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Komm wir machen ein Buch: Adrian im Gespräch mit Josef (Die beiden sitzen in der Biwel – ihr könnt es übrigens auf dem Schutzumschlag des Buches sehen – und unterhalten sich über das neue Buch - Kopfschmerzen und Herzflimmern

Adrian und Jupp

Adrian Nemo:   Lieber Freund, ich freue mich, dass Sie sich endlich Zeit nehmen für dieses Gespräch. Es wurde ja höchste Zeit, um den Erscheinungstermin des Buches nicht zu gefährden. Lassen Sie mich zunächst fragen, wie ich Sie anreden darf?

Witsch-Rothmund:   Ja, mein lieber Adrian, es steckt ja immer eine ganze Geschichte dahinter, wie Menschen zu Namen kommen. Die meine möchte ich an dieser Stelle nicht wiederholen, man kann sie nachlesen in dem 2003 erschienen Gedichtbändchen „Das Leben – Ein Klang“. Obwohl – wie eine gute Freundin einmal bemerkte – alle Namen, die einem zukommen, gute Namen sind, ist es mir recht, wenn Sie mich Josef nennen. Und wenn Sie nichts dagegen haben, biete ich Ihnen als der Ältere von uns beiden an dieser Stelle das „Du“ an.

Adrian:  Ja, gerne lieber Josef, einverstanden! Bevor ich Einzelheiten erfahren möchte über deine Motive, Bücher – und auch insbesondere dieses Büchlein hier – zu machen, bitte ich dich zunächst einmal so etwas zu beschreiben wie das Urmotiv, wenn es so etwas überhaupt gibt.

Josef:   Oh ja, in der Tat gibt es so etwas, wie ein „Urmotiv“. Es ergibt sich ganz einfach aus dem außerordentlichen Spaß an der Gestaltung von Buchstabenwelten. Susan Sontag hat das einmal so beschrieben, dass selbst beim zaghaftesten Schreiben ein Weg aus Wörtern entsteht, den man weitergehen will. Damit meine ich im Übrigen nicht nur den Prozess des Schreibens selbst, sondern in besonderer Weise auch die handwerkliche Seite, ein Buch zu machen, bis man es schließlich in der Hand hält und darin blättern kann. Es gibt daneben ein zweites, ganz anders geartetes Motiv: Gegen Ende dieses Gesprächs werde ich dir auf eine sehr intime Frage mit den Worten Roland Barthes’ antworten, dass das „Subjekt“, das ich selbst bin, keine Einheit bildet. Diese Erfahrung teile ich mit ihm, insofern ich die damit postulierte Einheit meiner selbst in mir nicht wieder finde. In den hier zusammengestellten Texten begegne ich mir immer wieder auch selbst – und dies zum Teil auf überaus überraschende Weise. Ich bleibe der Frager, der über Antworten stolpert und der sich manchmal wie ein kleines Kind freut, weil es die verloren geglaubte Schaufel in der Buchstabenwelt plötzlich und unvermutet an einer ganz anderen als der erwarteten Stelle wieder findet. Auf diese Weise entstehen immer wieder Suchbewegungen mit neuen Fragen und neuen Antworten.

Adrian:   Aha, ein Weg aus Wörtern; die Entstehung einer Buchstabenwelt und damit verbundene Suchbewegungen; ein interessantes Motiv! Aber bei dem, was mir bislang zu Gesicht gekommen ist, muss man doch zunächst einmal feststellen, dass es zum größten Teil gar nicht deine Texte sind, mit denen du dir einen Weg bahnst. Du pflasterst deinen Buchstabenweg – könnte man sagen – mit Textbausteinen, die du offensichtlich aus dem unerschöpflichen Steinbruch vorhandener Texte herausbrichst.

Josef:   Ja und nein! Es gibt – darüber werden wir sicher noch ausführlicher reden – meine eigenen Texte, und es gibt die Texte, die ich mir in der Tat aneigne, die ich zu meinen Texten mache, indem ich sie auswähle und zu Collagen zusammenstelle. Dabei spielst du im Übrigen eine ganz entscheidende Rolle.

