuer auch keine Rücksicht auf meinen Lahnsteinschen Jähzorn. Konsequent stellte er mich als Gastschiri in Dernau während eines C-Jugendspiels vom Platz, als ich einen schwergewichtigen Gegenspieler, der es geschickt verstand, den Ball abzudecken, in den Allerwertesten trat, als mir der Geduldsfaden riss. Fortan war Fairness eine Lektion, die ich in beständiger Anschauung – und in demütiger Akzeptanz ab und zu auch heute noch aufwallenden Jähzorns - von meinem Vater gelernt habe. Das nachstehende Foto zeigt ihn übrigens mit seinen „Schwägern“, Onkel Günther (Wirtz- ganz links) und Onkel Fred (Boemann- ganz rechts) als Mitglieder der Meistermannschaft von 1948) – aber um die Fotos anzuschauen, müsst ihr euch die Originalversion (S. 157-172) herunterladen.

Es muss jedenfalls eine dieser schmerzlichen Niederlagen gewesen sein, die über die Jahre einen stolzen Verbandsliga-Verein Zug um Zug in die Mittelmäßigkeit eines Landes-, später eines Bezirksligisten geführt hatten - den Niedergang in die Kreis-(A)-Klasse hat er nicht mehr erleben müssen, wobei das im Übrigen an seiner Vasallentreue dem Verein gegenüber nicht ein Jota verändert hätte - und die vielleicht an diesem Sonntag, dem 17. April 1988 den Auftakt bedeutet hatte zum finalen Show-down. Der finale Niedergang mit Insolvenz und Vereinsauflösung „seines“ SC 07 Bad Neuenahr im Jahr 2014 hätte sicherlich identitätsgefährdend, wenn nicht –auflösend gewirkt. Aus dem Elysium heraus mag sich all dies (hoffentlich) etwas milder ausnehmen.

Der Anruf kam irgendwann nachmittags gegen 16.00 Uhr. Ich solle mich nicht aufregen, aber man habe Papa vorsorglich ins Krankenhaus gefahren. Es sei ihm während des Spiels der 1. Mannschaft „schlecht“ geworden. Er ist wohl noch nach Hause gekommen und dann aber selbst damit einverstanden gewesen, ärztlichen Rat hinzuzuziehen, auch am Sonntag. Aufrecht sitzend auf der Bahre, aber schon mit den Füßen voraus, ist er aus dem Haus getragen worden, Nachbarn noch zuwinkend mit dem Hinweis, die (die Ärzte) würden nur mal nachsehen, in ein paar Tagen sei er wieder da. Ich war schon eine Stunde später da, im Krankenhaus Maria Hilf, in Bad Neuenahr. Aber ich war schon zu spät, um mir selbst die hoffnungsvolle Botschaft von ihm abzuholen, er sei in ein paar Tagen wieder da. Mama, Willi, Ulla, Ernst, Gaby, die ihn begleitet hatten, konnten mir nur mitteilen, im Krankenhaus, noch während der ersten Untersuchung, sei ein zweiter Infarkt hinzugekommen. Er sei jetzt auf der Intensivstation, wo alles Erdenkliche getan werde, aber dort könnten wir jetzt nicht hin.

Gerade in einer solchen Situation lässt man sich von solchen Hinweisen allzu gern beschwichtigen. 1988 hatte die Intensivmedizin schon allerhand auf der Pfanne. Wenn vom Zeitpunkt des ersten Infarkts bis zur notärztlichen Versorgung und schließlich bis hin zur intensivmedizinischen Klaviatur mal gerade eine Stunde vergangen war, ja verdammt noch mal, dann müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man diesem kein Schnippchen schlagen würde.

Ja, verdammt noch Mal, es ging mit dem Teufel zu. Vom 17. bis zum 24. April dauerte das langsame, schnelle Sterben meines Vaters. Wir haben an diesem Sonntag in der Kreuzstraße zusammengesessen und dabei auch überlegt, wie wir gemeinsam uns vereinbaren und kümmern könnten. Ich bin nach Hause gefahren an diesem 17. April, habe mir montags Urlaub genommen und bin mittags nach Bad Neuenahr gefahren und habe meinen Vater erstmals nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus gesehen. Er lag ruhig und „ohne Bewusstsein“, verstrippt mit verschiedenen Überwachungsgeräten und an Infusionen angeschlossen. Später erst habe ich erfahren, dass die Herz-Lungen-Funktion unterstützt wurde, und dass der Organismus aus eigener Kraft wohl schon da, an diesem Montag nicht mehr lebensfähig gewesen wäre. In der Ruhe und mit „gesunder“ Gesichtsfarbe - eigentlich so, wie ich ihn in den letzten Jahren immer gesehen habe, wenn er sich in seinen Grenzen wohlgefühlt hat - war mein persönlicher Eindruck eher von Zuversicht getragen, auch von Hoffnung und Vertrauen in ärztliche Kunst und Kompetenz. Skeptisch im Sinne von nüchtern und später auch Abgeklärtheit war am ehesten meine Schwester. Sie hatte auf dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der Altenpflege vielleicht den klarsten Blick. Wir, der enge Kreis, die wir wohl auch hier eher intuitiv geleitet, uns an diesem Montag entschlossen haben, dafür zu sorgen, dass immer jemand bei ihm sein sollte, waren wirklich der enge, innere Zirkel, der in solchen Grenzsituationen darüber entscheidet, wer was tut und wer was lässt: Mama, Ulla, Willi und ich, im weiteren Kreis - eher als Besucher - Gaby, meine Tanten Annemie (Schwägerin) und Agnes (Schwester meines Vaters), meine Schwägerin Helga, mein Schwager Ernst und mein Onkel Günther (Schwager meines Vaters, ob der einmal da war, vermag ich nicht mehr zu erinnern) und schließlich Claudia, die aufgrund der erst acht Monate alten Laura in Güls gebunden war.

Inwieweit sich Hoffnung, Fatalismus, Resignation, Aktionismus und stille Verzweiflung zu einer Haltung vermischten ist mir bis heute nicht ganz klar. Klar hingegen ist, dass diese Mischung für diese eine intensive Woche eine Grundausstattung bedeutete, die uns alle eingebunden hat in die Begleitung zum Tod hin. Was aus einer anderen Dynamik und einem anderen Verlauf resultiert wäre, vermag ich nicht zu sagen. Anfangs war auch kein Gedanke an das Ende. Dessen Unausweichlichkeit hat sich - zumindest für mich - erst nach Tagen herauskristallisiert. Die ersten Tage saßen wir häufiger noch gemeinsam an seinem Bett und ich erinnere mich, dass aus der Gleichförmigkeit der akustischen Signale der Überwachung und der Unterstützung sowie aus der eigentlich ebenso gleichförmigen, ruhigen Ausstrahlung seines Daliegens eher auch für mich Hoffnung auf Besserung und eine Wende seines Zustands resultierte. Ich hatte mittwochs oder donnerstags ein Gespräch mit einem der diensthabenden Ärzte. In diesem Gespräch wurde erstmals von einem Arzt in Aussicht gestellt, dass bei der Schwere des Infarkts eine Besserung seines Zustands und eine Rückkehr in die Familie nur bedeuten könne, als Schwerstpflegefall weiterleben zu müssen, im Rollstuhl, mit gravierenden Lähmungsfolgen, u.U. auch Hirnschäden und damit verbundenen Beeinträchtigungen.

Vielleicht begann damit für mich der bewusste Prozess, der Beginn des Abschiednehmens mit ständig schwindender Hoffnung. Viel deutlicher hat dies zu diesem Zeitpunkt meine Schwester gesehen. Und sie hat wohl auch nach Gesprächen mit den zuständigen Ärzten zum ersten Mal mit meiner Mutter gemeinsam erwogen, die lebensverlängernden Maßnahmen (Herz-Lungen-Maschine) in Frage zu stellen. Zu einigen Ärzten gab es von Willis und Helgas Seite aus auch private Kontakte. Der Tenor all dieser Gespräche lief auf ähnliche Prognosen hinaus. Diese eine Woche bereitete mich darauf vor, das Unabwendbare nicht mehr auszuschließen. In diesen Tagen hatte sich für mich ein Rhythmus herausgebildet, der mir intensiv Gelegenheit bot, mich mit dem Tod als Möglichkeit auseinanderzusetzen.

Bis auf die letzte Nacht, von Samstag auf Sonntag, bin ich immer „nach Hause“ - nach Güls - gefahren, habe dort einige Stunden verbracht, Besorgungen gemacht, mich mit Laura beschäftigt und bin dann - nach einem groben Plan und ad hoc-Entscheidungen zu meinen „Wachen“ gefahren. Gerade die Fahrten - frühmorgens oder in der Nacht gaben immer Gelegenheit ein wenig Abstand zu gewinnen, gleichermaßen aber auch im Allein-Sein die Vorstellung von einem Leben ohne meinen Vater in meinem Vorstellungshorizont zuzulassen; um auch darüber nachzudenken, was uns beiden „Nihilisten“ denn nach diesem Ende bliebe? Im Gegensatz zu meiner Mutter hat mein Vater nie erkennen lassen, dass es für ihn die Hoffnung auf ein Jenseits gebe, auf irgendetwas, was den Tod nicht als ein Nichts verstehe. Das war kein Thema für gemeinsame Gespräche, es war eher eine zutiefst skeptische, vielleicht indifferente Haltung zu allem, was das Diesseits in irgendeiner Weise überschritt. Aber auch solch einer Sichtweise gegenüber wirkt eine skeptische Haltung eher befreiend.

Seit den dreizehn Jahren, die seither vergangen sind, hat sich mein eigenes Denken Schritt für Schritt von der Hybris entfernt, die aus unserem Denken und Erkenntnisvermögen irgendwelche veritablen Positionen ableiten will, mit denen Klarheit in die Welt, in das Sein und das Nichts zu bringen wäre. Kleine Geschichten haben mich zutiefst irritiert und tiefe, mir wohltuende Skepsis erzeugt gegenüber allen „rational“ begründeten Positionen, die vorgeben mehr zu wissen, als dass wir wissen, dass wir nichts wissen.

In der Nacht vom 23. Auf den 24. April habe ich bis 4.00 Uhr in der Frühe am Bett meines Vaters gesessen. In mir war in dieser Nacht mehr Unruhe. Ich bin oft nah an das Bett zu ihm hingegangen. Augenscheinlich – nach Fülle und Farbe seiner Gesichtszüge - sah mein Vater „gut“ aus. Die Maschinen täuschten die Regelmäßigkeit des Atmens und des Herzschlags vor. Und dennoch war da etwas anderes. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bin ich zum Abschied ganz nah zu ihm hingegangen und habe seinen Kopf in meine Arme genommen. Ich habe mit ihm gesprochen und habe zu ihm gesagt: „Papa, mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“ Tränen sind mir dabei über mein Gesicht gelaufen und meine Überzeugung ist bis heute, dass die Augen meines Vaters, die ge-schlossenen Augen feucht geworden sind, dass eine Form von Resonanz da war. Wir haben an diesem Morgen beide Abschied genommen. Ich bin nach Hause, nach Güls gefahren, und der Anruf, dass er gestorben war, kam im Laufe des Tages. Eine zunehmende Gewissheit, dass die medizinischen Möglichkeiten nicht mehr weiterhelfen, hatte auch Vorbereitungscharakter. Und dennoch: Die Nachricht wirkte wie ein Keulenschlag, und ich habe sie auch nicht „gefasst“ aufgenommen, sondern mit Bitterkeit und Fassungslosigkeit. Es war eine stille, verzweifelte Haltung, in der sich der Körper krümmt und die Tränen hemmungslos fließen. Ich habe vielleicht eine Stunde in meinem Arbeitszimmer verharrt, bevor sich in mir wieder Regung zeigte.

Die Handlungsimpulse sind mir bis heute unklar geblieben. Wie in einer Trance bin ich dann irgendwann an eines der Regale gegangen, in denen tausende von Büchern standen und habe eines „zielsicher“ genommen. „Zielsicher“ nicht in dem Sinne, dass ich irgendetwas gewusst, gesehen hätte, sozusagen absichtsvoll dieses und nur dieses Buch und kein anderes aus dem Regal genommen hätte. Nein, ich habe dieses und kein anderes Buch genommen, ohne damit eine klare und zielgerichtete Handlung zu vollziehen. Und dieses Buch fällt an einer Stelle auf, man kann sagen an einer „Soll-Auffall-Stelle“, wo ein getrocknetes Kastanienblatt seit fast 20 Jahren unberührt auf diesen Tag gewartet hatte. Das Blatt - dies war in meiner Erinnerung sofort präsent - hatte ich aus einer Kastanie gezogen, die ich selbst zum Keimen gebracht hatte. Das größte und ebenmäßigste Blatt habe ich damals getrocknet und gepresst und in dieses Buch eingelegt. In diesem „philosophisch-politischen Lesebuch“, das Schriften und Aufsätze von Karl Jaspers zusammenfasst, hatte ich fast zwanzig Jahr zuvor gelesen und mir einige Textstellen markiert:

„Wir sterben hin zu den geliebten Toten. Sie empfangen uns in ihrem Kreise. Nicht eine Leere des Nichts nimmt uns auf, sondern die Fülle des wahrhaft gelebten Lebens. Wir treten ein in einen von Liebe erfüllten, durch Wahrheit hellen Raum.“ Und dann:

„Die Gewissheit der Ewigkeit spricht Sokrates noch im letzten Augenblick seines Lebens aus. Auf Kritons Frage, wie sie ihn bestatten sollten, lächelte er und antwortete: Kriton will es mir nicht glauben, daß dieser Sokrates hier, der jetzt mit euch spricht, mein wahres Ich ist. Er glaubt vielmehr ich sei jener, den er in kurzem als Leichnam sehen wird. Daher die Frage, wie er mich bestatten soll. Aber, fährt er fort, wenn die Freunde seinen Leib verbrennen oder begraben sehen, sollen sie nicht die Fassung verlieren, als ob Sokrates etwas Schreckliches widerführe, und nicht sagen, dass es Sokrates sei, den sie hinaustragen oder beerdigen. Es ist nur sein Leib, den sie bestatten, so wie es ihnen lieb ist und es am meisten dem Brauch zu entsprechen scheint. Er selbst ist längst davongeeilt.“

Natürlich habe ich diesen Text aus dem Menon-Dialog (Phaidon) mit nach Neuenahr genommen. Und kein Text aus den Schatztruhen der Menschheitskulturen hätte mich und vielleicht auch die anderen besser vorbereiten können auf das, was zwar aus der Tradition christlicher Bestattungsriten eine gute und notwendige Form des Abschiednehmens darstellt, aber eher unter den Bedingungen, die das Sterben noch im familiären Kreis kennt. Von meiner Oma und von meinem Opa haben wir auf diese Weise Abschied genommen, zu Hause. Meine Mutter hat uns vorgeschlagen und uns Geschwister gebeten, mit ihr (und Liesel, ihrer Cousine aus Niederadenau) gemeinsam dies in der Leichenhalle des Friedhofs zu tun. Für mich und die anderen war klar, dass wir ihr diesen Wunsch nicht versagen würden. Ich erinnere mich, dass ein Beutel mit seinen Lieblingsbonbons als „Wegzehrung“ und auch noch ein Kettchen in den Sarg gelegt wurden, und ich bin erstaunt, dass auch bei uns „heidnische“ Riten lebendig waren.

Die Kraft und der Trost der zitierten Textstelle beziehen sich auf die Erschütterung, die ich beim Anblick der „sterblichen Hülle“ meines Vaters erfuhr. Ich wähle bewusst diesen Begriff der „sterblichen Hülle“, weil so sehr offenkundig wurde, wie sehr die lebenserhaltenden Maßnahmen über den eigentlichen Verfallsprozess doch hinweggetäuscht hatten. Und mehr denn je zweifle ich an der Sinnhaftigkeit und auch an der Legitimität manch unmenschlicher Akte der medizinischen „Fürsorge“. Nicht alles, was Menschen unter diesem Signum tun, ist auch human. Im Übrigen gilt dies aus meiner Sicht nicht für die medizinisch angemessene, aber eben nicht über Gebühr ausgedehnte Versorgung meines Vaters im Krankenhaus Maria Hilf in Bad Neuenahr.

Zum Tode meiner Mutter - Sterbetagebuch

Das folgende Sterbetagebuch meiner Mutter ist erstmals veröffentlicht worden in: „Hildes Geschichte“, in der ich versucht habe, die familiendynamischen Turbulenzen, die unsere Familiengeschichte entscheidend prägen, wenigstens blitzlichtartig bis seismografisch – und eingedenk der unvermeidbaren „blinden Flecken“ – „aufzuzeichnen“. Die Langfassung findet ihr unter „Hildes Geschichte“. Insofern bildet der nachfolgende Text eine Auskoppelung und setzt ein mit einem 51 Jahre umfassenden Zeitsprung – von meiner eigenen Geburt bis hin zu den letzten Lebensmonaten meiner/unserer Mutter:

51 Jahre später – so alt war ich 2003 – habe ich deinen finalen Wendepunkt, an dem das geschehen sollte, was in jedem Leben unausweichlich und not-wendig wird, seismografisch registriert – in deinem Sterbetagebuch. In der Fuge deines Lebens will ich dem basso continuo nicht nur im Beginnen folgen, sondern auch in seinem Verklingen. Und ich möchte heraus horchen, welche Motive, welche Töne, welche (Dis-)Harmonien nachklingen und sich zu neuen Klangfolgen verdichten.

