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Hildes Geschichte - Heimkehr zu Änne

Hilde war, was sie war, durch die Tat. Sie erinnerte keinen Tag in ihrem kurzen Leben, an dem sie nicht Anteil hatte am täglichen Überlebenskampf der Familie. Sie konnte putzen, waschen, bügeln und kochen. Sie konnte Holz hacken, Futter stechen, Hasenställe entmisten. Sie konnte sogar Hasen und Hühner schlachten und für die Küche oder den Weiterverkauf vorbereiten. Sie hatte gelernt auf dem Feld zu arbeiten, Gemüse heranzuziehen, Kartoffeln zu setzen, zu ernten und Heu zu machen. Hilde war schon mit in den Weinbergen, in der städtischen Friedhofsgärtnerei, sie hatte schon an der Garderobe des städtischen Schwimmbads ausgeholfen. Sie hatte rechnen, lesen und schreiben gelernt, ging jeden Sonntag zur Messe, achtete Vater und Mutter liebevoll zugewandt. Ja, sie konnte lesen und im „Goldenen Pflug“ sowohl in der Gastronomie als auch in der Küche oder im Hotelbetrieb aushelfen – und sie konnte mit Kindern umgehen; jeder Tag ihres Lebens war von Arbeit erfüllt, sie führte ein fleißiges, arbeitsames Leben, hatte noch nie ein Buch gelesen außer dem „Land am Strom“ und der üblichen Schullektüre. Sie war, was sie tat. Und was sie tat, tat sie gut. Die Mutter war ihr zugetan und der Vater sah mit Wohlgefallen auf sie.

Als Hilde am Abend des 9. September auf dem Notsitz im letzten Abteil sich vollkommen in Gedanken verlor, versank sie in einem Land, das der Liebe huldigte; ein Land, dessen Sprache allein die Sprache der Liebe war; ein Land ohne Verbote und ohne Angst. Jenseits von Raum und Zeit schwebten die Paare schwanengleich durch den Äther und verstanden sich wortlos mit Blicken. Umschmeichelt von sanften, sphärischen Klängen und Rosendürften und einander zugewandt schwebten die Paare monadenhaft und ziellos durch die hellen Weiten des unendlichen Kosmos.

„Hildche, wat machs dou dann he, kom, mir sen at doh, du muss doch och in Neuenahr oussteije!“ Jemand packte Hilde an den Schultern und rüttelte sie sanft. Hilde erschrak zutiefst, sprang auf und taumelte leicht. „Bes wohl enjeschlofe, kom et wierd Zeid, de Zoch fiert jleich wegge!“ Jetzt erst gewahrte Hilde die alte Frau Tönnesen, eine Nachbarin aus der oberen Kreuzstraße. „Mein Gott, ja, ich muss wohl eingeschlafen sein. Jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst komm ich zu spät zur Arbeit. Danke, dass sie mich geweckt haben!“ Mit einem Satz sprang Hilde aus dem Zug und lief aus dem Bahnhof in Richtung „Goldener Pflug“; das waren nur wenige hundert Meter stadteinwärts. Sie verlangsamte ihre Schritte und zögerte. Dort wurde sie heute nicht erwartet. Und dennoch trieb es sie dorthin.

Zielstrebig, aber langsam ging sie weiter. Als sie den „Goldenen Pflug“ erreicht hatte, betrat sie vorsichtig die Eingangshalle zum Hotel, wo die Rezeption um diese Zeit nicht mehr besetzt war. Ungesehen lief sie die Treppe hoch bis zum Dachboden. Hier kam um diese Zeit niemand hin – außer Änne.

Als Änne Hilde, die sich in den hintersten Winkel verkrochen hatte, weckte, mochte es wohl gegen 22.30 Uhr sein.

„Hildchen, wo kommst du denn her und was machst du hier?“, fragte Änne, indem sie Hilde, die langsam zu sich kam, aufhalf. Sie führte Hilde ins Zimmer und setzte sie aufs Bett, in das sich Hilde sofort fallen ließ. Änne zündete eine Petroleumlampe an, deren spärliches Licht bizarre Schatten an die Wände warf. „Wo kommst du jetzt her, wo bist du gewesen?“ Hilde guckte verstört, richtete sich auf und bat Änne um ein Glas Wasser. Nachdem Hilde getrunken hatte, wurde Ännes Ton fordernder und eindringlicher. „Also los, erzähl schon!“

Hilde fing still an zu weinen. „Du warst weder bei Verwandten in Hönningen und erst recht nicht zu Hause. Du hast deine Sonntagskleider an. Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?“