Adrian:   Also bei allem Wohlwollen, so ganz verstehe ich das noch nicht. Kannst du mir das zweite Motiv – das mit den Suchbewegungen – vielleicht etwas einfacher und verständlicher erklären?

Josef:   Versuchen wir’s! Von dir habe ich den Hinweis, dieses Buch habe – wie alle meine Bücher – etwas Chaotisches an sich. Was die Suchbewegungen angeht, so kenne ich viele Menschen, die sich in ihrem Leben, vor allem in ihrem Beziehungsleben, in ihrer Partnerschaft, in ihrer Familie, in ihren Alltagsbeziehungen – vorsichtig formuliert – schwer tun, ihr Leben, um es einmal völlig zu überspitzen, irgendwo zwischen Liebe und Wahnsinn organisieren. Die meisten wurschteln sich halt durch, wobei sie nicht selten auch leiden. Die Hintergrundmusik für dieses Durchwurschteln bildet ein radikaler gesellschaftlicher Wandel, der den Menschen eine ungleich größere Vielfalt von Möglichkeiten als früher eröffnet. Was die meisten Menschen dabei im Hinblick auf ihren Lebenstraum miteinander verbindet, scheint allerdings nach wie vor die Sehnsucht nach der einen, der großen, einzigartigen romantischen Liebe zu sein. Davon zeugen viele Umfragen, an dieser Nabelschnur hängen das Kino, die Musik, die Literatur und auf der anderen Seite inzwischen auch immer mehr Therapeuten.

Adrian:   Und wenn wir das jetzt einmal auf den ganz normalen Alltag zurückstutzen, an ganz normale Menschen denken, wie du und ich, und wie sie hier im Café Hahn ein- und ausgehen, wenn wir uns also aller Überspitzung enthalten, glaubst du, dass dieses Buch etwas mit dieser ganz alltäglichen Normalität zu tun hat?

Josef:   Was ist schon normal? Wir alle haben unsere Macken, in unser aller Leben zeigt sich bei aller Normalität auch das Besondere. Jeder einzelne von uns ist etwas Besonderes und er hat seine besondere Lebensgeschichte. Und mehr Menschen als je zuvor sind inzwischen therapieerfahren. Wenn man nun das Gemeinsame und das Verbindende herausstellen will, kann man zum Beispiel die Statistik bemühen: „Die Hoffnungsträger der Republik sind in Wirklichkeit eine hoffnungslose Brut. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt – und sie verweigern sich der Reproduktion. Eine ganze Generation potenzieller Eltern zieht es vor zu surfen, zu feiern…, statt auch nur einmal darüber nachzudenken, wer ihnen in vierzig Jahren die Schnabeltasse ans Pflegebett bringen soll.“ So eröffnet Jochen Bittner die dritte Folge der Zeitserie „Wo sind die Kinder?“ (ZEIT 6/04). Er lässt ein paar nüchterne Zahlen folgen, deren Interpretation in eine paradoxe, gleichwohl wenig überraschende Situationsbeschreibung mündet.

Adrian:   Aber mein lieber Josef, das muss ich mir nicht unbedingt anhören, bloß weil du meinst, mit euern beiden Kindern hättet ihr – du und deine Frau – den „generativen Part“ erfüllt und könntet mir und anderen jetzt die rote Karte zeigen!?

Josef:   Sei nicht so empfindlich! Ich weiß, dass Aufmerksamkeit ein knappes Gut ist, besonders dann, wenn man sich auch noch angegriffen fühlt. Du musst dich hier nicht wirklich angesprochen fühlen.

Adrian:   Es ist immer dasselbe. Hast du mal das Interesse der Menschen geweckt, schon beginnst du zu langweilen.