Ja, ich weiß, ein Tagebuch – auch ein Sterbetagebuch – ist kein Instrument der Kommunikation. In einem Tagebuch verdichten sich bestenfalls Tintenkleckse zu mehr oder weniger bedeutungsvollen und sinnträchtigen Gedankensplittern, bewahrt vor der Ereignishaftigkeit und dem gnadenlosen Zerfall, die mit ihrem Gedacht-Sein einhergehen – Zerfallsprodukte mit atemporaler Zeitstruktur. Dein Sterbetagebuch konnte zuletzt nichts haben von der heimeligen Schreibstube, die ich mir immer wieder einrichte; in der man gediegen und gelassen die Unterschiede zwischen „erlebtem“ und „erzählten“ Leben zu registrieren vermag und in diesem Schürfen nach Sinn dem Fluss des Lebens die menschliche Seite abgewinnt.

Genau 10 Jahre später – im Juli 2013 –, der Zeitpunkt, an dem ich es hier (in "Hildes Geschichte") nahezu unverändert einfüge, kommt es mir selbst wie das Zucken und Zappeln einer Fliege vor, die in die Marmelade gefallen ist. Ein Zucken und Zappeln deshalb, weil so eindrücklich wird, wie brutal der Abstand schrumpft, der der Not und der Hitze dieses Aufbruchs ins Finale ein wenig Linderung und Milde hätte vermitteln können. Aber in dieser Klammer vom gleichermaßen chaotischen wie spurenmächtigen Aufbruch ins Leben, seiner Weitergabe bis hin zu seinem Verlöschen, liegt die Bedingung für das, was war und das, was kommen darf: Die Geschichten, die dem gnadenlosen Zerfallsprozess unseres Erinnerns Einhalt gebieten und aus dem Ozean des Vergessens jene Sinninseln schöpfen, die unserem Wandern und Driften eine Richtung geben:

Das Sterbetagebuch von Hilde (27.02 bis 27.07.2003)

27/02/03

Wie sehr ist doch die Angst der beständige Grundton, der immer in unserem Leben mitschwingt. Niemand von uns bezieht wirklich eine tiefe, satte Gelassenheit aus einem nüchternen und gleichwohl ruhigen Dasein – ständig umgeben von Bedrohungen und Verlusten. Wir haben es so gelernt und tief in unserem Habitus ausgeprägt, dass diese Welt mit den Unterscheidungen von Haben und Nicht-Haben, Sein und Nicht-Sein erst eine menschliche Welt ist, wenn sich Beziehung ereignet.

Immerhin haben Claudia, Laura und Anne heute Morgen, um 7.30 Uhr angerufen. Sie sind wohlbehalten in Sulden angekommen. Heute Nachmittag fahre ich nach Bad Neuenahr, 4. Etage, Zimmer 400 im Krankenhaus Maria Hilf. Ich habe die Nachricht vom Sturz Mamas mit stoischer Ruhe aufgenommen. Ich wusste, dass das wohl irgendwann so kommen würde – und mit allen fatalen Erinnerungen an meinen Opa, der 1970 wohl auch einen Lendenwirbelbruch erlitten hat, wovon er sich nicht mehr wirklich erholte. Ich hoffe, Mama hat eine Chance.

Heute ist der 2. März 2003 – Karnevalssonntag. Nach über drei Wochen herrlichstem Winter- bzw. Frühjahrswetter hat die typische Sauerei eingesetzt: Schmuddelwetter. Dennoch habe ich einen Spaziergang mit Biene über den Heyerberg gewagt und bin nun im Weinhaus Schwaab eingekehrt, der einzige Ort, an dem Biene – trotz ihrer Schlammpracht – willkommen ist. Claudia und die Kinder sind in Südtirol zum Schilaufen, und ich hatte mich auf ein paar Tage solo gefreut. Morgen fahre ich zum dritten Mal nach Bad Neuenahr. Meine Mutter hat, wenn es gut läuft, mit ihrem Lendenwirbelbruch drei Wochen Krankenhaus, flach auf dem Rücken liegend, zu überstehen – mit anschließender Rehabilitation.

Im Gegensatz zu den letzten Besuchen in der Kreuzstraße (bei meiner Mutter) halte ich es im Krankenhaus nicht lange aus. Die Atmosphäre bedrückt mich. Wenn Mama auf die Pfanne muss, verlasse ich – der Kläranlagen-Sozialisierte – schon freiwillig den Raum; bei der Bettnachbarin ohnehin. Der Geruch, der mich früher kalt gelassen hat, irritiert mich. Das, was sich gegenwärtig zuträgt – und hoffentlich noch einmal bewältigen lässt – habe ich immer schon als eine konkrete Bedrohung kommen sehen: Eine zunehmend auf Hilfe angewiesene Mutter, die irgendwann einmal zum Pflegefall wird. Dazu ungeklärte Beziehungen, die das Notwendige zum eher Außergewöhnlichen geraten lassen. Das Notwendige und das Selbstverständliche in unserem Leben sind – um mit Susanne Gaschke zu sprechen – gleichermaßen die liebevolle Sorge und die Fürsorge für die noch unselbstständigen Kinder wie für die auf Hilfe angewiesenen alten Eltern. Wir sind immerhin noch zu zweit – meine Schwester und ich. Allerdings müssten die beiden endlich mehr zueinander finden und die alten Begrenzungen überwinden. Ich bin 50 km weg, eingebunden in Beruf und Familie, in die Gülser „Großfamilie“, die uns wahrscheinlich in kürzester Zeit über den Kopf wachsen wird.

13/03/03

Heute fällt mir noch nicht einmal ein Satz ein, den ich für eintragenswert halte. Gestern waren es 14 Tage, seit Mama ins Krankenhaus eingeliefert wurde – mit einem „doppelten, stabilen Lendenwirbelbruch“. Seit einer Woche bemühen wir uns um die „Heil-Anschlussbehandlung“. Es sieht so aus, dass eine Chance für eine Reha in Burgbrohl besteht.

15/03/03

Immerhin ist nach intensiven Bemühungen der Bescheid über die Verlegung von Mama nach Burgbrohl zu Stande gekommen ist. Am Montag (17.3.) wird sie nach Burgbrohl gehen, voraussichtlich für drei Wochen.

Am Freitagmorgen war ich in Bad Neuenahr und habe mich um den Fortgang der Reha gekümmert. Tante Annemie ist an diesem Freitag, dem 14.3., 75 Jahre alt geworden. Sie war vormittags zu einer Infusion im Krankenhaus. Wir – Gaby, Tante Annemie und ich – haben uns bei Mama getroffen. Mittags war ich noch kurz in der Kreuzstraße, und wir haben noch eine Suppe miteinander gegessen. Einerseits gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Mama und Tante Annemie haben sich gegenseitig versichert, dass sie – wenn Mama wieder zurück ist aus der Reha – sich noch intensiver miteinander abstimmen wollen. Andererseits herrscht eine immer deutlicher werdende Endzeitstimmung. Bei einem Glas Sekt mit Beatrix und Heinz hat Tante Annemie betont, sie wünsche sich nichts, gar nichts, außer dass sie wieder gesund werden wolle – sie hat sich allerdings umgehend korrigiert und gemeint, sie wisse, dass sie nicht mehr ganz gesund werde, aber sie wolle doch, dass es ihr besser gehe. Und bei meiner Mutter überwiegt auch die Einsicht und das Sich-Fügen in eine Welt mit immer mehr Einschränkungen und Begrenzungen. Ich bin gespannt und auch voller ängstlicher Erwartung, ob nach den drei Wochen Burgbrohl ein „neuer Anfang“ möglich sein wird.

Der „Abenddämmerung“ im Privaten (die Alten gehen nach und nach, und wir rücken auf in deren generative Position) entspricht eine „Abenddämmerung“ im generellen Klein- und Großklima unserer gegenwärtigen geistigen und wirtschaftlichen Situation. Mit fast fünf Millionen Arbeitslosen, einer immer sichtbarer werdenden Ausfransung an den sozialen Rändern verbindet sich eine Stimmungslage, die sich in fast allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens breit macht. Alle Systeme, ob Wissenschaft, Gesundheit, Erziehung, Wirtschaft, drohen an ihrem Reformstau zu ersticken. Wen wundert es da, dass auch im psychischen System, im Bewusstsein der Menschen eine negative Stimmung überhandnimmt.

18/03/03

Heute Nachmittag war ich zum ersten Mal in Burgbrohl. Seit gestern ist Mama dort in der Klinik St. Josef zur „geriatrischen Rehabilitation“; offensichtlich ein gut geführtes Haus, in dem nur Oberschenkelhälse, Hirnschläge, Osteoporose in Verbindung mit Frakturen „rehabilitiert“ werden. Vielleicht ist von daher mein Eindruck nicht vorbehaltlos positiv. Aber ich hoffe, dass die drei Wochen reichen, um Mama wieder so viel Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zu ermöglichen, dass sie buchstäblich wieder auf eigenen Füßen stehen kann.

28/03/03

Freitagnachmittag – fast schon obligatorischer Spaziergang mit Biene über den Heyerberg. Das Wandern hat das Fahrradfahren abgelöst. Das ist bemerkenswert, weil mir durchaus bewusst geworden ist, dass die sportlichen Aktivitäten der letzten 5-6 Jahre einerseits einen „psychohygienischen“ Hintergrund hatten, zum anderen aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Älterwerden signalisieren. Insbesondere im letzten Vierteljahr setzt sich die Auffassung durch, in Ruhe und in Gelassenheit dieses Älterwerden, das Alt-Werden anzunehmen. Ja, und dann stellt sich die unausweichliche Frage: „Was willst du noch in diesem Leben; was erwarte ich noch von diesem Leben?“ Ich bin durchaus der Überzeugung, dass ich zu spät diese Frage offen in mir und mit mir austrage. Das ist aber nur ein Teil der unausweichlichen Fragestellung! Damit verbunden ist immer die Fragestellung, was erwarten die anderen von dir? Eine nüchterne Antwort darauf hat Susanne Gaschke in der ZEIT formuliert. Ich zitiere sie immer wieder, weil sie sowohl faktisch als auch auf dem Hintergrund der für mich ethisch bedeutsamen Orientierungen die Richtung vorgibt: Für diejenigen, die Kinder und noch Eltern haben, stellt sich die Herausforderung alltäglich so dar, einerseits Fürsorge und Erziehung der Kinder zu gewährleisten, ihnen den Weg durch und ins Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu ermöglichen, mit Fürsorge und Herzenswärme. Letzteres gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die eigenen Eltern, nämlich sie mit Fürsorge und Herzenswärme durch ihre letzten Jahre und in den Tod zu begleiten.

Und wo bleiben dabei die Sandwicher? Nun, die meisten Familien- und Paartherapeuten sind der Auffassung, die Ehe und erst Recht die Familie seien ohnehin keine Institutionen, um das Glück zu gewährleisten. Und in der Tat zerbrechen viele Ehepartner an dem angedeuteten Übermaß der Erwartungen und Verpflichtungen, zumal wenn sich dazu noch wirtschaftlicher Druck entfaltet. Dann ist die Einsicht in die Vergänglichkeit der chemotionalen Verblendung besonders schmerzhaft. Bei Susanne Gaschke kommt die Forderung nach einer Kultivierung der Doppelmoral unverhohlen daher mit der Einsicht, dass auf der anderen Seite der Aufrichtigkeits- und Bekenntnisterror ehelicher oder eheähnlicher Zwangskorsette den unausweichlichen Erstickungstod bedeuten. Die Veränderung zu einer partnerschaftlich orientierten Beziehung hin bedeutet für viele Paare die eigentliche Herausforderung. Und immer stellt sich die Frage, ob die Tatsache einer langjährigen Beziehung alleine schon hinreicht, um mit Zuversicht und Kraft an dieser Aufgabe weiter zu arbeiten. Wie nahe müssen sich Menschen gekommen sein, wenn nach vielen Jahren Verzweiflung, Überdruss und Resignation dominieren. Wie kann es sein – und wie gelingt es dann – sich Fragen zu öffnen bzw. Antworten zu finden, die neu sind, bedrängend und ängstigend. Aus der Sicherheit und der Harmonie aller Tage fällt der eine mehr, der andere weniger in einen Abgrund, der ihm völlig fremd ist. Der Preis für ein Harmoniestreben und ein konfliktfreies Miteinander ist häufig über die Maßen teuer. Es kostet den Eigensinn, die Eigenart, manchmal die Lebendigkeit, ja und die Selbste..., die Selbstständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit, die Selbstliebe, die Anteile des Selbstbildes, die nicht passen, die nicht angepasst sind an die Erwartungen des Fremdbildes.

21/04/03

Heute haben wir den 79igsten Geburtstag meines Schwiegervaters Leo gefeiert, ruhig und bescheiden mit einem Mittagessen am Ostermontag auf der Ankerterrasse und anschließendem Kaffeetrinken auf dem Heyerberg. Gestern waren wir in Neuenahr. So wie es aussieht, hat meine Mutter noch einmal einen Anfang in ihrer Wohnung gemacht. Helga hat sie vor einer Woche aus Burgbrohl abgeholt und am Ostersonntag hatte sie ein köstliches Essen bereitet und wir haben alle miteinander – durchaus hoffnungsfroh – zusammen gesessen. Immer wieder einmal kommt mir in solchen Situationen der Gedanke: Schade, das Willi – mein Bruder – das Heranwachsen seiner beiden Mädels und seiner beiden Nichten nicht mehr miterleben kann.

23/04/03

Heute ist Mittwoch – Bank, Reuffel, Uni, Bad Neuenahr: Unabdingbares, Notwendiges. Gestern Abend, nachdem wir miteinander das Sorgerechts-Gezerre um einen Jungen angeschaut hatten – mit einem schönen, wirklichkeitsfernen Happy-End – las ich zufällig noch in Joachim Ernst Behrendts Autobiografie: Sein „Schuldeingeständnis“, flankiert von Hermann Hesses „Stufen“ – schockierend die Ausführungen über Abtreibungen in den frühen fünfziger Jahren mit seiner Beteiligung, frappierend und ernüchternd seine Beziehungen zu Frauen und seine Legitimationsangebote; deprimierend und hilflos seine „einzige, wirkliche Schuld“: seinem Sohn Christian gegenüber.

8/5/03

Mit Worten deiche ich Sinninseln ein

Und lege Erinnerungsland trocken.

Mit Worten wässere ich Erinnerungswüsten

Und speise die Quellen der Wüstenoasen.

Mit Worten besänftige ich meine Seele

Und befriede die Zwischenräume.

(Nein, natürlich nicht alleine,

Aber erste Wörterschritte oft aus meinem Mund.)

Mit Worten unterscheide ich das eine,

Und nicht das andere,

Meine ich das andere und nicht das eine.

Was wohl du, was ich wohl meine.

Mit Worten folge ich meiner Neugier.de

Und ringe mit ihnen um meine Gier.

Mit Worten beglücke ich die Nahen

Und denke mir die Fernen nah.

Doch mit Worten alleine lebt nur Papier.

Und wenn ich bebe und schwebe,

Wächst mit Worten das feine Gewebe

Zwischen euch, zwischen dir und hoffentlich mir.

Ein schönes Gedicht – es hat um Haaresbreite noch den Weg in meine Gedichtsammlung gefunden. Inzwischen ist schon wieder Freitag, der 9. Mai im übrigen – quick, quick, quick – tack, tack, tack...

Ach ja, natürlich (fast) jeden Mittwoch fahre ich nach Bad Neuenahr. Mama hat sich wieder gefunden, hat noch einmal einen Anfang gemacht, zur rechten Zeit, ins Frühjahr in den Sommer hinein.

16/05/03

Die letzte Eintragung vor acht Tagen, hier oben in Nassheck vorgenommen, endet optimistisch. Tags zuvor war ich in Neuenahr, dachte: das nächste – vielleicht das letzte Plateau, die Hochebene – ist erreicht. Jetzt noch einmal ein paar ruhige Jahre mit den Beschränkungen und Weisheiten des Alters. Wir hatten den Muttertag, den 11. Mai, sorgfältig geplant: Erster Teil in Güls – Mittagessen und erster Kaffee mit Lisa und Leo, meinen Schwiegereltern. Zweiter Teil bei Ulla – Kaffee in Ahrweiler, wo Mama schon zum Mittagessen sein sollte. Morgens früh erhalte ich einen Anruf von meiner Cousine Gaby, Mama gehe es nicht gut, abends zuvor habe man den ärztlichen Notdienst gerufen – Unwohlsein, Schwäche. Ich gehe am Sonntagmorgen noch zum Fußball – habe ja die Schlüsselgewalt – mittags, schon unruhig, esse ich noch mit allen gemeinsam in Güls, bekomme keine Telefonverbindung, fahre voller Unruhe los und komme zeitgleich mit meiner Schwester in Neuenahr an. Wir finden Mama in einem kläglichen Zustand – Tante Annemie, ihre Schwester kümmert sich, so gut es geht. Wir rufen erneut den ärztlichen Notdienst, der mit einem mobilen EKG dann einen Herzinfarkt diagnostiziert. Eine halbe Stunde später ist der Rettungsdienst da, aber wir wissen nicht wohin. Erstversorgung und untätiges Warten – bis zu dem Zeitpunkt, da Remagen als aufnehmendes Krankenhaus genannt wird. Alle Intensivstationen sind belegt. Es vergehen zwei Stunden bis wir nach einer Schleichfahrt Remagen erreichen. Mir schwant, was in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommt. Mama hält sich tapfer. Ich muss vorne in der Fahrerkabine sitzen. In Remagen wird sofort erwogen zu kathetern, was man aber hier nicht kann. Nach einer weiteren Stunde ist klar, dass noch heute eine Weiterverlegung in DRK-Haus Neuwied vorgenommen werden soll. Schließlich sind wir dann gegen 18.00 Uhr endlich in Neuwied – Ultraschall, Röntgen – Erschöpfung – Überleben. Ich bin gegen 21.00 Uhr zu Hause. Am Montagnachmittag erfahre ich, dass morgens die Herzkatheteruntersuchung vorgenommen wurde. Eine erste Entwarnung. Am Dienstagnachmittag wird Mama zurück nach Remagen verlegt. Inzwischen wird bereits erwogen, nach dem 26.5. die Reha einzuleiten, wahrscheinlich in Bad Bertrich. Haben wir noch einmal Glück gehabt. Sind wir noch einmal davon gekommen? Heute Nachmittag war ich mit Anne noch in Remagen.