„Doch Änne, das will ich ja. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll – und, du darfst nicht schimpfen!“ Änne streichelte Hilde übers Haar, schenkte das Glas voll, setzte sich zu ihr aufs Bett und sagte dann in ruhigem Ton: „Jetzt mach einmal ganz langsam und erzähle eins nach dem anderen“. Änne, die längst ahnte, was Hilde in den letzten Tagen und Wochen so sehr verändert hatte, nahm ihre Hand, sah Hilde ernst an und wiederholte, was sie ihr vor wenigen Tagen gesagt hatte: „Du weißt, dass ich immer für dich da bin. Und vor gut 1 ½ Wochen habe ich dir gesagt, dass du auch dann, und gerade dann zu mir kommen kannst, wenn du das Gefühl hast, dass es nicht mehr weiter geht!“

Hilde richtete sich auf, setzte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes und wischte sich die Tränen aus den Augen: „Der Franz, der Franz ist weg, und ich weiß nicht wohin ich soll. Ich habe mich mit Franz getroffen“. Hilde zögerte und sagte dann: „Und ich habe den Franz so gern, ich lieb den Franz!“ und zum ersten Mal huschte der Anflug eines Lächelns über Hildes Gesicht.

Änne war heiß geworden und in Gedanken überschlugen und mischten sich eigene Erinnerungen mit den größtmöglichen Befürchtungen. Sie ließ sich nichts anmerken, lachte Hilde an, nahm eine Tafel Schokolade aus der Nachttischschublade, brach ein kleines Stückchen ab und schob es Hilde zwischen die Lippen. „So, und jetzt ganz langsam und noch einmal von vorne. Was hast du denn heute Morgen gemacht?“

Hilde lutschte an der Schokolade und antwortete ganz ruhig: „Ich bin heute Morgen nach Remagen gefahren und habe mich heute Mittag am Bahnhof mit Franz getroffen.“

„Seid ihr Kaffee trinken gewesen und spazieren?“, fragte Änne.

„Nein, Franz hatte ein Zimmer gemietet – in einer Pension – schon gestern. Wir sind dorthin gegangen“.

Änne wurde unruhig und versuchte ihre Unruhe zu verbergen und steckte sich selbst ein Stück Schokolade in den Mund. „Ach, der Franz hat ein Zimmer gemietet und ihr seid dorthin gegangen. Habt ihr miteinander geschlafen?“

Hilde schaute Änne verdutzt an: „Nein, wir haben nicht geschlafen!“ „Ich meine, ob ihr euch lieb hattet und euch geküsst habt?“, fragte Änne ruhig weiter. Hilde lächelte verschämt und nickte mit dem Kopf. „Da hat der Franz dich wohl recht lieb gehabt. Hat er dich auch ausgezogen, und seid ihr dann ins Bett gegangen?“, präzisierte Änne ihre Frage und Hilde bejahte. „Hast du geblutet?“, fragte Änne unverhofft. Hilde wurde rot und bejahte auch diese Frage. „Aber der Franz, der hat mir nicht weh getan!“ sagte Hilde fast entschuldigend.

„Der Franz ist ein guter Mann, und er kommt zurück“, bestärkte Hilde ihre Schilderungen.

„Dieser verdammte Dreckskerl“, dachte Änne bei sich, „dieser Hurensohn, dieser vermaledeite Schnürsenkel, warum die Hilde?“ Änne machte sich Vorwürfe, Hilde nicht eindringlich genug gewarnt zu haben, war sich aber gleichzeitig der vollkommenen Aussichtslosigkeit solcher Warnungen gewiss.

„Jetzt gib acht“, sagte Änne in ernstem Ton: „Du schläfst heute Nacht hier. Es ist schon fast Mitternacht. Morgen früh gehst du nach Haus und machst deine Arbeit, so wie immer. Du erzählst niemandem von Remagen. Vielleicht hast du einfach nur Glück und der Spuk ist in wenigen Wochen vorüber. Aber wenn dir irgendetwas auffällt, vor allem, wenn du in den nächsten zehn bis zwölf Tagen deine Regelblutung, deine Tage, nicht bekommst, dann sagst du es mir! Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?“ „Ja, Änne, aber warum bist du so besorgt, was ist denn passiert?“

„Ich habe schon vor Wochen Angst davor gehabt, dass genau dies geschehen könnte“, antwortete Änne: „Du erinnerst dich doch ganz bestimmt daran, was ich dir von meiner besten Freundin erzählt habe, mit der Schwangerschaft und alledem. Diese „beste Freundin“ bin ich selbst. Das ist mir selbst passiert, mein liebes Hildchen, als ich 18 Jahre alt war. Ich will nicht, dass dir genau dasselbe geschieht. Du bist eben erst 17. Und der Franz, der Franz, Hilde, es ist Krieg! Wir wollen hoffen, dass er zurück kommt. Aber es sind schlechte Zeiten für die Liebe!“

Betroffen sank Hilde in die Kissen. Sie war hundemüde und selbst Tränen rührten sich nicht einmal mehr. Sie versank in einen unruhigen Schlaf bis zum frühen Morgen.

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