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Gibt es Elfen, Papa? -"Boyhood" gewinnt einen Golden Globe

Danke, Peter Kümmel, für die Besprechung von „Boyhood“ von Richard Linklater in der ZEIT (23/2014, S. 53)!

L'Appertenenza (Pippo Pollina): Es ist beeindruckend und erhellend, einen meiner ersten Beiträge hier wieder zu lesen und ihn mit den Erfahrungen von Zugehörigkeit und Geborgenheit zu verbinden.

Die reinen Fakten beeindrucken: 39 Drehtage über 12 Jahre, beginnend im Sommer 2002 und endend im Oktober 2013. Die Crew trifft sich ein- bis zweimal im Jahr für wenige Tage, um festzuhalten, wie Mason, ein sechsjähriger Junge älter wird und zu einem achtzehnjährigen jungen Mann heranwächst. Linklater – so Peter Kümmel – habe einen Spielfilm mit der Eindrücklichkeit eines Dokumentarfilms geschaffen: „Sein Ensemble spielt, über zwölf Jahre hin, ein fiktives Familienleben (Scheidung der Eltern, Pubertät und frühes Erwachsensein der Kinder), aber Reife und Verfall, dem die Körper der Darsteller unterliegen, sind authentisch.“

So weit, so gut, so trivial – zumal Peter Kümmel meint, dass der kleine Mason, von seinen Mitmenschen gerne übersehen werde: „Es wirkt fast so, als habe Linklater das unauffälligste Kind gewählt, das er finden konnte… ein junger Mann [schließlich] ohne erkennbares Charisma, ohne drängende Begabung, ohne Fluch.“

Wodurch unterscheidet sich „Boyhood“ nun so offensichtlich von der Filmwelt der Kunstgestalten, die einem – so Kümmel – ans Herz wachsen, die einen hinhalten mit einstweiligen Kapitelenden und erzähltechnischen Unterbrechungen: „Boyhood [hingegen]zeigt uns in 163 nahtlosen Minuten, wie ein Junge heranwächst. Er ist für zwölf Jahre, die wie im Fluge vergehen, an unserer Seite und entschwindet dann für immer.“

„Einmaligkeit in der Filmgeschichte“ attestiert ihm DIE WELT, den Status eines „schlichten Meisterwerks“ gesteht ihm die RHEINISCHE POST zu, und die ABENDZEITUNG meint, dieser Film habe alles, was Anrührendes und in Erinnerung bleibendes Kino brauche.

Peter Kümmel entschließt sich in seinem bemerkenswerten Schlusssatz dazu, von einem „tückischen Film von schleichender Wirkung“ zu sprechen: „Man kommt aus dem Kino und versucht noch lange, in jedem Erwachsenen, der einem begegnet, das Kindergesicht zu finden, das in ihm aufgehoben oder untergegangen ist.“

Jetzt ist die Katze halb aus dem Sack, und mit der Idee, „dass es gut für den Menschen wäre, wenn er einen Begleiter wie Linklater hätte; einen bedachtsamen Chronisten, dessen Auge auf ihm liegt, wo kein anderer ihn sieht, und ihn so in Erinnerung behält, wie er nie mehr sein wird“, setzt sie zum Sprung in unsere rettungs- und hoffnungslos verstellten Erinnerungs- und Selbstbilder an. Und was fördert denn ein „Hüter, der seinen Schutzbefohlenen zwar nicht retten kann, aber doch das rettet, was er einmal war“, zu Tage???

Das Gesicht eine Jungen, das seine Offenheit verliert? Ein Gesicht, das düsterer wird und das beginnt sich mit der Idee des Unglücks abzufinden? Ein Gesicht, in dem sich die älteren Jungen spiegeln, die die Brücken zur Erwachsenenwelt bauen. Aber „die Größeren sind widerlich“, und dennoch „ist man auf ihre Infos (zu Drogen, Frauen, Pornografie) angewiesen“. Und was befördern die Linklaters denn sonst noch in den Fokus des mörderischen Beobachters: „Mason wirkt in jeder Szene, als sei er nie ganz da, als warte er schon auf die nächste.“ Und nun kommt auch endlich der Satz, in dem sich die Tücke, ja die Heimtücke des Lebens hineinmeißelt in die düsteren Gesichter aller Masons dieser Erde: „Leben ist das, was vorbeigeht, während man darauf wartet, dass es beginnt.“

 

7. Juni 2014 – Burggarten Osterspai: Pippo Pollina Trio – „L’Appertenenza“-Tournee 2014

 

„Zugehörigkeit –L’Appertenenza“

 

Mein Name ist ‚Nichts‘, der Atem eines Augenblicks.

Bloß Leben, das sich auf meinem Körper abzeichnet,

das ihn begleitet und streichelt – Licht und Wahrheit.

Wo gehst du hin Zeit? Machst du mir etwas vor?

Mein Name ist Zugehörigkeit.

Sie lebt allein in einem Zimmer, aber weinen tut sie nie.

Sie erinnert und vergisst nicht ihren Stolz in der Sonne,

Ähren in der Kornkammer.

Wo gehst du hin Zeit? Entwischst du mir?

In der Stille wird es dunkel werden,

um zu sehen, wer ich nicht gewesen bin.

Das, was ich nicht verstanden habe,

die Erwartung aller Liebe. Die ganze Liebe.