18/05/03

So weit – far a way, wie weit?

Ich reife zu den Früchten hin,

zu eignen und zu fremden,

wie taub und blind ich immer bin,

in mir und auch zu Fremden!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!

Höre „Back on top“ von Van Morrison – wie so oft hoch über der Mosel auf meinem Hochsitz, der Blick ins unendliche Grün – im Rücken das Leben! Gehe immer weiter, immer weiter, weiter, weiter, weiter weg. Waren heute Nachmittag in Remagen. Mama geht es besser.

22/05/03

Merkwürdig, die Eintragung vom 16. endet mit der Frage: „Haben wir noch einmal Glück gehabt, sind wir noch einmal davon gekommen?“ Danach gibt es nur noch den Eintrag kurzen Eintrag vom 18/05.

Hier in Nassheck wird mir erst wieder vollends bewusst, wie trügerisch die Frage und ihre möglichen Antworten daherkommen. Am letzten Freitagmorgen erreicht Ulla ein alarmierender Anruf von Mamas Bettnachbarin. Die hatte Mama morgens früh um 7.00 Uhr blass und leblos vorgefunden, hatte die Ärzte zusammengetrommelt und von Mama noch Ullas Telefonnummer erfragen können. Ulla hat mich um 7.30 Uhr noch zu Hause erreicht. Ihre Schilderungen klangen mehr als beunruhigend. Ich habe mich gegen meine innere Überzeugung entschlossen, zu Arbeit zu fahren. Wohlwissend, wie es bei Papa war, dass dem ersten Herzinfarkt häufig ein zweiter, in der Regel dann lebensbedrohlicher Infarkt folgt. „Selbstbilder“ und „Tod, Sterben, Trauer“ sind meine beiden Freitagsseminare im Sommersemester. Bereits nach dem Vortrag, der Einleitung zu den kindheitsbezogenen Interviews, merke ich, dass es nicht geht. „Das Ich-als-Kind-Buch“ (Donata Elchenbroich) bleibt mir im Halse stecken. Das heißt der Vortrag ist genial, man kann eine Stecknadel fallen hören – in meiner Stimmung gerät der Vortrag aus Donata Elchenbroichs „Weltwissen der Siebenjährigen“ zur Demonstration, zum Fanal des Ausdrucks der Wertschätzung, die Eltern ihren Kindern entgegenbringen. Meine gesamte Kindheit lässt sich als ein Buch der Ermöglichungen und der Wertschätzung beschreiben, und so war es nur folgerichtig, dass mir spätestens in diesem Kontext die Dummheit und Fragwürdigkeit meiner Entscheidung, zur Arbeit zu fahren, überdeutlich wurde. In einem den Tränen nahen Zustand habe ich den Teilnehmerinnen erklärt, warum ich die Veranstaltung an dieser Stelle abbreche und nach Remagen fahre.

Dort traf ich meine Mutter auf ihrem Zimmer an, sichtlich erschöpft. Aber die entscheidende Botschaft war: Kein zweiter Infarkt. Offensichtlich hatte eine temporäre Durchblutungsstörung den bedrohlichen Zustand ausgelöst. Seither beobachte ich, dass meine Mutter geistig wach und rege ist, dass aber ihr körperlicher Zustand, ihre physische Konstitution von deutlicher Schwäche gekennzeichnet ist. Auch heute war ich mit Anne in Remagen, bevor wir zum Reiten gefahren sind. Als wir in Remagen aufs Zimmer kamen, erzählte uns die Bettnachbarin, dass Mama zur Fußpflege sei. Nach einer Viertelstunde brachte sie ein Pfleger aufs Zimmer zurück und zwar in einem Rollstuhl. Von dort bewegte sie sich ins Bett, sichtlich erschöpft – vor allem im Ausdruck der Augen spiegelt sich eine Erschöpfung, die ich früher so nicht gesehen habe. Allerdings fällt mir auf, dass mein Schwager Ernst – nach fast sieben Wochen Krankenhaus einen ähnlich ängstlich-erschöpften Ausdruck in den Augen hatte.

23/05/03

Toccata und Fuge d-moll BWV 565

24/05/03

Heute letzter oder vorletzter Besuch von Mama in Remagen. Am Montag geht es in die Reha nach Bad Bertrich. Nachdem Ulla weg war, haben wir beide uns heute ganz unspektakulär über Sterben und Tod unterhalten. Da uns nahe Menschen so viele schon vorausgegangen sind, lag darin eine Unausweichlichkeit, vielleicht auch eine Gnade. Natürlich haben wir alle Angst, aber in der Gewissheit, uns nicht zu verlieren, mildert sich alles ab. Vielleicht ist dies endlich einmal ein Basis, doch noch ein paar Jahre auf dem Hochplateau des Alters zu wandern. Obwohl – und dies ist eben genauso unausweichlich – niemals war mir deutlicher und eindringlicher, wie alt Mama jetzt ist. Aus ihren Augen schaut meine Oma, die ja „nur“ 72 Jahre alt geworden ist – und noch etwas anderes.

29/05/03

Heute ist Christi Himmelfahrt – „Vatertag“. Um 11.30 Uhr bin ich zu meiner „Vatertagswanderung“ mit Biene losmarschiert. Wir haben einen neuen Weg für uns entdeckt. Über den Heyerberg hoch – Richtung Rübenach. Auf der Höhe der Straße Richtung Westen bis zur alten L 125, dann entweder rechts oder links entlang nach Winningen, ohne Pause ca. 1½ bis 2 Stunden, je nach Tempo. Mittagessen mit Claudia in Winningen, Rückweg zu Fuß – alleine. Die Kinder sind unterwegs: Anne mit Freundinnen im Winninger Freibad, Laura mit Ann-Christin und Anna in der „Mucki-Bude“ und anschließend ins Kino.

Heute treffen sich Torben, der Tante Annemie mitnimmt, und Gaby, die aus Bernkastel kommt, gemeinsam mit Mama in Bad Bertrich. 1½ Wochen zuvor hatten Ulla und ich Mama von Remagen aus dorthin gebracht. Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Ich war gestern dort und habe Mama in einem schon viel besseren Zustand angetroffen. Sie hat Kontakte geknüpft, kann alles Notwendige alleine regeln, geht selbstständig zu den Mahlzeiten, nimmt ihre Anwendungen und Reha-Maßnahmen wahr – immerhin! Die Reha hier in Bad Bertrich geht von anderen Voraussetzungen aus, die Therapie ist auf Infarkt-Nachsorge ausgerichtet, während in Burgbrohl vermutlich eine permanente Überforderung gegeben war.

4/06/03

Wenige Eintragungen – sitze gerade an der Uni auf dem Behindertenscheißhaus (sehr komfortabel, da ist sooo viel Platz, es ist hell und außerdem ist die Schüssel höher montiert, was meinen Hebelverhältnissen durchaus entgegenkommt.)

Ja, wenige Eintragungen nur – nachvollziehbar, weil jetzt endlich mein Gedichtbändchen in den Druck gehen kann – bin letztlich doch sehr zufrieden damit. Es enthält einige Perlen und stellt sprachlich – bezogen auf das, was ich fühle und denke, das mir derzeit Mögliche dar – einmal abgesehen von den wirklich intimen „unveräußerlichen“ Absonderungen im Affekt. Ich finde es jedenfalls sehr beachtlich. Mal schauen, wie die Resonanz sein wird – „Aussetzung“!

Gestern Nachmittag war ich in Bad Bertrich. Trotz der schwülen Hitze fand ich Mama stabiler, als ich mir es in Remagen noch je hätte träumen lassen. Alle halten mich für sonderbar – bin so oft es mir nur möglich war, dorthin gefahren und habe mit Mama jeweils ein paar ruhige, teils sehr harmonische Stunden verbracht.

Über Pfingsten laufen die letzten redaktionellen Korrekturen an meinem Gedichtband „Das Leben – Ein Klang: Gedichte – Aphorismen – Gedankenspiele“; ein schöner, solider Band mit rund 60 Gedichten und einer „Lyrographie“. Letzteres ist „meine Erfindung“, die wahrscheinlich so abgefahren ist, dass sie keiner von den wirklichen Lyrikern, von den Etablierten in Erwägung ziehen würde. Aber durch meine intensive Auseinandersetzung mit konstruktivistischer Erkenntnistheorie, die meine Lyrik ebenfalls sehr nachhaltig beeinflusst, bekommen diese Gedankenspiele und Reflexionen eine durchaus sinnvolle und attraktive Färbung.

8/06/03

Pfingstsonntag – über Güls mit Blick vom Heyerberg auf den Friedhof: Alles ist ruhig, einige wenige Menschen (vier kann ich zählen) machen sich auf dem Friedhof zu schaffen – alle mit Kannen, eine mit Blumen. Sie sind „geschäftig“. Ich sitze hier oben und „trauere für sie“ – nein, Quatsch, natürlich für mich – ruhig, mit Kroke (Klezmer) im Ohr. Wer kümmert sich eigentlich um unsere Gräber – ich meine die in Bad Neuenahr, wo Mama jetzt nicht mehr kann – um Papa, um Willi, um die Großeltern. Dort unten liegen auch Guido und Dennis, beide vor acht Jahren, genau vor acht Jahren als knapp zehnjährige Jungen in Westernrohe im Pfadfinderlager – im Pfingstlager – bei einem fahrlässigen Tau-zieh-Rekordversuch ums Leben gekommen.

11/06/03

Vielleicht trägt das Bemühen um eine schöne Form – meine Handschrift, so wie ich sie ansatzweise mag – dazu bei, auch die Gedanken zu beflügeln. Wenn ich in meine Tagebuchkladden blättere, kann ich schon an meiner Handschrift ansatzweise erkennen, wie ich zum Zeitpunkt des Schreibens gestimmt war. Allerdings zeigt das gegenwärtige Beispiel auch, wie man mit der Schriftgestalt zu täuschen vermag – natürlich mehr noch als in der unmittelbaren Kommunikation –, denn eigentlich bin ich relativ übellaunig. Vielleicht sollte ich auch nur genauer hinschauen.

Nun zur Sache: Eigentlich gibt es nur „Fakten“ zu berichten. Morgen früh bringe ich die Druckdatei definitiv zu Fölbach in die Druckerei: Beiges Stoffcover zur optimalen Hervorhebung von Jörg Picones grafischen Ideen. Ich glaube, uns ist eine attraktive Lösung eingefallen, vor allem mit den von Jörg entwickelten invertierten Schriftzügen – ca. 180 Seiten, 60 Gedichte, ein originelles Vorwort bzw. Einleitung, die „Erfindung“ einer „Lyrographie“ zur selbstreflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Gedichten; einfach geil!!!

Gestern war ich mit Laura in Bad Bertrich bei Mama. Ich habe mich sehr gefreut, dass Laura mitgefahren ist. Anne war ja in der ersten Remagener Zeit auch zweimal mit in Remagen, jeweils vor ihrer Reitstunde in Nassheck. Mit Laura – mit allen Kindern – sollte und muss man ab und zu alleine sein, um ins Gespräch zu kommen. Gestern war die Hinfahrt einerseits eine Einstimmung auf den Besuch der Oma, andererseits haben wir uns lange über Schule, Sozialkunde im Besonderen unterhalten – auch mal ganz wichtig und vor allem möglich, sine ira et studio – fast. Abends ist Laura sogar noch mit mir und Biene über den Heyerberg spaziert; seltene, umso mehr geschätzte Ereignisse.

Wie geht es Mama? Ganz sicher ist ein Riesenfortschritt gegenüber Remagen, vor drei Wochen erkennbar. Sie sieht besser aus, nimmt angemessene therapeutische Angebote wahr, schickt sich bemerkenswert in die Situation, wobei man sagen muss, dass Bad Bertrich – trotz der klimatischen Belastungen – insgesamt eine akzeptable Lösung für die Reha ist: Ich bin in einer ¾ Stunde dort, das Haus ist angenehm, die Betreuung wohl auch und Bad Bertrich ist eben auf der Eifelseite auch noch ein Stückchen Heimat.

Das Umfeld? Das wird spannend! Mama möchte mehr Ruhe, sie benötigt mehr Ruhe – dies ist ihr auch über die Gesprächstherapie unmissverständlich klar geworden. Die Wohnung muss mehr in ihrer Abgeschlossenheit respektiert werden. Der „Durchgangsverkehr“ in den Garten muss auf ein Minimum reduziert werden; ein schwieriger Balanceakt, zumal man immer wieder anerkennen muss, was insbesondere auch Gaby, meine Cousine alleine durch ihre Anwesenheit immer wieder leistet und ermöglicht. Die Kellertreppe ist ja seit jeher eine Zumutung. Und wie wird das Zusammenspiel zwischen Mama und Tante Annemie sich gestalten? Für mich ist klar, dass ich den Mittwochnachmittag als festen Termin beibehalte. Wie lange noch? Mit vereinten Kräften müssen wir versuchen das, was kommt zu bewältigen.

13/06/03

Was macht den Unterschied? Welchen Unterschied? Der Unterschied ist gewaltig: Diesseits und jenseits der Unschuld! Wie bemerkte heute Nachmittag ein Sportreporter zur Spielweise von Nicolas Kiefer: Naiv drauflos, ohne über den Kontext nachzudenken – manchmal eine Voraussetzung für erfolgreiches Tennis. Sobald du beginnst darüber nachzudenken, hast du die schlechteren Karten.

So erklärt sich auch die Sehnsucht der jüngeren, jungen Menschen, schneller erwachsen werden zu wollen – „alles Schöne kommt danach“. Beginnst du jedoch auf einer schon satten Erfahrungsgrundlage darüber nachzudenken, was war, was ist, was kommt, bist du in einer schon nicht mehr naiven, einfach nur Zukunft als Verheißung begreifenden Situation. So sitz ich denn immer wieder hoch über Güls, die unglaubliche Schönheit des Moseltals und der Höhenzüge bestaunend und frage mich: Was war, was ist, was kommt? Der Hund, meine Biene, gibt mir Ruhe und ein Stück Legitimation für etwas Stinknormales, nämlich für meine kleinen, bescheidenen Exkursionen.

14/06/03

Samstagmorgen, Vallendar, auf der Tennisanlage des TC-Vallendar. Annes Mannschaft spielt gegen den Elite-Club der Region. Die Abreibung wird total sein. Dafür sind unsere Mädchen einfach viel zu grün. Niederlagen beizuwohnen ist immer bitter, vor allem wenn – wie bei Annes Mannschaft – die Niederlagen aufgrund der ungleichen Spielstärke vorprogrammiert sind. Überhaupt überwiegen die „Niederlagen“ zur Zeit, und es ist immer eine Frage, wie man mit Niederlagen umgeht. Anne ist in dieser Hinsicht schwer „auszurechnen“. Äußerlich wirkt sie eher gefasst, aber unter der Oberfläche ist, glaube ich, viel Verletzlichkeit. Heute Morgen wird dies eine bittere Erfahrung, weil die Gegnerin nicht nur spielstärker ist, sondern weil sie in einer geradezu brutalen Manier die Charakterzüge und Merkmale verkörpert und ausspielt, die (Welt)Klassespielerinnen auszeichnen: Absolut kompromissloser, brutaler Killerinstinkt. Die Gegnerin ist – auch bei erkennbarem Klassenunterschied – nur Objekt der eigenen Möglichkeiten. Nur so funktioniert der Weg an die Spitze; neben fragloser spielerischer Klasse, psychischer und mentaler Solipsismus! Man mag kaum zuschauen - offenes Sezieren auf dem Tennisplatz. Und den anderen geht es nicht anders. (Siehst du, und jetzt hat Anne gerade nach 0:6 ihr erstes Spiel gemacht in grandioser Haltung und Spielweise.)

18/06/03

Mittwoch vor Fronleichnam: Bin heute Mittag nach Bad Neuenahr gefahren – Bankgeschäfte für Mama, habe Ann-Christin abgeholt; wir beide sind dann weiter nach Bad Bertrich gefahren, dann zurück nach Güls. Und nun seit langem – seit einem halben Jahr – die erste Fahrradexursion nach Koblenz in Pretzers Biergarten; einmal nicht durch Wein und Rüben, obwohl ich das fast schon wieder bedauere: Zu laut, zu viele Menschen, der Rhein – im Gegensatz zur Mosel – aufdringlich.

