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Hildes Geschichte - Auf Kollisonskurs

So bewegten sich von so unterschiedlichen Ausgangspunkten ihres Lebens, unumkehrbar und schicksalhaft zwei Menschen aufeinander zu, wie zwei auf demselben Gleis sich entgegen rasende Züge. Die Leichtigkeit Franzens und die zwischenzeitliche Unbekümmertheit Hildes waren einer Trance gewichen, in der trügerische Sicherheit des Handelns und Zwanghaftigkeit eine mächtige Allianz eingingen. Franz verdrängte alle vernunftgeschuldete Rationalität, so wie Hilde ihrem Gewissen Gott und der Welt gegenüber keine Chance ließ. Auf diese Weise bildeten die beiden eine verschworene Gemeinschaft, die die Herausforderung des kommenden Sonntags auf ebenso souveräne wie elegante Weise meistern sollte.

Hilde versah ihre Arbeit mit Freundlichkeit und Haltung. Sie begegnete Franz offen und zuvorkommend ebenso wie seinen Kameraden, während Franz – ganz Kavalier, immer ein freundliches Wort auf den Lippen – nicht den geringsten Verdacht einer irgendwie begründeten Kumpanei oder Vertraulichkeit aufkommen ließ.

Änne spürte zwar Hildes Zurückhaltung, hatte aber an diesem Abend keinen Anlass, auch nur eine Ahnung zu hegen über die weltbewegenden Veränderungen der letzten Tage, die Franz und Hilde wie mit einem unsichtbaren Band aneinander fesselten. Von der Rettungsinsel im offenen Meer aus, auf die beide aus entgegengesetzten Richtungen zuschwammen, sollte Franz zurückblicken auf seine kleine Familie, während Hilde hinter sich nichts als die schäumende offene See wusste.

Als Franz und Hilde am frühen Nachmittag des 3. September 1941 am vereinbarten Treffpunkt einander in die Arme schlossen, war die Leichtigkeit von vor nur knapp einer Woche einer heiter bis melancholischen Grundstimmung gewichen. Die Freude, einander zu sehen, sich mit Küssen und Liebkosungen gut zu sein, wurde gleichermaßen getragen und gedämpft von einem nun durchschwingenden basso continuo, der lange nicht verhallen würde (und der irgendwann, viele Jahrzehnte später, jemanden erfüllen würde, diese Geschichte – die Geschichte von Franz und Hilde – zu erzählen).

Franz und Hilde hielten sich lange fast reglos in den Armen. Die Blicke, die nun ineinander versanken, schauten um so unendlich viel tiefer, als dass Worte hiervon einen Eindruck hätten vermitteln können. Hilde wusste, dass sie ihren Franz gefunden hatte, und Franz kapitulierte vor einer höheren Macht. All seine weltmännische Überlegenheit, seine sichere Art im Umgang mit den Frauen dieser Welt hatten sich in den Tiefen einer sich selbst genügenden Selbst- und Daseinsvergessenheit verflüchtigt. Seine Seele brannte wie loderndes Feuer zwischen augenblicklichem Begehren und einer untergehenden Ordnung, die ihm Sicherheit und Zuversicht gegeben hatte. Während er Hilde hielt, Hilde zu einem reinen Körper- und Seelenwesen geschrumpft war, konnte er nicht einmal seinem Begehren folgen. Im Wüten der ganzen Welt hielten beide den Atem an, bis ihre Blicke sich endlich wieder fanden und Worte langsam wieder dafür sorgten, dass in einem ozeanischen Gefühlschaos wieder Sprachinseln entstanden, an denen sie sich festhalten konnten. Franz nahm seine Hilde, setzte sie auf seinen Schoß, so dass beide einander zugewandt erneut ineinander sanken. Franz spürte, wie Hilde zitterte und bebte. Er schob sie ein wenig von sich weg, so dass beide einander ansehen konnten: „Am kommenden Dienstag fährt mein Zug von Remagen abends um 19.14 Uhr ab. Ich werde vormittags von Ahrweiler nach Remagen fahren und komme um die Mittagszeit gegen 13.00 Uhr dort an. Ich habe dir eine Rückfahrkarte nach Remagen gekauft. Es gehen im Laufe des Vormittags mehrere Züge nach Remagen. Du musst einen dieser Züge nehmen, und wir treffen uns dann mittags am Bahnhof.“