In der Stille wird die Freiheit kommen

und das Verständnis dafür, was du mir geschenkt hast.

Alles, was ich verloren habe auf dieser endlosen Reise

in deinem strahlenden Lächeln.

Mein Name ist ein Wunsch, der sich abzeichnet

in einem blauen Himmel hellblauer Wolken.

Plötzliche Unbeschwertheit,

Geschichten von Generationen.

Wir alle. Du und ich.

Wo gehst du hin, Zeit? Entwischst du mir?

In der Stille Dunkelheit, zum Erkennen,

wer ich nicht gewesen bin.

Was ich nicht verstanden habe,

die Erwartung aller Liebe. Die ganze Liebe.

In der Stille wird die Freiheit kommen

und das Verständnis dafür,

was du mir beigebracht hast.

Die ganze Erwartung der Liebe,

die so zerbrechlich und schutzlos ist.

Dein strahlendes Lächeln…“

 

Ich schaue in das jungenhafte Gesicht dieses einundfünfzigjährigen Mannes mit der zu Herzen gehenden Stimme. Ich höre, wie dieser alterweise junge Mann „L’appertenenza“ einleitet mit seiner ganz persönlichen Betrachtung der Zeit – wie er betont, sich schon als Junge nicht besonders für die Zukunft interessiert zu haben, wie er vielmehr verstanden habe, die Vergangenheit als ein Archiv der Erinnerungen zu pflegen; Erinnerungen, die gegenwartmächtig werden und uns in die Verantwortung nehmen für eine noch nicht bestimmte Zukunft; vor allem aber, „um zu sehen, wer ich nicht gewesen bin“.

Und dieses helle, strahlende Gesicht, aus dem diese klare und mächtige Stimme ihren wortgewaltigen Weg aus wundersam melodisch gewundenen Wortgebilden findet, verdüstert sich, wenn es in seinem Mienenspiel erinnert, wo die Granatäpfel wuchsen - dort, wohin die Erinnerung zurückkehrt, „um den Mann zu beweinen, der ich nie gewesen bin“, um zu erkennen, „was ich nicht verstanden habe“!

Pippo Pollina zeigt uns, was ein Begleiter wie Linklater beobachten könnte in einem mehr als dreimal achtzehn Jahre alten Gesicht, in dem sich Freude und Schmerz gleichermaßen nuancenreich widerspiegeln.

Aber wo ist der Chronist, der uns so in Erinnerung behält, wie wir nie mehr sein werden, der uns zwar nicht retten kann, aber doch etwas von dem rettet, was wir einmal waren?

In einem langen Leben mit seinen Wendepunkten, mit seinen Krisen und Brüchen, mit Abstürzen und Neuorientierungen bleibt uns keine andere Wahl, als zu unseren eigenen Chronisten zu werden und auf die Geschichten zu horchen, die (auch über uns) erzählt werden. Wir fertigen Beschreibungen unseres Lebens an mit all ihren blinden Flecken und Inkonsistenzen. Und dennoch lichtet sich auf diese Weise – changierend und lückenhaft – unsere Vergangenheit, so wie die anderen eine Ahnung davon gewinnen, wofür wir sie und uns selbst halten – vice versa.

Einige von uns sind vermutlich froh, dass sie nicht von Richard Linklater dabei begleitet werden, denn die Welt ist ohnehin schon voller „mörderischer Beobachter“.

Quod erit demonstandum…

In der Chance auf Zugehörigkeit und Anerkennung – L’Appertenenza – entstehen jene emotionalen Elementarstrukturen, aus denen sich ein versöhnlicher Blick auf Vergangenheit und (ein wenig) Zuversicht auf eine ungewisse Zukunft einstellen mag; ein Blick, mit dem wir uns selbst zuschauen, wie wir „wachsam und erschrocken durch die Stromschnellen des Lebens navigieren“.

Ich schaue mir selbst beim Navigieren zu, so wie ich Lisa, Claudia, Laura und Thomas, Anne, Ulla, Gaby, Michael, Babara und Karla und Johann (und Stephan Maria), Ernst und Astrid, Frank (und Bärbel), Hans und Ruth, Rudi, Herbert und Uschi, Helga, Ann-Christin, Kathrin und so vielen anderen beim Navigieren zuschaue; so wie ich meinem Vater, meiner Mutter, meinem Bruder Willi und meiner Tante Annemie, der Schwester meines Vaters, so wie ich meinem Schwiegervater und so vielen anderen zugeschaut habe – von den allen ich weiß, dass sie auch mir zuschauen und zugeschaut haben.IMG 3859

Manche Stromschnellen haben wir gemeinsam gemeistert, konnten sie nur gemeinsam meistern, an manchen Stromschnellen bin ich gekentert – und fast ertrunken. Doch noch treibt mein Boot auf dem See mit einem Ruder in meiner Hand.

Dabei in jedem Erwachsenen, der einem begegnet, das Kindergesicht zu finden, das in ihm aufgehoben oder untergegangen ist, übt eine besondere Faszination aus – und wer weiß, vielleicht gehe ich sogar noch einmal ins Kino, um einen mörderischen Beobachter bei der (nicht all)täglichen Verrichtung seines Tagewerks zu beobachten.

Quod erit demonstrandum…