Am Samstag kommt Mama nach Hause, nach wiederum 14 Tagen Krankenhaus und vier Wochen Reha; insgesamt fast 14 Wochen Klinik- und Krankenhausaufenthalt. Das ist schon ein ziemlicher Schlauch; morgens früh Zwei-Jahrescheck bei meinem Hausarzt, Dr. Schmitt: Körperflüssigkeit und EKG – immer wieder der Versuch der Selbstvergewisserung, danach mit Achim PC-Pflege an der Uni – zwischendurch ein ernüchternder ZEIT-Artikel zur medizinischen Vorsorge, mehr als ernüchternd, vor allem das Verhältnis zwischen Früherkennung, Heilung, Lebensverlängerung in einem lebenswerten Kontext und die fatale Implikation, durch die „Früherkennung“ von (möglicherweise) nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen und daraus resultierenden psychischen sowie in der Folge physischen Beeinträchtigungen.

20/06/03

Morgen früh fährt Helga nach Bad Bertrich, um Mama abzuholen. Ich bin gespannt, ob es noch einmal einen neuen Beginn in der Kreuzstr. 111 gibt.

21/06/03

Heute jährt sich Willis Todestag zum neunten Mal. Um 12.10 Uhr sitze ich hier oben auf dem Friedhof an Willis Grab. Mama ist heute aus Bad Bertrich zurückgekommen. Sie war schon morgens mit Helga auf dem Friedhof.

„Lieber Willi, so gut es gehen konnte, ist es weitergegangen. Deine Kinder sind gesund und gehen ihren Weg. ‚Aus der Ferne‘ schaue ich immer mit Wohlwollen auf das sonnige Gemüt und die Beziehungsfähigkeit und –lust Ann-Christins, auf die beharrliche Art und Weise, wie Kathrin sich ihren Weg sucht und sich das Ihrige nimmt. Sie hat übrigens ein außerordentliches Talent und große Lust zum Schreiben – einen ersten Roman hat sie bereits vollendet. Es ist deutlich mehr Zuversicht als Skepsis, obwohl ich weiß, oder eher spüre, dass beide an die Punkte einer Auseinandersetzung mit dir erst noch kommen. Helga hat es gut gemacht und wird im Rahmen einer Normalität vielleicht auch ‚belohnt‘ für den mutigen Weg, den sie geht – ich hege eine stille Bewunderung für sie, obwohl immer auch die Grenzen des Möglichen durchscheinen. Insbesondere Ann-Christin hätte gerne mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung – und sie benötigt sie auch. Umso mehr freut mich, dass Laura und Ann-Christin – hoffentlich – eine tragfähige Beziehung zueinander aufgebaut haben.

Rudi Dutschke schreibt irgendwo in seinen Tagebüchern, jeder habe sein Leben ganz zu leben. Dass deines nicht einmal 39 Jahre dauern durfte, schmerzt heute deine Kinder und die, die dir am nächsten waren in besonderer Weise. Ich ziehe selbst die Lehre alle Tage, die mir gegeben sind, zu leben in Zuversicht und Verantwortung gleichermaßen. In der Haltung, das Boot auch kentern zu lassen, und in dem was sich daran anschließt, mühe ich mich oft mehr, als dass ich pure Lebenslust und kraftvollen Lebensfluss verkörpere. Nein, hinter der Oberfläche, tief im basso continuo, waren wir uns doch ‚offensichtlich‘ näher, als es der Anschein vermuten ließ. Vielleicht komme ich jetzt etwas öfter hierher und erzähle dir einfach von dem, was so geschieht und wie es weitergegangen ist.“

27/06/03

Erst eine Woche später wieder Spuren – und ich habe auch so gar keine Zeit. Nichts läuft rund – auch weil die anderen nicht rundlaufen. Im Institut grassieren die burn-outs und der einzige – mit seinen 73 Jahren noch immer präsente – „Abräumer“ im Rahmen der Praktikumsbetreuungen sowie als Beisitzer bei Staatsprüfungen muss sich mit einer Krebsdiagnose zurückziehen – drohende Operation. So machen wir unseren Job – als Dienstleister (mir „drohen“ im kommenden Vierteljahr mehr als 120 Prüfungen und dutzende von Staatsarbeiten) – und das alles im Kontext einer Reformdiskussion, die als geheime Kommandosache an keiner Stelle erkennen lässt, wer in welchem Zeitrahmen die „Reform der Lehrerausbildung“ tragen und umsetzen soll. So etwas vollzieht sich offensichtlich im eigendynamischen Vollzug einer irgendwie zustande kommenden Systemlogik.

Scheiss drauf – am eindringlichsten erscheint mir 14 Tage vor dem Erscheinen meines Lyrikbändchens das Kroke-Gedicht.

Vor einer halben Stunde habe ich mir eine Sequenz aus „Brechts letzter Sommer“ gegeben. Der alte Brecht – anders als der alte Benn (auch 1956 gestorben) – kein Verfechter des „Doppellebens“, sondern ein alter chauvinistischer Sack, der das Schweigen und die Sprachlosigkeit seinen Frauen verordnet hatte, um dieses merkwürdige Beziehungschaos zu leben.

Jetzt schreib doch wenigstens einmal ein paar Zeilen so, wie du dich gerne fühlen würdest – leicht, fließend, locker und dennoch bestimmt:

Wenn der Abendhimmel

Mit seinem milden Licht

Das Zepter nimmt,

wenn die Lust in dir flackert

und das Leben verglimmt,

verheißen dir Friedhöfe Ruhe.

Wenn Erinnerungen blühen

Und Bilder entstehen,

wenn Astern verblühen

und Orte verwehen,

verheißen dir Träume ein Land,

das bisher kein Lebender fand.

Wenn du andere vergisst

Und dich öfter verlierst,

wenn du bepisst

in Tagnächten Phantasien gebierst,

dann verheißen dir Schübe

den Rand – nur ein Schritt

in Thanatos-Land.

Ach ihr Jungen,

die Alten vergehen.

Wollt ihr uns halten?

Lasst uns doch gehen!

Ihr könnt uns begleiten,

die letzten Schritte uns leiten,

so wie wir euch brachten

in diese Welt.

 

30/06/03

Am Donnerstag feiert Mama ihren neunundsiebzigsten Geburtstag – immer im harten Kontakt mit Willis Todestag, nunmehr schon zum neunten Mal. Wir feiern bei Ulla – finde ich eine ganz gute Lösung. Alle tragen bei, Mama ist voll und ganz entlastet. Das dürfte ihr gut tun! Alle sind da – in Ullas Garten und sofern das Wetter mitspielt, kommt sogar Biene auf ihre Kosten.

30/06/03

Oh, wache Stunde,

nächster Versuch;

erneute Runde

im weißen Buch.

Heiß und begehrlich,

spritzig und frisch,

treu und ehrlich,

glatt wie ein Fisch

steigst du bergan

und gipfelst im Tal,

treibst du den Kahn

zwischen Freude und Qual.

Ein neues Buch

jungfräulich und offen,

zwischen Chance und Fluch,

zwischen Bangen und Hoffen.

Ja, das ist ein Einstieg,

der Inhalt und Formen genügt,

fast schon ein Sieg,

wenn die Hoffnung nicht trügt.

Mit Sprache zu spielen

zwischen Suchen und Finden,

zwischen Sandbank und Prielen

die Perlen zu finden.

Spielerei – ja eine neue Kladde ist immer ein Wagnis, zumal, wenn die letzte sich nur quälend dem Ende zuneigte. Also immer die Erwartung, die Hoffnung später – im Rückblick, im Wiederlesen – die eine oder andere Überraschung, die eine oder andere Entdeckung zu finden.

6/07/03

Ein Sonntag – nach Tagen des Regens, der auf nahezu acht Wochen des überhitzten Frühsommers und einer fast schon bedrohlichen Trockenheit einsetzt – und der doch noch ein Sonnentag zu werden verspricht. Immer wieder kommen Impulse, danach zu fragen, ob ich nicht die letzten Jahre meines Lebens in einer gediegenen, veredelten Einsamkeit verbringen sollte. Aber die oben gehen zäh und die unten sind einfach noch zu jung...

And you don´t need to worry, cause I need your love, my friend.

And I know, I´m not a loser, when I´m on my own,

I could be miles away in another land,

And it keeps me together, when I´m far from home,

I won´t keep it out of sight

And I think, I´m gonna write it on the walls of the world,

So everyone will now today the love, I hold for you…

Wir haben unsere Kalorien heut schon verbraucht

mit Vater und Mutter –

und auch unsere Geduld.

Die Enkel zeigen sich da mittlerweile geneigter.

Und wir?

Wir trauern ein wenig schon auf Vorrat.

Wen es nicht schon vor der Zeit (vor welcher?)

erwischt hat, der hört schon das Abendgeläut.

Wir spüren den heißen Atem der Zeit.

Eben noch Kind

- ein Rauschen im Wind,

und obwohl späte Eltern,

trinken wir jetzt schon den Wein,

den wir meinen grad eben zu keltern.

Wie geht man mit Würde und Anstand,

und was bleibt uns dann noch zu tun?

Werden wir groß, stark und erwachsen,

wenn dem Hammer der Amboss entgleitet

und der Amboss den Hammer ersehnt?

Wenn es gilt, müssen wir hämmern

und das Hämmern ertragen.

 

10/07/03

Ganz eigentümlich hat sich der Wendepunkt im Jahr deutlich in meinem Fühlen auf die Mittsommernacht, die Sommersonnenwende eingependelt. Früher lag diese „Jahreswende“ für mich deutlich später im Jahr. Heute ist mir der lange Aufstieg aus dem Winter in den frühen Sommer immer ein bewusstes Erleben der Sprunghaftigkeit meines Zeitempfindens, vielleicht ist „Beschleunigung“ der passendere Begriff.

Inzwischen ist der 79ste Geburtstag meiner Mutter auch schon wieder eine Woche her. Ja, sie hat ihn noch erlebt und zwar so, dass ich glaube, es könnten doch noch einige Geburtstage mehr werden. Ich habe mich in die Sandwich-Situation schon lange eingefunden, seitdem ich zumindest einen Nachmittag in der Woche (in der Regel den Mittwoch) meiner Mutter vorbehalte. Das letzte halbe Jahr hatte da natürlich schon eine andere Dimension, die einem zumindest einen Eindruck davon vermittelt, was eine wirkliche Sorge und Fürsorge für die Eltern bedeuten kann.

12/07/03

Noch drei Wochen bis zum Ende der Vorlesungszeit. Unser Institut stöhnt unter einer ziemlich prekären personellen Enge. Das Sekretariat seit sechs Wochen verwaist, R. K. langfristig erkrankt, G. K. in schwierigster Genesung nach seiner Darmoperation, bei alledem die intensiven, letzten Vorbereitungen zum großen Schulkongress, wofür ich mit R. V. die Verantwortung trage; P. H. mit 150% Überlast, aber gegenwärtig für vier Wochen in Amerika; H. V. kurz vor seiner Pensionierung. Nur N. W. und meine Wenigkeit fahren gegenwärtig 100% und ein bisschen mehr. An einer „drittklassigen Provinzuni“ – so einer werter Kollege – geht das.

Einige wenige Male hatte ich das Erleben – vor allem bezogen auf den im Druck befindlichen Gedichtband, dass man sich mit den eigenen Gedichten und Geschichten bestens unterhalten kann. So wie Susan Sontag meint, dass man den „eigenen Weg aus Wörtern“ schätzen lernt, ob seiner interessanten und überraschenden Perspektiven. Man hat Spaß an den eigenen Kreationen.

Warten in Spannung.

Warten ist immer Spannung,

Warten auf den ersten Schritt,

Warten auf Bewegung,

wenn auch nicht unbedingt auf die eigene.

Etwas kommt, etwas geht,

während deine Welt jetzt stille steht.

 

15/07/03

Warten in Spannung,

Warten ist immer Spannung!

Wie wahr, wie wahr – und häufig ist die darauf folgende Entspannung trügerisch und manchmal enttäuschend und deprimierend. Denn diejenigen, die sich bewegt haben, haben es nicht immer in der erhofften Weise getan.

Heute ist Gerhard Kurz gestorben. Rudi Krawitz rief mich aus seiner Kur völlig erschüttert an und teilte mir diese Hiobsbotschaft mit. Fünf Minuten später erhielt ich von Claudia die Nachricht, dass Mama nach einem epileptischen Anfall erneut im Krankenhaus liegt, zum dritten Mal und vermutlich wieder mit einer Orgie von Untersuchungen verbunden. Mit welchem Ausgang dieses Mal?

16/07/03

Heute Nachmittag bin ich nach Neuenahr gefahren und durfte wieder einmal feststellen, dass man mich „schonen“ wollte. Mama liegt mit hohem Fieber im Krankenhaus und die Ursache ist unklar. Klar ist, dass sie sich mit einer Infektion auseinandersetzt, deren Ursache im Dunkeln liegt. Die weißen Blutkörperchen sind deutlich erhöht. Die diensthabende Ärztin will über Differentialdiagnosen eine Eingrenzung erreichen. Sie hat mir und Ulla gegenüber angedeutet, das Krankheitsbild und der Verlauf ließen einen altersläukämischen Schub nicht ausschließen. Sie möchte das gerne über eine Untersuchung von Knochenmarksgewebe abklären. Heute Abend betrug die Körpertemperatur (anal gemessen) 39,7°. Die Ärztin deutet an, dass ein solches Krankheitsbild in diesem Alter nicht unproblematisch sei. Ich will Freitag wieder nach Neuenahr, wenn vorher kein Anlass besteht.

Gerade eben mit Ann-Christin gesprochen – sie erzählt, dass sie heute Mittag bei Oma war, dass sie sehr geweint hat, weil sie meint, dass Oma es dieses Mal nicht mehr packt. Gleichzeitig erzählt sie mir, dass sie verliebt ist und deshalb erst Samstag kommen könne. Ich soll Laura mitbringen, Andreas sei da. Wer ist Andreas? Ich habe den Eindruck, ich könnte das wissen, wenn ich es wissen wollte. Laura und Andreas mailen seit geraumer Zeit. Laura „kennt“ Andreas. Andreas hat keine bildhafte Vorstellung von Laura. Spannend!?

Die totale Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – verflucht bunte Welt.

18/07/03

8.06 Uhr am Freitagmorgen: Seit 2.30 Uhr in der Nacht bin ich jetzt mit kurzer Unterbrechung auf der Intensivstation. Mama hat in der Nacht einen Schlaganfall erlitten. Sie ist ansprechbar, aber ganz offenkundig halbseitig gelähmt, der Sprache nicht mehr mächtig. Es ist ganz deutlich so, dass ihre Wahrnehmungsfähigkeit nicht eingeschränkt ist. Die Ärztin auf der Intensivstation macht uns wenig Hoffnung. Die Krankensalbung ist veranlasst. Ich pendele ständig zwischen ruhigen und gelassenen Phasen, innerer Bewegung und hemmungslosen Weinkrämpfen.

Inzwischen ist es 14.30 Uhr: Mamas Zustand ist unverändert: Stabil in einer instabilen Lage: Puls um die 90, Blutdruck: 120 : 60. Sie liegt jetzt auf der rechten Seite – auf eigenen Wunsch. Sie reagiert nach wie vor auf Ansprache durch Nicken und Verneinen. Sie kann sich sprachlich nicht mehr mitteilen und schläft viel. Die Krankensalbung war ätzend. Ein brasilianischer Pfarrer bemühte sich, las die einschlägigen Texte vom Blatt und musste dabei jede Form der Einfühlsamkeit vermissen lassen. Aber dies ist sicher ein ungerechtes Urteil.

Eben waren Claudia und Anne für eine halbe Stunde hier. Es bedrückt mich bis in die letzten Fasern meines Fühlens, dass Mama dies ganz sicher wahrnimmt, aber kaum eine Chance hat, dies noch spürbar ausdrücken zu können. Es sind nur noch minimale mimische Reaktionen, die vor allem nach meinem Empfinden Resignation und Verzweiflung offenbaren. Sie sieht und spürt wohl zutiefst, dass sie aus ihrer Welt keinen Weg mehr findet (aktiv) Beziehung zu gestalten. Und wir verhalten uns ängstlich bis schonend. Ja doch – zu Recht – sicherlich muss es jemanden zutiefst irritieren und deprimieren, wenn er zwar noch wahrnimmt, was um ihn herum geschieht, sich dazu aber nicht mehr äußern und verhalten kann.

Jetzt, da Anne und Claudia weg sind, finde ich es schade, dass wir nicht offensiver waren. Aber andererseits weiß ich ja aus den letzten Monaten, wie sehr sie ihre Ruhe auch wollte – auch die letzte!?

16.45 Uhr: Gerade eben waren Helga und Kathrin da, nachdem zuvor die Nachmittagsvisite versucht hat, die Therapie weiter abzustimmen. Tatsache ist bei relativ unauffälligem CT die klare Symptomatik eines rechtsseitigen sich auswirkenden, also linkshemisphärisch verursachten Hirnschlags (Blutdruck zu niedrig, Pulsfrequenz zu hoch, bei einer – wie der Chefarzt meint – „versteckten Krankheitsursache“, z.B. Leukämie, was die hohe Anzahl der weißen Blutkörperchen erklären würde.)

Ich habe mich jetzt phasenweise gut im Griff, ertappe mich aber durchaus dabei, den ein oder anderen Hoffnungsschimmer sehen zu wollen. Dies ist sicherlich daneben.