Josef:   Meine Güte, wart’ es doch erst einmal ab. Jochen Bittner gelingt es mit wenigen Zeilen und ein paar statistischen Daten jene Paradoxie herauszuarbeiten, die uns das ganze Leben über begleitet und die auch dieses Buch maßgeblich prägt: Er beschreibt nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit für einen jungen Erwachsenen mindestens einmal zu heiraten, in Deutschland mittlerweile auf 60% abgesunken ist. In den sechziger Jahren betrug sie immerhin noch 90%. Die Scheidungshäufigkeit hingegen – so Bittner – habe sich in den vergangenen Jahren verdreifacht: „Die Aussicht, dass eine Ehe zerbricht, liegt heute statistisch bei 40% (in den siebziger Jahren waren es 13%).“ All die Trends, die dahinter stehen, stellt Bittner allerdings auch in den Kontext einer Zunahme von Lebenserfahrung: Individualität siege über alte Konventionen. Moral werde zur Verhandlungssache. Trennung und Scheidung seien keine Schande mehr: Die Deutschen mögen also freier sein als je zuvor. Aber – so Bittners Schlüsselfrage – „sind sie deswegen auch glücklicher“? Die Antwort ist eindeutig: Nein! Die Ergebnisse der zugrunde liegenden empirischen Studie, so die Schlussfolgerung, erscheinen paradox: „Auf der einen Seite gehen Beziehungen immer häufiger in die Brüche, auf der anderen Seite wünschen sich auch die Jüngeren eine lebenslange feste Beziehung – und nicht von vornherein eine auf Zeit. Sie glauben an die große Liebe und träumen davon, dass sie ewig währt.“

Adrian:   Ist das etwa des Pudels Kern – die große Liebe? Warum sagst du das denn nicht gleich? Vom Winde verweht! Casablanca! Pretty Woman! Damit kann doch jeder etwas anfangen. Wobei mir das mit der Paradoxie schon einleuchtet. Das Leben der meisten Menschen nimmt sich doch dagegen ziemlich fade aus. Und welche Geschichten willst du uns nun erzählen? Welche Geschichten stecken denn hinter all diesen Statistiken und diesen nüchternen Zahlen?

Josef:   Hinter den Zahlen verbergen sich natürlich hunderte, tausende, Millionen von Lebensgeschichten, alle unterschiedlich, alle ein bisschen gleich und alle auch immer ein bisschen paradox und widersprüchlich.

Adrian:   Kannst du denn nicht wenigstens mal eine dieser Geschichten erzählen?

Josef:   Ja, natürlich könnte ich das. Ich habe in meinem Büro hunderte von so genannten „Lerntagebüchern“, in denen junge Menschen ihre Geschichten erzählen, um ein wenig Klarheit und Unterscheidungsvermögen in ihre Lebensmotive und -visionen zu bringen.

Adrian:   Ja und, spiegelt sich denn in diesen Geschichten die „große Zahl“ wider?

Josef:   Sicher – mehr oder weniger ausgeprägt; und vor allem sicherlich so, dass man die Unterschiede geradezu schmeckt und spürt, die sich in einem ungeahnt erweiterten „Möglichkeitsraum“ individuell ergeben und darstellen lassen.

Adrian:   Dann lass doch mal einen dieser Studenten erzählen!

Josef:   Meinetwegen: Erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, mitten im Staatsexamen, nach einem Leben, für das die Achterbahn am ehesten als Sinnbild stehen mag; aber eben auch an einem Haltepunkt, der nach 26 Jahren gleichermaßen die Enttäuschungen und Zumutungen wie das Wachstum und die Ressourcen zur Lebensbewältigung sichtbar werden lässt:

„Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern. Meine ganze bisher bekannte Lebenssituation veränderte sich. Wir verkauften unser Haus, meine Schwester zog zu meinem Vater, ich blieb bei meiner Mutter… Meine Eltern sind beide Akademiker und standen damals voll im Beruf. Durch die Trennung wurde ich auch von meiner Schwester getrennt. Ich besuchte meinen Vater jedoch regelmäßig. Meine Mutter arbeitete sehr viel, so dass ich die meiste Zeit allein war. Zu dieser Zeit besuchte ich die Grundschule, danach wechselte ich auf das Gymnasium. Meine Leistungen wurden sehr schnell schlechter, und ich musste die Schule verlassen. Über eine Hauptschule, die Berufsfachschule fand ich wieder den Einstieg ins Gymnasium. Es war schwierig den Anschluss zu finden – sowohl inhaltlich als auch sozial. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon den unbedingten Willen, das Abitur zu machen. Mit neunzehn hatte ich es geschafft.“

 Adrian:   Ja, ist doch prima. Hut ab! Super – ich finde, das ist doch aller Ehren wert; da geht jemand gestärkt und als Persönlichkeit aus den Feuern seiner Kindheit und Jugend hervor!