Hilde, die kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, sah Franz an und sagte dann, wie abwesend: „Ja, Franz, ich komme mit dir!“ „Hildchen, Hilde!“, schüttelte Franz Hilde, „hör mir genau zu, wir fahren nicht zusammen, ich bin nicht alleine. Du musst alleine fahren, und wir treffen uns dann am Bahnhof – zwischen 13.00 und 13.30 Uhr! Hörst Du?“ Hilde erwachte aus ihrer Trance, sah Franz ruhig und bestimmt an und antwortete: „Ja, Franz, ich werde da sein!“ Hilde löste sich von Franz, ordnete ihr Haar, nahm eine kleine Stofftasche und zog ein kleines Päckchen hervor. Sie reichte es Franz und sagte: „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag!“ Franz nahm das Päckchen, öffnete es und hielt ein kleines Holzkästchen in seiner Hand. „Du musst es öffnen“, ermunterte Hilde ihn ungeduldig. Franz hob den Deckel an und nahm einen kleinen herzförmigen Stein aus dem mit Holzwolle gefüllten Kästchen. „Ich habe ihn an der Ahr gefunden, er soll dir Glück bringen und dich beschützen. Immer wenn du in Not bist, sollst du ihn in die Hand nehmen. Reib ihn fest und denk an uns!“

Franz, der seine Rührung kaum verbergen konnte, nahm den Stein, legte ihn in die rechte Hand zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb ihn kräftig, wie Buch Jupp   Hildes Geschichte   final 2 page313 image86einen kleinen Handschmeichler. Er nahm die Lederschnur mit seiner Erkennungsmarke vom Hals und sagte dann mit bewegter Stimme: „So etwas habe ich noch nie in meinem Leben geschenkt bekommen. Ich werde einen feinen Steinbohrer nehmen und dieses Herz als Talisman und Glücksbringer auf der Haut tragen“, indem er den herzförmigen Stein neben seine Erkennungsmarke legte. Dann nahm er den Herzstein auf, drückte ihn auf seine Lippen und Tränen rannen ihm über die Wangen. (19)

Franz schämte sich seiner Tränen nicht. Er nahm Hilde in die Arme und hielt sie einfach fest. Sein Herz wurde ihm nun noch schwerer. Franz wunderte sich darüber, wie tief ihn diese junge Frau berührte. Wenn er je Ähnliches gefühlt haben mochte, so lag es weit zurück, und lange schon war es einer Haltung und Disziplin gewichen, die ihn die Zeiten der andauernden Trennung stoisch ertragen ließen. Fast zwei Jahre war er nun verheiratet mit einer guten, treuen Frau, einer Gefährtin fürs Leben. Den Krieg hatten sie sich gewiss nicht als Schutzherrn ihrer Liebe ausgesucht. Aber diese Liebe selbst hatte nie in Frage gestanden, gerade weil es ihm immer gelungen war, in allen Frauen immer nur das Weib zu sehen, seiner Kurzweil so dienlich wie seine Verzweiflung darüber abtötend von Frau und Kind getrennt zu sein. All die Zeit war Franz der Souverän seiner Gefühlswelt und ganz gewiss hätte er es eher für möglich gehalten, dass die Sonne sich um die Erde dreht, als dass er den Schlüssel zu seinem Herzen aus der Hand geben würde. Vielleicht hatte er den Schlüssel leichtfertig aus der Hand gegeben. Vielleicht war er insgesamt zu leichtfertig, weil er zum ersten Mal Zweifel hegte am Berufssoldatentum, das ihn jetzt nach Russland führen würde. Vielleicht zweifelte er zum ersten Mal wirklich an einem Leben, dessen Zukunft aus einem ungedeckten Scheck bestand. Er konnte sich ja noch nicht einmal sicher sein, seine Familie jemals wiederzusehen. Bei allen bisherigen Feldzügen war man den Gegnern überlegen. Nun aber war allen nüchtern und rational abwägenden Soldaten von den einfachen Mannschaften bis in die höchsten Offiziersränge hinein klar, dass auch die Anfangserfolge nicht über den bislang schwersten Waffengang hinweg täuschen konnten. Und Franz Streit hätte sich angesichts dieser Tatsache sicherlich nicht gewundert, wenn ihm die in den Jubelberichten der Wehrmacht verschwiegenen Statistiken bekannt gewesen wären, wonach in den ersten zehn Wochen der Kriegshandlungen im Osten bereits mehr als 120.000 Kameraden gefallen waren. Aber ganz dumpf im abgeschatteten Bereich seiner Wahrnehmung war ihm das Ausmaß dieses ungeheuren Blutzolls stets bewusst. Er spürte intuitiv, wie die meisten seiner Kameraden, dass der „größte Feldherr aller Zeiten“ diesen Blutzoll nicht nur in Kauf nahm, sondern dass er der Preis sein sollte, mit dem die neuen Herren der Welt ihre Herrschaft auf einen bis dahin nie da gewesenen und bis in die fernste Zukunft wirkenden Heldenmythos gründen wollten. Vielleicht machten ihn diese Gedanken anfällig für die Frage, ob sein (junges) Leben auch nur in diesem Opfergang einer ganzen Generation enden sollte. Und vielleicht war Hilde ja nur in sein fragwürdiges Soldatenleben eingedrungen, um diese Fragen noch einmal zuzulassen. Sollte er – Franz Streit – ungefragt den Weg zur Schlachtbank antreten, damit Söhne und Töchter in einer vaterlosen Gesellschaft aufwachsen mussten, um dann wenigstens als „Herrenrasse“ und in Demut vor dem Opfergang der Helden die bitteren Früchte dieses Blutzolls ernten zu können.