19/07/03

7.50 Uhr: Ich habe lange geschlafen – von ca. 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens. Ich wollte eigentlich früher wieder hier sein; habe ein schlechtes Gewissen. Das ist allerdings ziemlich blödsinnig, weil wir alle Kraft brauchen werden für das, was noch kommt. Ich bin heute Morgen um 7.00 Uhr mit Laura losgefahren von Güls. Wir haben wenig geredet und viel geweint. Es gibt die Zeit des Redens, die Zeit des Lachens und die Zeit des Weinens und manchmal alles miteinander.

Der Unterschied, der in den Phasen von Sterben, Tod und Trauer liegt, wird mir so umfassend bewusst, wie nie zuvor. Ich glaube, dass wir uns mit dem Tod angemessen auseinander setzen, dass wir ihn hinnehmen als das letztlich Unabwendbare, hinter dem das letzte Geheimnis des Lebens liegt. Ich glaube wir können trauern und uns in der Trauer erneuern, zusammenfinden und stärken. Was wir aber nicht können, ist das Sterben begleiten. Wir vergehen in der tiefen Trauer um das, was wir möglicherweise versäumt haben. Letzteres trifft sicherlich auf mich und Mama nicht zu. Aber wir sind ja nicht alleine auf der Welt. Laura hat kaum eine Chance, sich jenseits des überwältigenden Schmerzes, mit dem sich vollziehenden Prozess des Sterbens auseinander zu setzen. Da wird etwas angestoßen, was für die weitere Entwicklung außerordentlich bedeutsam ist.

Es bleibt im Übrigen immer die Frage, wie sich Sterben vollziehen würde, wenn wir nicht – vielleicht an einem Punkt, wo es ohnehin sinnlos und unmenschlich erscheint – die lebendige Vitalfunktionen unterstützenden Maßnahmen ergreifen würden. Es ist und bleibt der Punkt, an dem ich die größte Unsicherheit verspüre: Lasst uns gehen, wenn es an der Zeit ist. Und zweifellos gibt es keine bittereren Stunden, Tage und Wochen im Leben. So eng sind die Verwobenheit und das Netzwerk des gegenseitigen Ermöglichens, so sehr sind wir die Anderen und die bedeutsamen Anderen wir, dass wir etwas Elementares, etwas Substantielles verlieren. Wir verlieren den entscheidenden Blick, die Annahme, die selbstverständliche Gewissheit, wer wir sind. Der Nabelschnur einer tiefen Verbundenheit wird die Nahrung entzogen; sie wird uns herausgerissen und eine tiefe Wunde bleibt zurück. Hilfloses Gebrabbel!

10.50 Uhr: Ärztevisite vorbei – kurzes Gespräch - Vereinbarung, keine lebensverlängernden Maßnahmen durchzuführen, die ohne das Ziel einer therapeutisch sinnvollen Perspektive sind.

12.30 Uhr: Nach einem erneuten CT keine Verschlechterung der Hirnfunktionen, leichte Besserung des Blutbildes.

Eine halbe Stunde zuvor der bislang intensivste Austausch mit Mama über Blickkontakt und Mimik. Ich traue mich (noch) nicht, sie nach ihrem Wunsch und Willen zu fragen. Ich habe mich von der Sinnhaftigkeit einer Magensonde überzeuge lassen. Sie ist soeben gesetzt worden. Mama liegt jetzt frischgemacht halbseitlich und schläft – erschöpft. Blutdruck: 140 zu 70.

13.50 Uhr: Gerade eben sind Ann-Christin und Laura weggegangen. Zwischen 12.30 und 14.30 Uhr waren sie alleine bei Mama, während ich bei Ulla und Rolf essen war. Sie leiden mit, so wie ich mitleide. Sie sind fassungslos, sie erleben zum ersten Mal die Gnadenlosigkeit eines Lebens zum dem der Tod so gewiss gehört wie das Amen in der Kirche. Gnadenlos ist das hilflose Zuschauenmüssen, wie diejenige langsam aus dem Leben geht, die eine Wurzel ihrer selbst ist. Gnadenvoll wäre ein Sterben in Würde und ohne Siechtum. Was kann man selbst dazu tun, was können andere tun? Ich möchte Mama fragen, ob sie sterben möchte!

Meine Mama, die mich geboren hat, nachdem sie mich neun Monate unter ihrem Herzen getragen hat, die mich genährt und ernährt hat, die mich gepflegt, gewickelt und gepäppelt hat, die mich liebt und immer geliebt hat, meine Mama, die mich immer gesehen hat, die mir immer verziehen hat, die in mir weiterleben wird, in meinen Kindern, in ihren Körpern und in ihren Seelen. Meine Mama, der ich – neben meinem Papa – alles verdanke, woraus ich das meine gemacht habe, mit allen Fehlern, die Menschen machen und mit aller Liebe, zu der ich fähig bin. Ich will sie weitergeben an meine Kinder, denn es ist der Antrieb und die Bedingung sein Leben ganz zu leben und anzunehmen mit allem Schönen und mit allem Unabwendbaren, was uns zukommt.

Warum ist das Begleiten zum Sterben hin so schwer? Weil wir verlieren, was wir auch sind, und vor allem, weil wir hilflos die Hilflosigkeit und das Leiden unserer Nächsten ertragen. Und wir selbst leiden unermesslich, wenn wir das Leiden der eigenen Mutter nicht, oder nur begrenzt lindern können. Der „Drüsch“, Bettnachbar meiner Mutter, schlaganfallbeeinträchtigt und Diabetiker, ein 54jähriger Mann aus Hönningen, der viele Menschen kennt aus dem Verwandtschaftskreis meiner Mutter, meint, es würde ihn schon sehr wundern, wie wir uns um unsere Mutter kümmern (ihm als Sohn ginge es allerdings ebenso, weil die Mutter der Mittelpunkt der Familie sei). Ich habe ihm erzählt, dass in Koblenz gegenwärtig „Horizonte“ stattfinde, eines der größten Freiluftkonzerte des Kultursommers (über drei Tage) , worauf ich mich schon seit langem gefreut hatte, wie ein kleines Kind, mit meiner ganzen Leidenschaft. Aber wie könnte ich dort sein. Die Leidenschaft ist hier, wo sie ist. Es gibt die Zeit der Freude, und es gibt die Zeit des Leidens und Vieles dazwischen. Und gegenwärtig ist die Zeit des Leidens – und die durchleiden wir gemeinsam. Ich wäre kein Mensch und wollte keiner sein, wenn ich nicht wüsste, was jetzt zu tun hätte. Ich habe es immer gewusst, zumindest in den entscheidenden Situationen. Alles in allem habe ich alle Veranlassung auf der Welt zu einer dankbaren und demütigen Haltung. Kaum jemand hat so viel Ermöglichung, Respekt und Ermutigung erfahren durch seine Eltern, durch sein Umfeld wie ich. Und wie viel weniger wäre ich, wenn ich dies – diese Fülle – nicht auf meine Weise genutzt hätte.

Ich habe für kurze Zeit ausgeweint, habe wieder allen Schmerz empfunden. Selten spürt man, wie sehr man lebt; Leben als Empfindung aller Sehnsüchte, Freude und Schmerzen dieser Welt. Geht hinaus in diese Welt und empfangt mit offenen Armen und offenen Herzen den Reichtum dieser Welt; empfangt und gebt ihn weiter, gestaltet eure Welt mit uns gemeinsam und denen, die euch zuwachsen, wachst über uns und über euch hinaus, wie wir über unsere Eltern hinaus gewachsen sind und ihnen beistehen in ihrer schwersten Stunde, die auch uns nicht erspart bleibt! Das möchte ich meinen Kindern und Nichten zurufen und allen Kindern dieser Welt. Was bildet uns und macht uns zu Menschen? Das Leben mit all seinen Färbungen, wozu auch und in besonderer Weise der Tod gehört. Leben heißt Unterschiede wahrnehmen und in unseren Wahrnehmungen und Handlungen wach für diese Unterschiede zu sein. So weit und so intensiv, so hart und so mild, so entschieden und sanft ist das Leben in all seinen Schattierungen und Lichtungen für uns, die wir in Demut und in Dankbarkeit das volle Maß annehmen. So gewinnt vielleicht auch das Sinnlose seinen Sinn, und ich teile ihn heute mit meiner Mutter und all den Visionen und Erwartungen, die uns in den letzten Jahren mehr und mehr verbunden haben.

20/07/03

Seit 7.00 Uhr bin ich wieder hier. Ich schlafe gut und tief. Ich bin mit mir im Reinen. Es war ein bewegter und bewegender Vormittag. Die Schwester und Ulla haben Mama gewaschen und ihr ein eigenes Nachthemd angezogen. Sie ist die meiste Zeit „wach“.

14.10 Uhr: Wir bereiten uns auf einen langen Weg vor. Wie oft habe ich von der Dynamik und Paralyse gelesen, die Familien ereilt, die die Intensivpflege ihrer Angehörigen begleiten wollen. Die ersten Tage sucht man mit aller Konsequenz nach Lösungen, die eine Präsenz möglichst rund um die Uhr gewährleisten. Dann kommen der zunehmende äußere Druck (vom Job bis zur Familie) und die ebenso zunehmende Erschöpfung. Pragmatische Lösungen müssen her; Arrangements. Da öffnet sich dann fataler Weise die Schere, die zunehmende Bedürftigkeit auf Normalstation oder im Pflegeheim auf der einen Seite und abnehmende zeitliche Spielräume auf der anderen Seite bedeuten. Konkret für mich: Die beiden letzten Wochen des Semesters stehen vor der Türe. Das kann ich händeln. Claudia und die Kinder haben Ferien (Ferien!), ich habe sechs Wochen Urlaubsanspruch. Und dann? Ulla ist auf Rente. Aber da ist die Erwartung auf baldige „Erlösung“. Ein ambivalentes Spiel beginnt mit ungewiss gewissem Ausgang.

14.20 Uhr: Vor einer Viertelstunde haben wir Mama auf die Seite gedreht. Sie scheint zum ersten Mal tief und fest zu schlafen. Sie hat beim Drehen und beim Anfragen der Schwester zum ersten Mal mit einem vernehmlich gehauchten „Ja“ geantwortet. Sie hat zum ersten Mal den rechten Fuß bewegt. Es fällt ihr schwer, den Kopf zu drehen. Sie nimmt die Zitronenstäbchen bewusst an und äußert auf die Frage, ob sie welche will oder nicht durch ein klares und eindeutiges Kopfnicken.

Verdammte Scheiße! Genau der Zustand, vor dem sie immer den größten Horror gehabt hat: Lebendig begraben! Ich schwitze und verspüre Müdigkeit. Zu „gut“ – zu viel gegessen, keine Bewegung. Morgen muss ich die Situation an der Uni klären! Morgen hat Anne Geburtstag!!! Morgen ist morgen. Morgen ist ein neuer Tag mit neuen Anforderungen und ungewissen Anmutungen. Man erwägt Mama auf „Normal“ zu verlegen – auf „Normal“: Absetzen der intensivmedizinischen Betreuung. Der erste Versuch schlägt fehl. Die einsetzende Arhythmie und ein unkontrollierbarer Puls haben den Versuch scheitern lassen. Wann wird es mit welchen Konsequenzen möglich sein? Wie lange halte ich das durch? Körperlich kein Problem – seelisch geht, aber ich bin ja nicht allein auf der Welt. Mein Hund vermisst mich so! Gestern Abend eine Runde über den Heyerberg. Nicht das Vergnügen wie sonst. Alles matter – alles fader. Ulla kommt heute um 16.00 Uhr. Solange Mama auf Intensiv ist, kann man Stunden weggehen, ohne dass man ein schlechtes Gewissen haben muss; das wird auf „Normal“ anders sein. Laura und Ann-Christin waren über Mittag hier. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Mama-Oma stirbt und Ann-Christin entdeckt ihre Liebe zu einem Rot-Kreuz-Notfall-Sani; der hat Mama am Dienstag mit ins Krankenhaus transportiert. Himmel-hilf, bunte Welt – alles zu seiner Zeit. Aber das hätte Mama gefallen?!

15.20 Uhr

Komm steh auf, wir gehen jetzt!

Komm doch, bitte Mama,

wir gehen von hier fort,

komm wir bleiben nicht an diesem Ort.

Immer war es deine Hand,

an der du mich geführt,

immer hat dein Blick mich tief berührt,

immer hör ich deine Stimme,

auch am Telefon:

Immer war dein „Tschüs“ kein Letztes

Und immer, immer sehn ich mich danach.

Deine Wärme und dein Blick leben wohl in mir.

Ich geb sie weiter deinen Enkelkindern,

lebt in uns, lebt in mir.

Liebe Mama, liebe Mama,

bleibe hier – hier bei mir.

Ja, ich weiß, so sollen wir nicht denken,

wo Gott und Jesus alle Wege lenken.

Ja, ich lass dich gehen,

aber geh dann auch!

Gott, nimm ihre Seele bei dir auf.

Ich komm später, so wie alle –

Hoffentlich zum Wiedersehen.

Ich sitze hier und kann nichts tun. Mama schläft, aber immer bewegt sie zwischendurch ihre rechte Hand.

21/07/03

14.15 Uhr: Heute ist der 21. Juli 2003. Anne hat Geburtstag. Sie wird 14 Jahre alt. Mama stirbt. Der 21. Juli wird wohl nicht ihr Sterbetag sein. Aber wir haben sie heute auf „Normalstation“ verlegt, um der Quälerei ein Ende zu machen: austherapiert! Wenn keine Aussicht auf Heilung und Genesung ist, nach einem Hirnschlag und einem so reduzierten Allgemeinbefinden, ist eine weitere Therapie im Sinne der Intensivmedizin nicht zu vertreten und auch nicht zu wollen. Darin waren sich Ulla und ich und alle behandelnden Ärzte einig. Neben dem Chef, Dr. Kreuter, dem Stationsarzt, Dr. Holl und Dr. Alberti auch die bewundernswerten und mit Dankbarkeit zu honorierenden Schwestern auf der Intensivstation. Das heißt, auf der 5 erhält Mama jetzt außer Wasser über die Magensonde nur noch lindernde Medikamente, in erster Linie Morphium. Ich habe Mama gefragt, ob sie schlafen könne. Sie hat das eindeutig verneint. Ich habe sie gefragt, ob sie schlafen wolle, und das hat sie eindeutig bejaht. Dr. Holl und Dr. Alberti haben die Gabe von Morphium eindeutig bejaht. Dazu muss man allerdings zunächst einmal festhalten, dass Mama seit Donnerstag, seit dem Hirnschlag zwar nicht mehr sprechen konnte, aber ganz und gar zweifelsfrei uneingeschränkt wahrnehmungsfähig und kommunikationsfähig war. Ich habe oft mit ihr gesprochen und mir ihre Zustimmung zu den kleinen Erleichterungen, die möglich waren, geholt.

Und heute Morgen, so wie an jedem Morgen, habe ich zuerst bittere Tränen in beträchtlichem Maß vergossen, weil ich zuerst und immer noch ihr Kind bin, das seine Mama liebt und nicht gehen lassen will. Dies haben wir dann anders hinbekommen, immer die Kurve bekommen und der Abschied war in jeder Hinsicht ein möglicher und im Rahmen des Möglichen ein guter!

Nie wieder in meinem Leben, solange es dauern mag, werde ich vergessen, wie ich ihre linke Hand zu mir geführt habe, meine rechte Wange hineingeschmiegt habe und ihre Hand über mein Gesicht habe gleiten lassen, über meine Haare, über meinen Nacken. Und ich habe gespürt, wie sie es genossen hat, und wie sie es durch den ihr möglichen Druck verstärkt hat. Sie hat es mehrmals wieder tun wollen, indem sie ihre Hand gehoben und mit ihren Augen signalisiert hat, wie wohl ihr das tut. Und ich habe es genossen, diese letzten bewussten Berührungen. Meine Tränen sind wie kleine Bäche gelaufen – so wie jetzt – so wie noch oft, wenn ich an meine Mama denke.

Sie liegt jetzt ruhig da. Sie hat heute zum allerersten Mal eine Gabe Morphium bekommen. Sie soll jetzt nicht mehr leiden. Wir haben alles versucht – der Kampf, ihr Kampf ist wohl verloren. Und es möge nicht zu lange dauern. Aber auch Dr. Alberti hat schon bemerkt, dass Mama eine Kämpferin ist, wie so viele Frauen dieser Generation. Ich glaube, wir können sie gehen lassen, das letzte wirkliche Geheimnis zu erforschen. Aber es bleibt immer die Frage, ob sie bereit ist, und daran gibt es durchaus Zweifel. Rinpoche: Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat. Ja, es gab Ungeklärtes in ihrem Leben. Aber ich (will) glaube(n), dass Mama ihren Frieden gemacht hat, auch mit Ulla. Wir sind keine blindwütigen und egoistischen Kämpfer, die Mama um jeden Preis im Leben halten wollen. Wir haben damals schon – bei Papa – gelernt, wie begrenzt aller Menschen Leben, Macht und Möglichkeiten sind. Wir haben bei Willis Tod erfahren, dass man unter Umständen – und die Umstände waren so – nicht einmal die geringste Chance hat, sich zu verabschieden. Wie ohnmächtig sind wir doch eigentlich alle miteinander! Uns fehlt nur die Demut zum rechten Leben. Aber vielleicht sind wir auf einem guten Weg!

15.30 Uhr: In einer Stunde kommt Helga, meine Schwägerin; die Mutter von Ann-Christin und Kathrin. Sie löst mich ab, bis gegen 19.30 Uhr Ulla kommt, unterstützt durch ihre Freundin Claire. Claire, Ullas beste Freundin, war eben hier. Ich möchte gerne alle Vorbehalte und dummen Ressentiments von ihr wegnehmen. Sie hat eine sehr gute, wohltuende Art. Ich fahre um 17.00 Uhr nach Hause, möchte noch ein bisschen bei Annes Geburtstag dabei sein. Dann werde ich ein paar Stunden schlafen und Ulla wieder ablösen; ich schätze so gegen zwei Uhr in der Nacht. Die meisten Dinge sind einigermaßen geklärt. Ich muss für Mittwoch noch einen Ersatzprüfer besorgen.

22/07/03

11.30 Uhr: Seit zwei Uhr in der Frühe bin ich wieder hier. Mama hat trotz der sechsstündigen Gaben von Morphium immer noch und immer wieder lange „Wachphasen“. Sie ist ansprechbar, reagiert mit Kopfnicken oder –verneinen. Auch heute Morgen haben wir lange miteinander gesprochen. Ich habe ihr meine Gedichte vorgelesen – mein Gedichtband „Das Leben ein Klang“ kommt gerade frisch aus der Druckerei. Ich lese ihr den „Aufbruch“ nach Bert Hellinger vor. Ich habe ihr erzählt, dass sie uns nun vorausgeht, dass sich alle, die schon „da sind“, freuen, sie wiederzusehen, natürlich an erster Stelle Papa, Willi, Oma und Opa. Dies halte ich für einen guten Weg. Wir haben oft darüber gesprochen, was uns wohl erwartet. In der Konsequenz ihres Glaubens liegt auch eine klare Erwartung. Und die habe ich so überzeugend und überzeugt vertreten, dass sie zu einem Stück meiner Welt geworden ist. Ich habe ihr erzählt, dass sie eine gute Mama ist, die beste Mama auf der ganzen Welt, dass ich froh bin, sie solange zu haben. Das hat sie gerne angenommen. Dass sie die beste Oma aller Omas ist, und dass wir alle miteinander, die wir zurückbleiben, es gut machen werden. So bin ich zum ersten Mal in eine nüchterne und abgeklärte Haltung hinein gewachsen, die schon etwas von Leichtigkeit hat.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine andere Welt und eine andere Beziehungskultur hätten, wenn vor allem alle Männer ihre Mütter auf dem letzten Weg, bis zur letzten Konsequenz, mit allen Facetten des Erlebens und des Tuns begleiten könnten.

Heute Nacht um 4 Uhr mussten wir noch einmal das Bett wechseln, weil das erste Inkubus-Bett defekt war. Auch von den äußeren Rahmenbedingungen war manche Widrigkeit zu verkraften. Man erlebt und beteiligt sich an der Härte des Alltags der Krankenhausschwestern, an der Schwere ihrer Arbeit in körperlicher wie in seelischer Hinsicht.

11.45 Uhr: Gerade eben war Dr. Kreuter, der Chefarzt, da. Er hat uns noch einmal alle Unterstützung zugesichert, zum Beispiel auch die Gabe von einem Valium-Derivat (Dormicum), wenn wir es für sinnvoll halten. Mama hat noch einmal klar verneint, Schmerzen zu haben. Ich habe sie gefragt, ob sie Angst habe. Sie hat dies zweifelsfrei verneint. Offensichtlich ist die Medikatierung so angemessen, dass sie nicht „abgespritzt“, ruhiggestellt wird bis zur totalen Bewusstlosigkeit, sondern dass sie schmerzfrei, andererseits im Rahmen ihres Zustandes zur Kommunikation fähig bleibt. Um 12.45 kommen Claudia und Anne. Wir waren kurz auf dem Zimmer und haben dann in der Cafeteria zu Mittag gegessen. Danach sind wir noch einmal für eine halbe Stunde hochgegangen, haben Ulla abgelöst und gemeinsam Wache gehalten. Mama öffnete die Augen nach einem lauten Türenknall und sah Anne vor sich sitzen. Was man wahrnimmt in einem solchen Zustand, ist zweifelhaft. Aber der Ausdruck der Augen, das Erstaunen war schon ersichtlich. Sie hat mit großen Augen geschaut, geschaut auf Anne und auf Claudia, die so ihren Abschied nehmen konnten. Das sind Augenblicke, die in mir die größte Bewegung hervorrufen.

Welch ein ungeheures Privileg, diesen Weg begleiten zu dürfen. Die Auseinandersetzung mit denen, die außen vor bleiben, wird nicht einfach. Ich spüre, wie die Dynamik mich mitnimmt: Von der totalen Fassungslosigkeit mit dem Tal der Tränen zu einer unaufhaltsam voranschreitenden Annahme des Unabdingbaren, wodurch mir in fast unglaublicher Weise die Kraft zuwächst, alles zu tun, was notwendig ist. Mehr noch spüre ich einen außerordentlichen Schub – ja einen Wachstumsschub mit immerhin 51. Bald werde ich kein Kind mehr sein, sondern in der Welt stehen als Vater und als Kind, dessen Eltern ihren Weg zu Ende gegangen sind. In ihrer Fürsorge und in ihrer Liebe liegen die Bedingungen und der Humus für ein gutes, aktives Leben, das sich der Fülle und der Farbenwelt des Lebens vollkommen bewusst ist.

23/07/03

0.12 Uhr: Ich bin gerade aus Koblenz gekommen und löse Ulla und Claire ab. Bisher ist es uns gelungen, eine nahezu Rundum-Anwesenheit zu gewährleisten. Heute Nachmittag haben Helga und Gaby jeweils einige Stunden bei Mama gewacht.

Für mich ist es erstaunlich, wie lange der Todeskampf dauert. Ein extrem geschwächtes Herz-Kreislaufsystem und die hirnspezifischen Ausfallerscheinungen stellen eine enorme Beeinträchtigung dar, und ich habe lange gehofft, diese akute Phase des Sterbens möge nicht so lange dauern. Im Einvernehmen mit den Ärzten dosieren sich die Morphiumgaben im Rhythmus von 6 Stunden – Diazepam (ein Valiumderivat) steht als Reserve bereit. Von Donnerstagnacht an (17.7.), seit dem Schlaganfall dauert nun aus meiner Sicht dieser Prozess. Mama war über all die Zeit fast immer ansprechbar und zu einem Austausch in der Lage. Diese Phasen nahmen seit gestern (Montag, 21.7.) ab, waren aber immer noch in ausgeprägter Form gegeben. Jetzt ist für mich der Punkt, an dem ein unnötiges Leiden unbedingt zu verhindern ist. Mama hat in den letzten Monaten und insbesondere Tagen genug gelitten. Sie hat das Geschehen ihres Sterbens vollkommen bewusst erlebt. Jetzt soll sie einschlafen dürfen. Ich hoffe, wir haben eine ruhige Nacht. Es kommt jetzt häufiger zu Hustenanfällen. Es sammelt sich Schleim, der nicht durch Schlucken oder Abhusten entfernt wird - erstickungsähnliche Anfälle.

Auf dem Nachttisch steht eine Rose. Sie öffnet ihre Blütenblätter hin zu Mamas Bett. Ich bekenne mich dazu, eine „nüchterne“ Atmosphäre zu bevorzugen. Keine persönlichen Dinge. Alles ist reduziert auf unsere Beziehungen – Konzentration auf das Wesentliche. Bislang hat uns dies alle Kraft gegeben. Aber diese eine Rose verändert die Atmosphäre in einer beeindruckenden Weise. Sie und ihr Schattenbild bilden ein Zentrum, ein ästhetisches Kondensat, das wohl tut.

In Mamas akuter Situation kann es wohl kein Zeitempfinden mehr geben. Vielleicht tröstet uns das, zu wissen, dass die wenigen „Augenblicke“ keinen Eindruck mehr vermitteln von der „Endlosigkeit“, wie sie uns vorkommt. Zweifellos erleben wir all dies ja vollkommen anders, zwischen Hilflosigkeit, Mitleiden, Trösten und Da-Sein.

 

Der Sommer, der (k)ein Sommer ist

Du Sommer blendest alle,

glänzt mit übersatter Pracht.

Du Sommer lähmst uns alle,

machst uns traurig,

wo man sonst doch lacht.

Du Sommer zeigst dich ohne Gnade,

jeder Tag bleibt eingebrannt.

Früh schon quälte deine Sonne

Reinen, weißen Schnee hinweg,

kein Erbarmen, Fleck für Fleck.

Und du schautest unterkühlt uns zu,

wie wir lernten wieder gehen

und auf eignen Beinen stehen,

beharrlich und mit großer Haltung;

gönnst uns keinen Muttertag.

Schickst uns über Land,

bis ein Haus sich fand,

dort schon fast zu sterben.

Du schickst uns deine Schwüle,

dein eisig Heiß und kaltes Blau

Tag für Tag –

Erst recht in jenem Kessel,

nur am Morgen kühler Tau.

Und wie sehr regt sich die Hoffnung,

wenn die Sonne freundlich scheint.

Und ihr merkt erst sehr viel später,

wie der Mond nachts weint.

Denn er ahnt,

wovor wir dummen Kinder uns verstecken

hinter Rosen und auch Hecken,

dass auch niemand etwas ahnt,

wie Gevatter Tod

sich seinen Weg nun bahnt.

Schickt uns erst noch glücklich heim,

alles ist gerichtet.

Und wir mühen uns doch redlich,

das Fest der Freude (79) feiern wir gedämpft,

jeder sieht doch wie sie kämpft.

Nach dem Anstieg kommt die Ebene.

Doch du, du Sommer, bläst nun zum Finale

- wie immer vor der Zeit.

Blitze leuchten, Donner krachen,

doch die Hitze bleibt,

gnadenlos begleitet sie den Weg,

der steiler nun und steiler geht,

bis das er steinig und auch weglos wird.

Und immer neue Schluchten tauchen auf,

bis wir spüren, was das wird

und alles Hoffen geht dahin.

Wir schicken uns hinein, in das Diktat,

dessen Ende schwarze Schleifen hat.

Und schwarze Schleifen,

passen die zu einem Sommer,

der voller Einfalt

nichts als blaut?

Ja, sie passen,

aber nur zu dem,

der seine Zukunft

auf die Ahnen baut!

 

5.30 Uhr: Ich bin jetzt, nach einer Woche, die „harmlos“ anfing, schon ziemlich erschöpft. Mehr und mehr tritt die Frage in den Vordergrund, was wir Menschen eigentlich tun? In der Sterbebegleitung. Solange die Menschen ruhig daliegen und langsam auf die andere Seite hinüber dämmern und vorher im besten Fall Abschied gelungen ist, solange ist das, was wir tun „in Ordnung“. Aber die Frage, welchen Sinn eine Quälerei mit Erstickungsanfällen hat, wird wohl niemand ohne Weiteres beantworten können - So ohne Weiterers! Das Weitere haben insbesondere die katholischen Christen parat mit ihrer Schuldlitanei. Warum sollen Menschen, die schuldig sind – peccatum originale – nicht büßen? Wenn Leben zum Tode sich unabwendbar vollzieht (und lang und länger zieht), bin ich für eine aktive Sterbehilfe in Form einer angemessenen Medikatierung.

6.55 Uhr: Was kommt eigentlich danach? Was kommt dann, wenn jemand gestorben ist. Die Organisation der Beerdigung, zuvor Totenschein, Traueranzeige, Erbangelegenheiten. Ja, Letzteres wird vermutlich ein von unterschiedlichsten Interessen geleitetes Unterfangen sein. Drei erbberechtigte Parteien: Ulla, Ann-Christin und Kathrin als Willis Erben, und ich. Die Kreuzstraße 111 gehört zur Hälfte Tante Annemie. Die ganze Nacht schon fühle ich mich ziemlich daneben. Es gibt nichts mehr zu reden. Mama ist schon ein Stück weiter weg, aber sie ist noch zu sehr in dieser Welt – ein unglücklicher Kampf, den mit anzusehen immer auch ein Stück das Herz bricht. Die letzten 15 Jahre ohne Papa waren einerseits reich an Erlebnissen und Unternehmungen: Zwei Enkelkinder sind noch geboren worden – Kathrin am 29.4.89 und Anne am 21.7.89. Um ihre beiden Neuenahrer Enkelinnen, Ann-Christin und Kathrin, hat sie sich aus Leidenschaft und Hingabe gekümmert, schon ab dem Zeitpunkt, als Helga und Willi in die Kreuzstraße 113 eingezogen sind und Mama in ihr Elternhaus nebenan ging (Kreuzstraße 111). Vollends einbezogen und letzter Rettungsanker wurde sie nach dem 21. Juni 1994, Willis Tod. So sehr sie der Tod ihres jüngsten Sohnes ins Mark getroffen hat, so sehr hat sie die Verantwortung mit übernommen für die Pflege, Betreuung und Erziehung der beiden damals erst knapp 8- und 5-jährigen Mädchen. In diesem Jahr wird Ann-Christin 17 und Kathrin ist 14 Jahre alt. Auch und gerade für die beiden bedeutet der Tod ihrer Oma einen tiefen Einschnitt. Nach dem frühen Tod ihres Vaters geht jetzt die letzte Ahne von der Seite ihres Vaters aus der Welt. Für die beiden und für mich bedeutet es für eine Sekunde des blinden Schmerzes den Untergang einer ganzen Welt – und für die langen Augenblicke des Erinnerns immer auch tiefen Schmerz über einen unermesslichen Verlust.

7.15 Uhr: Mama liegt halb auf der linken Seite, den Mund geöffnet. Sie atmet nur noch 8 bis 10 Mal in der Minute. Ihr Gesicht spiegelt den Ausdruck totaler Erschöpfung und die Frage, „wann ist es denn endlich vorbei?“ Ihre Schläfen sind schon leicht eingefallen. Ihre Hautfarbe bis in die Fingerspitzen ist hingegen noch rosig und zeugt von guter Durchblutung. Wie macht sie das? Ich habe es schon deutlich gesagt. Wenn ich die Mittel zu einer aktiven Sterbehilfe zur Verfügung hätte, würde ich vermutlich davon Gebrauch machen. Die einzige „Beruhigung“ resultiert aus der Medikatierung, die ja therapeutisch nicht mehr indiziert ist, sondern einzig dazu dient, Mama schmerzfrei zu halten und vielleicht nicht den Todeskampf, den sie nun über mehrere Tage schon geht, auszudehnen. Aber für uns ist es ein erbärmlicher, andauernder Kampf.

9.15 Uhr: Mama ist um 8.00 Uhr frisch gemacht worden. Wir haben das Gebissteil entfernt. Mama war sehr unruhig, in den letzten Stunden hatte sich ihre Atemfrequenz bis auf 8 pro Minute reduziert; aber sie hatte wachähnliche Zustände mit großer Unruhe, außerdem hat sie mehrfach Not signalisiert, weil sie sich verschluckt hatte. Ich habe daraufhin Dr. Alberti angesprochen, der von sich aus schon nachgefragt hatte. Sollte man jetzt nicht mit diesem Valiumderivat (Dormicum) „unterstützen“? Der Abschied ist vollzogen, die Therapie abgesetzt, jede Belastung kann jetzt – sofern sie abwendbar ist – nicht mehr legitimiert werden. Dr. Alberti bestätigt dies nach Augenschein uneingeschränkt. Die Infusion ist angelegt. Mama schläft ruhig, die Atmung ist schwer reduziert. Dr. Alberti weist darauf hin, dass die Gabe von Valiumderivaten auch eine Belastung von Atmung und Kreislauf bedeute. Es sei keine „Sterbehilfe“, sondern ausdrücklich therapeutisch im Sinne von Erleichterung indiziert. Dies entspricht exakt unserem Willen (damit sind Ulla und ich gemeint), denn nirgendwo besteht nach den vergangenen sechs Tagen so uneingeschränkte Übereinstimmung, wie in der Absicht, Mama die letzten Stunden/Tage so „leicht“ wie nur irgend möglich zu machen.

10.45 Uhr: Ich bin zu feige, ihr – meiner Mama – das Kissen aufs Gesicht zu drücken – 2 oder 3 Minuten. Dr. Alberti hat mir versichert, dass Mama mit der Gabe von Morphium und Valium subjektiv nicht mehr leidet. Ich kann ihm das nicht so recht glauben. Beginnendes Lungenödem, Rückstau in den Bronchien, Atemnot, offene Augen, Verkrampfen der linken Hand – nur noch physiologische Reaktionen??? Ja, ich leide wie ein Tier. Wie kann es denn sein, dass wir jede Kreatur erlösen, aber diesem sinnlosen Leiden kein Ende zu setzen vermögen?

Wut und Hass stellen sich ein. Eine röchelnde, in der Atmung völlig reduzierte, ringende Frau – große, leere, aber immer noch suchende Augen, die von Mal zu Mal brechen, Atemfrequenz vielleicht noch bei 6 Zügen pro Minute. Dann bin ich ruhig, gelassen, resigniert – Beobachter des Sterbens meiner Mutter. Vielleicht sind es ja wirklich nicht mehr die Züge eines wissenden, spürenden, fühlenden, reflektierenden Menschen, sondern nur noch physiologische Korrelate, gelebtes Leben.