Möglicherweise hat sich Franz Streit nicht eine einzige dieser Fragen gestellt, man mag sich sogar vorstellen, dass er sie alleine deshalb nicht zugelassen hätte, um nicht an einem Weltbild irre zu werden, in das er hineingewachsen war, wie ein verpuppter Schmetterling in die für ihn bestimmte Gestalt.

Aber aus dem, was zaghaft und unverhofft, ebenso unwahrscheinlich wie schicksalhaft am 15. August seinen Anfang genommen hatte, und was heute, am 3. September seinen vorläufigen Höhepunkt erfahren würde, aus alledem erwuchs Franz Streit eine Zwickmühle, deren Auswüchse ihn von dem Franz Streit meilenweit unterschied, der im Wüten der ganzen Welt einfach spurlos verschwunden wäre.

Und niemals hätte es jemanden gegeben, der so sehr seine Spuren verfolgt hätte, weil er in der Verkörperung seines Blutes diese Spur aufnehmen würde; die Spur, deren Herkunft und Wurzel für diese Nachgeborene für so viele Jahrzehnte unter dem Staub der Geschichte unwiederbringlich verloren schien.

Von alledem wusste Hilde nichts. Der Blutzoll, den sie bezahlen sollte, war so ganz anderer Natur. Er sollte nicht in der Steppe Russlands versickern, sondern er sollte im Herzen eines zarten Mädchens und einer starken Frau weiterfließen, einer Frau, in der – wie in ihren Brüdern – jener Franz Streit weiterleben würde, der 1941 im September nur einen Weg fand aus der ihm gestellten Zwickmühle.

Als Franz und Hilde am Abend dieses 3. September 1941

voneinander ließen, hatte sich dieses Vision noch nicht erfüllt. Aber die Weichen für ihre Erfüllung waren unverrückbar gestellt. Von diesem Tag an wehrte Hilde jede (innere) Mahnung, jeden Zweifel an dem, was kommen sollte, unerschütterlich ab. Ihr ganzes Denken, Fühlen und Sinnen galt Franz. Und Franz selbst, den in der Ehrenwall’schen Klinik alle als „Hans Dampf in allen Gassen“ kannten, war merkwürdig still geworden. Er wirkte geradezu verschlossen, ernst und nachdenklich. Kein Scherz konnte ihn erheitern und ums „gesellige Beisammensein“ machte er einen weiten Bogen. Franz und Hilde sahen sich nicht mehr bis zum 9. September.

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