12.15 Uhr: Man sollte seine Wut überdenken. Anflüge von Leere stellen sich ein. Ich sitze im Dahliengarten und hoffe, dass Mama einfach aufhört zu atmen. Sogar hier ist die mit Niklas Luhmanns verbundene Unterscheidung von gelebtem, erlebtem und erzähltem Leben auf einmal ein möglicher Schlüssel zum Verstehen: Mama scheint auf der Ebene „erlebten Lebens“ also auf der Ebene von Bewusstseinsprozessen durch die Medikatierung in eine Welt der Drogen und Tranquilizer eingetreten zu sein, im Übergang zu dem, was uns nicht zugänglich ist. Und natürlich vollziehen sich auf der Ebene „gelebten Lebens“ weiterhin die noch möglichen physiologischen, biochemischen, biophysikalischen Prozesse. Wir können dies an den Körperfunktionen zweifelsfrei beobachten. Was wir daraus machen ist auf der Ebene erzählten Lebens unsere Sache, die unseres Erlebens und die unseres Kommunizierens.

19.20 Uhr: Es ist schon merkwürdig. Vor einer halben Stunde ist Helga gegangen. Nach einem Absaugen gegen 17.00 Uhr liegt Mama jetzt ganz ruhig, halbseitlich. Ihre Atemfrequenz hat sich wieder normalisiert (13/Minute). Das bedrohliche Erscheinungsbild von heute Morgen hat sich relativiert. Es sieht so aus, als könnte sie noch tagelang, ja wochenlang so liegen. Es ist nicht erkennbar, was den totalen Zusammenbruch auslösen kann. Man sagt wohl allgemeinhin ein Lungenödem verursache letztlich den Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems. Warum soll ich verschweigen, nachdem sich dieser Zustand als akute Entwicklung über eine Woche erstreckt, dass uns dies zunehmend belastet. Ja, sich Zeit nehmen für die Begleitung zum Tode hin.

22.20 Uhr: Ja, es beginnt die dritte Nacht auf der „Normalstation“: 5 Innere, Zimmer 551. Irgendwann beginnt man sich zu fügen, nicht in das Unabwendbare – das ist längst geschehen, nein in die merkwürdige Dynamik des individuellen Sterbens. Mir ist klar geworden, dass wir dem Sterben bei der Trias von Tod, Trauer, Sterben viel zu wenig Aufmerksamkeit einräumen. Es ist zweifellos, je nach individueller Situation, der Aspekt mit der größten akuten Belastung. Sie zwingt uns zur permanenten Auseinandersetzung mit uns selbst, mit dem Sterbenden und mit der Beziehung, die zwischen uns war und ist.

Mama liegt jetzt seit Stunden friedlich da und atmet regelmäßiger. Sie hat seit heute Morgen sicherlich keine erkennbaren bewusstseinsmäßigen Zustände mehr gehabt. Die Gabe von Valium als 24-Stunden-Infusion dämpft alle Empfindungen unter ein bewusstseinfähiges Niveau ab. Am 24. April 1988 ist Papa nach einer intensiven Woche gestorben. Vielleicht will Mama uns eine Gedächtnisbrücke bauen. Morgen wird eine Woche seit ihrem Schlaganfall vergangen sein: der 24. Juli 2003. Es ist und bleibt merkwürdig, welche innere Ruhe einem zuwächst, so als würde man psychisch geadelt. Alle in Mamas Familie sind schwer und zäh aus dem Leben gegangen. Es inspiriert mich gerade gar nicht zu diesen gängigen Lebensweisheiten, dass der Mensch so stürbe, wie er gelebt hat. Mama hat ein rechtschaffenes Leben gelebt und sicherlich nie irgendjemandem bewusst und willentlich einen Schaden zugefügt, zumindest nicht, was meiner Kenntnis zugänglich wäre. Ich erinnere hingegen, dass sie viele Jahre über die Katholische Frauenschaft Krankenhaussozialdienst (Besuchsdienst) geleistet hat. Sie hat ihre Kinder und ihre Enkelkinder groß gezogen (nicht alle); sie war das Zentrum einer Familie, in der sich auch die Kinder mit ihren Familien verbunden fühl(t)en. Es ist mehr als augenscheinlich, dass auf der Ebene der Enkelkinder starke Bindungen untereinander entstanden sind.

24/07/03

4.00 Uhr: In einer Stunde kommt Ulla. Dann bin ich mit einer Unterbrechung von 3 Stunden 28 Stunden im Krankenhaus. Mama liegt seit etwa 20 Minuten ganz ruhig, atmet kurz und regelmäßig; eigentlich kaum zu glauben, dass das in absehbarer Zeit zu Ende gehen soll. Ich fahre gleich nach Hause und versuche einmal „auszuschlafen“. Wir wissen nicht, wie lange es noch dauert. Zum x-ten Mal stelle ich fest, wie sehr uns Willi fehlt. Zu dritt wären wir ein optimales Team gewesen. An dieser Stelle muss auch einmal Dank an Gaby und Helga gesagt werden, die neben ihrer Arbeit mehrere Stunden Wache gehalten haben. Heute Nacht war Dr. Alberti eine Zeit lang hier, ein junger 28jähriger Arzt, der mit seinen wenigen Jahren Berufserfahrung (zwei Jahre) eine außerordentliche Reife, Abgeklärtheit und Wärme an den Tag legt. Er beeindruckt durch seine nüchterne Betrachtungsweise gesellschaftlicher Trends und leitet die Orientierung seiner professionellen Haltung aus klaren persönlichen Motiven ab; er erzählt nicht nur etwas über Ethos, Echtheit und Maloche, sondern er lebt sie authentisch vor; zu meiner großen positiven Überraschung. Auch Michael hat sich von seiner Oma verabschiedet. Er ist ein weichherziger, verwundbarer Mensch.

4.15 Uhr: Die Zeit zieht sich wie ein zäher Kaugummi dahin. Wenn ich nach Hause fahre, bin ich gegen sechs Uhr in der Frühe dort. Wenn man mich in Ruhe schlafen lässt, könnte ich bis zwölf Uhr schlafen (6 Stunden) und wäre gegen 13.00 bis 14.00 Uhr wieder hier. Das wären für Ulla mehr als sieben Stunden, eher acht, und das ist zu lange. Wenn Mama so ruhig schläft, soll sie sie über die Mittagszeit alleine lassen? Das muss möglich sein. Aber wie der Teufel es will, oder der liebe Gott…

Es ist merkwürdig: Bezogen auf die Arbeit habe ich latent Anflüge von Legitimationsbedarf. Vor allem deshalb, weil sich kein anderer Arbeitnehmer ad hoc die Freiheit nimmt, konsequent das Notwendige, das „Natürliche“ zu tun. Man muss es wohl so sehen, dass die Uni – vor allem in der Konstellation, in der ich arbeite – nach wie vor ein ungemein privilegiertes Feld darstellt.

4.25 Uhr:

Ich schreibe die Zeit tot

In meiner Seelennot,

vielleicht wird sie meine Freundin,

und ich habe sie nur betäubt,

damit sich nichts mehr sträubt

und doch noch passt in meine Welt.

15.15 Uhr: Ich mag es nicht glauben. Dieser Todeskampf – oder sagen wir neutraler: dieses Sterben – zieht sich in einer Weise hin, die ich so nicht erwartet habe. Bewusst habe ich heute Sherwin B. Nulands Buch: „Wie wir sterben. Ein Ende mit Würde“ mitgebracht und habe die Kapitel über die biochemischen und physiologischen Abläufe des Sterbens gelesen. Nuland beschreibt die unterschiedlichsten Konfigurationen und thematisiert darüber hinaus Fragen der Sterbehilfe und eines würdevollen Rahmens. Natürlich bin ich schockiert und will nicht verstehen, dass ein vorgeschädigtes Herz, der Tatbestand eines vor einer Woche eingetretenen massiven Hirnschlags nicht zu einem Zusammenbruch der vitalen Grundfunktionen geführt haben und den eintretenden und bevorstehenden Tod nicht beschleunigen. Und ich mag mich an dieser Stelle wiederholen: Unser aller Abschied ist gemacht und Begleitung hat sich erschöpft, sie war intensiv, sie war möglich, sie hat all das möglich gemacht, was in dieser Situation erreichbar war.

Aber das, was jetzt geschieht, hat mit einem Ende in Würde nichts mehr zu tun. Gut, dass wir in einem Krankenhaus sind, richtig, dass eine Medikation nun wohl zur Schmerzfreiheit und Bewusstlosigkeit führt – alles war im Prozess im Übermaß gegeben. Aber nunmehr einen röchelnden, mit jedem Zug um Atem ringenden Körper weiter diesen aussichtslosen Kampf kämpfen zu lassen, das hat mit einem würdevollen Ende nichts mehr zu tun. Wir nahen Angehörigen, Tochter und Sohn begleiten unsere Mutter mit großer Liebe und Hingabe, aber wir beide vermögen nicht nachzuvollziehen, warum man das, was unabwendbar ist, sich in dieser entwürdigenden Weise vollziehen lassen muss: Alle zwei bis drei Stunden wenden, absaugen, Mundpflege, eine Magensonde zur Ent- und Versorgung…

19.30 Uhr: Mama liegt halb auf der linken Seite. Sie atmet kurz, stakkatomäßig (lang ein, kurz-explosiv aus) – es vollzieht sich eigendynamisch, zentralnervös gesteuert Leben, eine Grenzform dessen, was wir gelebtes Leben nennen – wodurch gelangt dies an ein Ende? Durch Herzstillstand, Hirntod, Nierenversagen – alles auf einmal???

22.35 Uhr: Ja, es ist Donnerstagabend, 22.35 Uhr – kein Ende, kein gnädiges Ende, Prognosen unsicher, obwohl katastrophaler Zustand, zweifellos way of no return, aber wie lange, wie weit, wie qualvoll auch für uns, die wir mitansehen, wie ein ausgemergelter Körper – nein, ausgemergelt wirkt Mama nicht, vielmehr ausgepumpt – sich quält; jenseits allen Bewusstseins lebt nur noch das, was leben muss.

23.55 Uhr: Panik – Entsetzen: nur als Vorstellung - Absaugen – Novalgin zusätzlich zur Polypnolgabe – Morphium wegen SCHNAPPATMUNG. Schnappatmung: chiiii-ähh, chiiii-ähh, chiiii-ähh… Wie viel Morphium, wie viel Prohypnol noch???

3.50 Uhr: Seit Mitternacht habe ich jetzt ein eigenes Bett! Ich danke den Schwestern von der Nachtschicht. Das, was wir alle (?) wissen, bestätigt sich. Unsere Gesellschaft ist krank in der völligen Fehleinschätzung und der daraus resultierenden Schieflage von Wertigkeiten. Diese „Normal“-Schwestern leisten – wie die Intensiv-Schwestern – eine Arbeit, deren Wert wir nicht annähernd würdigen. Wir nähern uns der Pflegegesellschaft und der Zeitpunkt ist absehbar (und ja auch schon irgendwie da), wo wir die dritte, die vierte Welt einladen und zu pflegen und den Arsch zu wischen, wenn wir es denn zahlen können. Und die Gebete aller aufrechten und fürsorglichen Kinder – der erwachsenen und der greisen Kinder – lauten anders als die der Kindkinder:

Lieber Gott, mach meine Mama tot,

hilf ihr und uns in unsrer großen Not.

Ich danke allen Schwestern sehr,

die meine Eltern pflegen,

schließ alle ein in deinen Segen.

7.15 Uhr: Mama hat in den letzten Stunden eine ruhigere Nacht gehabt. Ich habe ein eigenes Bett und habe sehr gut geschlafen. Ist das noch normal? Ich möchte eigentlich nicht zum Routinier dieser Situation werden, bin aber auf dem besten Wege dazu. Es rächt sich halt, wenn man Dinge vor der Zeit tut: Über Beerdigungsarrangements sprechen, Todesanzeige entwerfen, Totenzettel gestalten, Kleid aussuchen, Sarg aussuchen (!), Adressen zusammenstellen. Aber das ist doch vernünftig und legitim – oder? Meine Schwester ist da viel pragmatischer und nüchterner. Aber sie hat über 20 Jahre in der Altenpflege gearbeitet. Und ich bin nur Theoretiker im Life-Kurs: Sterben für Anfänger (Linhard Bardill).

Mama atmet jetzt sehr ruhig und vor allem wird die Atmung nicht mehr durch Schleimbildung behindert. Ich hoffe jetzt für sie und für uns auf das Wochenende! Was ist das für eine Hoffnung? Seit Montag, dem 21.7. ist Mama jetzt auf „Normal“, das heißt sie bekommt außer Morphium, Polypnol, außer einigen Gaben Novalgin keine Medikamente, keine Ernährung, die Magensonde ist entfernt! Wodurch lebt dieser geschundene, stark belastete Organismus, wie weit käme jemand zurück, wenn man alle Schmerzkiller und Ruhigsteller absetzen würde? Wie weit ist die Schädigung des Gehirns vorangeschritten? Was macht uns so ungeduldig? Das heißt, solange ich hier bin, bin ich ruhig, gelassen, sehr in mir selbst ruhend. Sobald ich das Haus verlasse, nimmt die Unruhe zu. Wie viel Zeit dürfen denn Angehörige sich nehmen, um den Sterbeprozess zu begleiten? Stirbt Mama denn zur Zeit noch, oder hat sie einfach für eine Zeit aufgehört zu sterben, richtet sich ein in dieser Zwischenwelt? Es wäre eine verdammt lohnende Aufgabe Angehörige auf dem Weg der Sterbebegleitung zu begleiten, sofern und inwieweit Menschen diesen Prozess überhaupt noch bewusst annehmen und gestalten (wollen/können). Was bedeutet im Übrigen dieses „Können“ zwischen Selbst- und Fremdvalidierung/-verantwortung? Wie viele Menschen sind denn grundsätzlich bereit, ihren Urlaub dafür einzusetzen, sich mit Widerständen aus dem familiären und beruflichen, aus dem gesellschaftlichen Umfeld auseinanderzusetzen??? Wer hat denn überhaupt eine Vorstellung bzw. die Grundeinstellung, dass dies für ihn ein Gewinn, eine unabdingbare Voraussetzung zu einer umfassenden Persönlichkeitsbildung ist? Werde, der du bist, der du sein kannst, indem du andere gehen lässt! Wer ertappt sich nicht dabei, die Vorstellung, den Wunsch zu entwickeln, dies alles möge schnell, schneller, am schnellsten vorbeigehen; es möge das „Immer-Schon-Gewesene“ sein. Wann beginnt der Legitimationsbedarf der eigenen Familie, den Arbeitskollegen gegenüber? Wann, ab wann gilt jemand selbst als GAGA?

Dies sind immer auch Fragen, die in uns selbst auszutragen sind. Wann beginnt selbst das Umfeld im Krankenhaus Fragen zu stellen. In Krankenhäusern wird zwar massenhaft gestorben, aber es sind halt keine Sterbehäuser, kein Hospize. Wie denn auch in einer Gesellschaft die dem Jugendwahn verfallen ist, und in der eigentlich fast alle Menschen latent das Gefühl haben „unsterblich“ zu sein?

Hier – im „Maria-Hilf“, in Bad Neuenahr, sind wir allerdings so etwas geworden wie eine symbiotische Zwangsgemeinschaft, in der ich am wenigsten Belastung, zumindest aber partiell auch Entlastung bedeute, weil ich, weil wir einfach da sind, und dabei sehr diskret: „Der schreibt schon wieder.“

12.50 Uhr: Ich habe zu Mittag gegessen (Fisch, Kartoffeln, Spinat und Salat). Vorher war ich mit Ulla bei Zerwas (Bestattungsunternehmer), fast Nachbarn, die schon für Papa gesorgt haben und die es auch sicher für Mama gut machen werden (Willi ist ja von seinem Schulkameraden Creuzberg eingesargt und bestattet worden). Während ich dies aufschreibe, liegt Mama zwei Meter von mir weg und atmet sich weiter vor an die Grenze. Dr. Alberti hat heute Vormittag noch einmal mit Mühe eine neue Infusionsmöglichkeit eröffnet. Mama ist seit zwei Tagen im Zustand totaler Bewusstlosigkeit, sozusagen im Tiefschlaf, schmerzfrei, ohne Empfindungen (?), ohne Bewusstsein. Ich wäre nicht ansatzweise so abgeklärt, wenn wir nicht über gut eine Woche den Abschied genommen hätten, der uns möglich war; miteinander und ein jeder für sich.

Mama und ich haben den Abschied über die letzten Jahre zelebriert, mit jedem nur für uns bestimmten Zusammentreffen. Dies war zwar immer auch „äußeren“ Anlässen geschuldet (Einkaufen, Arztbesuche, Friedhof, Aufenthalte in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen). Einmal waren wir für einen Tag bei Liesel, ihrer Cousine, in Niederadenau. Sie hat gekocht, wir haben erzählt und gemeinsam gegessen, Biene (unsere Border-Collie-Hündin) war schon bei uns. Immer war mir bewusst, dass es letzte Unternehmungen sind. Aber sie waren fröhlich und unbefangen, immer auch Ernst vor allem in den Erinnerungen. Und es gab viel zu erinnern. So ist auch mein Erinnerungsbuch entstanden, in dem alle ihren Platz haben. Ich habe es mir genommen. Und ich habe mich und die anderen reich beschenkt. Wir haben die große Idee und die große Kraft der Familie gelebt und verteidigt – bis in die letzten und vorletzten Widersprüche und Ungereimtheiten hinein. Wir lebten zwischen den Welten und mittendrin.

„Schreiben ist Rettung vor dem Tod“ (Günter Kunert). Einmal schauen, was mir bleibt; nie um den Preis im Schreiben zu retten, was nicht war und was nicht wahr; immer schreiben, um zu bewahren, was unser Gedächtnis sonst verliert. Es ist merkwürdig. Wir – meine Herkunftsfamilien und deren Herkunftsfamilien haben zur Schreibkultur keinen Bezug. Und unterdessen bin ich selbstbewusst genug zu sehen, dass unsere Geschichten Geschichte sind, zwar immer noch primär in dem Sinn und in der Absicht uns unserer selbst zu vergewissern, aber immer doch klar auch in dem Bewusstsein, in eine lebendige Kultur eingebettet zu sein.

26/07/03

Oh wache Stunde,

nächster Versuch;

erneute Runde

im weißen Buch.

Spitz, heiß und begehrlich,

spritzig und frisch,

treu und ehrlich,

glatt wie ein Fisch

steigst du bergan

und gipfelst im Tal,

treibst du im Kahn

zwischen Freude und Qual…

Damit begann die Eintragung in die letzte Kladde, die sich erschöpft hat in einem Ritt der apokalyptischen Reiter vom 30.6. bis zum heutigen 26.7. In dieser Zeit hat sich das Leben meiner Mutter erschöpft. Sie liegt sterbend neben mir. Noch gelingt es ihr nicht den letzten Atem auszuhauchen. „Schnappatmung“ nennt man diese letzte Phase, in der der Sterbende „verzweifelt“ nach Luft schnappt, erschöpft einen langen – bis zu 20 Sekunden dauernden – Aussetzer hat und dann den Wechsel zwischen Schnappen und Pausieren erneut beginnt. Ich habe verzweifelt in An- und Abführungszeichen gesetzt, weil „Verzweiflung“ Bewusstsein voraussetzt. Und Bewusstsein ist seinerseits an Voraussetzungen gebunden. Die sind nicht mehr gegeben. Mit der Dauergabe von Prohypnol ist alle Wahrnehmung so sehr abgedämpft, ins „Bewusstlose“ verschoben, dass „Bewusstsein“ ausgeschaltet ist; einmal abgesehen von der vermutlichen dauerhaften Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Ich habe ja keine Erfahrung mit Sterbenden. Bei Papa war ja nach dem Abschalten der Herz- Lungenmaschine in kurzer Zeit, innerhalb von Stunden, der Tod eingetreten. Mama war nie an – vitale Lebensfunktionen unterstützende – Apparaturen angeschlossen. Sie kämpft von Anfang an ihren einsamen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner, anfangs noch auf der „Intensivstation“ mit kreislaufstabilisierenden Medikamenten unterstützt. Für einen unbeteiligten Beobachter müsste es wohl absolut faszinierend sein, die äußeren, beobachtbaren Verhaltensregungen zu beobachten und zu protokollieren, die sich in dieser letzten Phase erkennen und beschreiben lassen. Wenn man einen Herzmuskel mit „angemessenen“ Elektroimpulsen (also einem schlichten „Herzschrittmacher“) reizt, also über Reizauslösung die Kontraktion des Muskelgewebes stimuliert, dann hat man vermutlich ein passendes Bild. Dies funktioniert ja nur, wenn Stoffwechselprozesse oberhalb eines nicht unterschreitbaren Levels ablaufen. Das Zusammenspiel von Herztätigkeit, Blutzirkulation, Sauerstoffanreicherung in der Lunge bewegt sich offensichtlich auf einem soeben noch zureichenden Niveau.

10.10 Eben war Tina da – Helgas Schwester. Sie ist Krankenschwester und arbeitet auf der gegenüberliegenden Seite. Sie hat zu Mama eine gute Beziehung gehabt, hat sie gut gekannt und steht dennoch soweit außerhalb, dass sie die Situation nüchtern einzuschätzen vermag: „Es kann minütlich, stündlich zu Ende gehen. Es kann sich aber auch noch Tage hinziehen.“ Ich sollte mich verabschieden von allen medizinisch-funktionellen Sichtweisen und nunmehr noch mit Ruhe diesen Sterbeprozess begleiten.

10.35 Vergeht man sich eigentlich an sich selbst und an der eigenen Mutter, wenn man den Wunsch hat, es möge zu Ende gehen? Vielleicht angesichts der Situation eine rhetorische Frage!

Der Sterbetropf

Binnen zehn Tagen

Ein Anfang, ein Ende;

Erschöpft alle Fragen

Die Hoffnung auf Wende.

Am Anfang ein Suchen:

Was hilft uns jetzt noch?

Dazwischen ein Fluchen

Nun verstehen wir doch!

Am Anfang noch sehen

Und immer noch fühlen,

einander verstehen –

langsam erkühlen.

17.25 Ewig lange keine Eintragung mehr. Sieben Stunden sind vergangen und Erdzeitalter ist es schon her, da das Wünschen noch geholfen hat. In dem beschriebenen Schnapp- und Pausenrhythmus „nähert“ Mama sich langsam ihrem Ende; wie ein Fisch auf dem Land! Wo bleibt da noch „Würde“. Es scheint so, wie mit dem Urwaldriesen im Amazonasdschungel. Wer eigentlich bekommt denn mit – rein hypothetisch – wenn der umfällt? Niemand! Er fällt gar nicht um. Das Umfallen bedarf eines Beobachters! Nicht ganz. Alle Menschen sterben. Die meisten aber „unbeobachtet“. Sie werden, wenn es gut kommt, gepflegt, gebettet, gewaschen, versorgt; aber dies sind routinierte Abläufe im Krankenhausalltag. Nehmen sich Angehörige die Zeit, das Sterben zu begleiten, erfahren sie unter Umständen, dass die Würde des Menschen darin besteht, die würdelosen Umstände seines Sterbens zu respektieren, nur pflegerisch Hand an ihn zu legen, ihm schonend sein Bewusstsein zu nehmen, aber ihn aus Respekt wie einen Fisch auf Landgang krepieren zu lassen, ihn jämmerlich krepieren zu lassen. Aber wie gesagt, dies spielt sich nur in den Augen eines Beobachters ab.

27/05/03

9.30 Ich bin vor einer Viertelstunde aus Koblenz gekommen. Ulla und ich sind gestern Abend um 21.00 Uhr nach Hause gefahren in der Gewissheit, dass Mama in dieser Nacht stirbt. Ich finde sie heute Morgen in keinem merklich veränderten Zustand – nach wie vor schnapp-atmend (Schnappatmung: für mich das Unwort des Jahres 2003). Sie kann offenbar nicht sterben – sie weiß nicht wie Sterben geht! Ich habe bereits für einen kleinen Eklat gesorgt, weil aus einem Tropf vermeintlich eine Calcium-Lösung verabreicht wird. Es stellt sich heraus, dass es sich um Valium handelt, weil im ganzen Haus kein Prohypnol mehr aufzutreiben ist.

Ich bin vollkommen erschüttert, verfluche den Schöpfer – und wir müssen alle dafür büßen: „Wen Gott liebt, den züchtigt (prüft) er.“ Das war offensichtlich das Credo meiner Großmutter – und meine Mutter hat sich diese Überzeugung ganz offensichtlich auch zu Eigen gemacht.

11.00 Mama ist tot. Um 11 Uhr, während – oder kurz nach dem Waschen und Frischmachen ist Mama gestorben. Sie liegt jetzt (um 11.40 Uhr) ruhig in ihrem Bett. Ihre Züge sind entspannt. Friede ist eingekehrt. Ulla und ich sind bei ihr. Eine liebe Schwester aus dem Orden hat die Gebete gesprochen. Das war gut so und in Mamas Sinn. Das war ein langer, harter Weg! Ich hoffe, dass sie auf diesem Weg und über diesen Weg hinaus das Paradies gefunden hat. Ich hoffe es für sie und für uns alle. Ich bin und bleibe ein Träumer für sie, für mich, für uns. Ulla fährt jetzt nach Hause und holt noch den Brief für die Krankenschwestern. Ich bleibe noch eine Weile bei Mama, wie so oft in den letzten Monaten. Wir beide allein – ein letztes Mal. Man muss den Becher bis zum Boden leeren, um ihn neu füllen zu können.

Im Augenblick ist alles ganz leicht. Im Glauben, dass es jetzt gut und richtig ist, liegt eine große Erleichterung. Aus ihr erwächst die Kraft, die Zukunft wieder packen zu können. Ich hoffe alle – vor allem die Kinder – werden verstehen und die Kraft und Zuversicht weitertragen und nutzen, die Mama 79 Jahre hat leben lassen, drei Kinder hat gebären und Verluste ertragen lassen; vor allem den Tod ihres jüngsten Sohnes, Willfried, an den ich jetzt mit besonderer Intensität und Wehmut denke. Möge sie Papa, Willi, Oma, Opa und all die anderen, die ihr vorausgegangen sind – auf welche Weise auch immer – wiederfinden. Vielleicht geschieht dies ja nur einmal, im Augenblick des Todes und damit für immer (das ist meine Interpretation der „ontologischen Differenz“(erfahrung). Welch ungeheurer Trost!

15.30 Ich bin dort, wo meine kleine Freiheit grenzenlos ist; oben auf dem Heyerberg mit Biene. Wir – Claudia, Ann-Christin, Kathrin, Laura, Anne und ich – haben miteinander Kaffee getrunken, geweint und gelacht, und dann musste ich auf meinen Weg: Leben ist Unterschiede bilden. Der fundamentale Unterschied ist Tod – Leben oder „operativ“ gesprochen: leben – nicht-leben. Mama ist tot. Ich lebe. Sie lebt in mir, in uns, in meinen Erinnerungen und Bildern.

17.15 Ich habe mich auf den Flugplatz „gerettet“, nachdem auch der Himmel nun weint. Zwei Stunden bin ich durch die Felder und Wiesen gelaufen und habe an alles und nichts gedacht. Ich versuche herauszufinden, wie sich das anfühlt, jetzt auch ohne die Mutter zu sein, ins erste Glied gerückt zu sein, wie viele sagen, endgültig erwachsen zu sein: Erst Papa (1988) – da waren wir noch alle zusammen, dann Willi (1994) und nun Mama. Ab und zu gucken die Leute merkwürdig. Aber wie schon Peter Fuchs meint: Auf meiner Stirne stehen keine Leuchtbuchstaben, die wirklich etwas preisgeben von meinen Gedanken und Gefühlen – ein bisschen vielleicht.

30/07/03

Die Zwischenwelt – morgen ist Mamas Beerdigung. Ich wandere mit Anne und Biene nach Winningen. Es ist 18.15 Uhr, und ich fühle mich ziemlich dazwischen.

31/07/03

21.00 Uhr: Vor einer Stunde sind wir aus Bad Neuenahr zurückgekommen. Heute Morgen um 10.00 Uhr war Mamas Beerdigung; eine ruhige, gefasste Zeremonie, die mich im unmittelbaren Rückblick völlig überrascht. Ann-Christin und Laura hatten am Tag zuvor die Halle, in der Mama aufgebahrt war, geschmückt; auf eine so einfühlsame, harmonische und eindrucksvolle Weise hergerichtet, den Sarg in ein Meer von Sonnenblumen eingefasst, so dass sich eine überwältigende Pracht und Fülle darbot. Die Frauen aus der Nachbarschaft und ihr Jahrgang haben den Rosenkranz gebetet; an die hundert Menschen haben sie zum Grab geleitet. Pfarrer Hürter hat auf einfühlsame Weise das Ritual vollzogen (ein Totenamt ohne Orgelbegleitung!). Wir haben uns im Anker versammelt, die enge und weitere Verwandtschaft, Bekannte und Nachbarschaft. Es wurde erzählt, gelacht, erinnert. Danach haben wir uns bei Ulla zum Kaffee getroffen, dort wo wir am 3. Juli, genau vier Wochen zuvor, Mamas 79sten Geburtstag gefeiert haben. Ein guter, runder, satter Tag. Und ich frage mich angesichts dieser Eindrücke, inwieweit der/die intensive(n) Abschied(e) der letzten Jahre, Monate, Wochen einen „Trauervorrat“ hervorgebracht haben? Das ist wohl eine Frage, die mich noch geraume Zeit umtreiben wird.

01/08/03

Die letzte Eintragung signalisiert viel Unsicherheit – inwieweit ist mein Weg durch die Trauer noch dynamisch und lebendig? Ich fühle mich relativ betäubt. Von Sonntag an – mit dem Tod meiner Mutter um 11.00 Uhr am Vormittag, überwog zunächst die Erleichterung darüber, dass nun dieser quälende Prozess des Sterbens an ein Ende gekommen war. Sterben, nein, das Beobachten und Begleiten des Sterbens, war eine quälende und schockierende, illusionszerstörende Erfahrung. Aber da war zu Beginn noch etwas Anderes: Eine große Klarheit, eine Kraft, die mit Leichtigkeit verbunden ist. Im Gegensatz zu 1988 (Papa) und 1994 (Willi) bin ich mit einer so großen Klarheit, Kraft und Souveränität durch die anschließenden Tage der Vorbereitung und Organisation der Beisetzung gegangen, dass mich diese Haltung auch über den Donnerstag hinweg getragen hat. Inzwischen kommt mir das schon merkwürdig vor, und ich beginne mich zu fragen, inwieweit das alles noch „normal“ ist? Ich bin jetzt am liebsten alleine und versuche mich den Anforderungen des Alltags weitgehend zu entziehen.

05/08/03

Zum ersten Mal macht sich jetzt eher Sprachlosigkeit breit. Erinnerungen drängen sich auf; immer wieder Bad Bertrich – letzte Male, letzte Spaziergänge, tastende Versuche in einen neuen, letztlich unerwartet ultrakurzen Lebensabschnitt; letzte Abschiede vor allem, fast schon inszeniert, letzte Blicke, Augenblicke; ein letztes Mal auf einer Parkbank (an der Ürs), ein letztes Mal gemeinsam in einem Café (einmal mit Ann-Christin im Kurcafé), immer zuversichtlich, den letzten Lebensabschnitt noch einmal ins Visier nehmend; keine Pläne, aber der Blick und die Erwartung auf die Tage, die uns noch bleiben; ein letztes Mal gemeinsam Einkaufen (mit Tante Annemie), der letzte gemeinsame Kaffee in der Kreuzstraße 111, der uns zum Ritual der letzten Jahre geworden war; noch einmal 100 L Blumenerde für Papas Grab, noch einmal ein Buch: „Daweli Reinhard erzählt sein Leben“ (zu Ende gelesen!) – überhaupt immer noch Neugierde, gemeinsames Erinnern, Erzählen. Was könnte ich noch fragen? Was will ich noch wissen?

Nie mehr – und doch sitze ich hier und sehe dein Bild, frage und gebe die Antworten selbst und erinnere letzte Male.

9.8.2013

Du könntest mich heute fragen, wie es denn weitergegangen ist und wie es weitergeht. Und ich will auch euch – da drüben, auf der anderen Seite – davon erzählen:

Es ist viel geschehen – sowohl Erzählens- wie Verschweigenswertes, wovon ich im Übrigen nicht so genau weiß, wie ich das Eine vom Anderen unterscheiden soll bzw. kann. Weihnachten 2011 habe ich mit „deiner Geschichte“ begonnen: „Hildes Geschichte – oder: auch eine Liebe in Deutschland“. Sie wird in ein paar Monaten – zu Weihnachten 2013 erscheinen – in einer schönen Handausgabe für die Familie – bebildert.

Ja, für die Familie, für meine Familie, für die, die noch da sind und die irgendwie und immer noch dazu gehören, ja, warum nicht – auch für die Familie, die auf der anderen Seite, in Österreich aus Franz – oder doch zumindest unter seiner maßgeblichen Beteiligung hervorgegangen ist. Die wollen doch auch wissen, wie das alles war bzw. wie es gewesen sein könnte und irgendwie auch gewesen sein muss. Da beißt die berühmte Maus den Faden nicht ab – er wird weiter gesponnen: Ohne Franz keinen Gert, keinen Werner und keine Ulla. Sowohl in Trostberg, da wohnt Werner mit seiner Familie, als auch in Ahrweiler, da wohnt Ulla mit ihrer zerbrochenen Familie, gäbe es nicht diese Enkelin und jenen Enkel, aus denen Franzens Urenkel mit hervorgegangen sind. Womit die einen im Einklang leben, das lässt die anderen nicht ruhen. Das Blut – die Blutsbindung und die Wahlverwandtschaft – beides treibt uns um, und wir schauen, wer sich da alles begegnet, wer da zusammenkommt und wieder auseinandergeht, welche Spuren sie hinterlassen und wie die Nachkommenden darin und darüber hinaus wandeln.

Ich bin gespannt, wo ich den Faden wieder aufnehmen werde?

 

Wissenschaftliche Ansätze - Biografieforschung

Soziale Systeme operieren nach Niklas Luhmann im Modus von Kommunikation. Daher hier einige Hinweise zur Auseinandersetzung mit der Frage: "Was ist Kommunikation?" Des weiteren eine foliengestützte Kurzfassung zu Niklas Luhmanns "Lebenslauftheorie". Um alle Beiträge einsehen zu können: Doppelklick auf "Lesen lernen mit Luhmann"

 

   
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