Josef:   Find’ ich auch! Und das spiegelt sich auch im Selbstbild dieser jungen, starken Frau wider. Willst du noch ein bisschen mehr hören? In meinen Seminaren gibt es immer auch den ein oder anderen Impuls, damit sich die Lebensgeschichten nicht vorschnell lesen, als seien sie mit dem Glättspan gearbeitet.

Adrian (rümpft die Nase und reagiert ärgerlich und gereizt):   Glättspan, Glättspan! Was soll das nun schon wieder heißen? Wenn jemand klar kommt, dann macht er sich bei dir gleich verdächtig. Sei doch froh, wenn am Ende eines holprigen Weges eine Erfolgsstory lacht, meinetwegen ein „Happy End“. Na klar will ich mehr desselben hören – ich bin ja froh, wenn du die Menschen einfach einmal erzählen lässt!

 Josef:   Nun gut, hören wir zu, wie die junge Frau zum Beispiel die Frage beantwortet, wo sie denn als Kind Hilfe benötigt hätte und wie sich das heute darstellt:

„Ich denke, ich hätte als Kind einen Halt gebraucht. Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Sie waren in dieser Zeit nicht belastbar, sehr mit sich selbst beschäftigt – auf der Suche nach sich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht auf sie verlassen kann. Es wäre wichtig gewesen, dass sie mir z.B. in der Schule geholfen hätten. Ich habe gelernt, das alles alleine zu machen, und ich bin dadurch sehr früh sehr selbstständig geworden. Meine Mutter hat in der Nacht geweint. Mein Vater war nicht da, er hatte ständig wechselnde Beziehungen. Vielleicht hätte ich meine Bedürfnisse stärker zum Ausdruck bringen müssen – aber mit sieben? Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich meine Mutter eines Morgens betrunken antraf. Sie konnte einfache Fragen, die ich ihr stellte, nicht mehr beantworten. Da begriff ich, dass ich stärker sein muss als sie. Sie war total hilflos. Ich kann mich noch genau an meinen Schulweg an diesem Morgen erinnern. Ich kam mir ganz orientierungslos und verloren vor. Die Trennungszeit meiner Eltern und ihr diesbezügliches Verhalten über Jahre prägten meine gesamte Schullaufbahn. Ich habe nicht gelernt zu lernen und zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich hatte nie eine Hausaufgabenbetreuung. Meine Eltern haben meine vorgegebene „Stärke“ dankend angenommen und mich damit etwas überfordert. Ich habe gelernt, mich wirklich nur auf mich selbst zu verlassen. Auch heute habe ich noch manchmal Probleme damit.“

Willst du noch mehr hören?

Adrian:   Ja, verdammt noch mal – auch wenn es mehr nach einer Never-ending Story schmeckt als nach einem Happy End!

Josef:   Also, wenn ich diesem „Einzelfall“ noch ein wenig Aufmerksamkeit widme, dann nicht, um die Welt als Jammertal zu beschreiben, sondern um das Leben – zwischen Liebe und Wahnsinn – in seinen unterschiedlichsten Facetten und in seinen Wirkungen auch „fallbezogen“ spürbar zu machen: Interessant ist die Antwort der jungen Frau auf den Impuls, sich „die eigene Familie einmal als Haus“ vorzustellen:

„Es ist sehr klein, liegt dunkel im Schatten von großen Bäumen. Von der Grundkonstruktion her wäre es schön, es ist aber sehr wackelig und leider baufällig. Dort, wo Steine runterfallen, wird es notdürftig zusammengeflickt. Die Bewohner leben auf verschiedenen Ebenen – es gibt kein gemeinsames Zimmer. Ich wohne im untersten Stockwerk, mein Vater im Zweiten, meine Schwester im Dritten, meine Mutter wohnt im Vierten. Wenn man sich gemeinsam treffen möchte, trifft man sich auf dem Platz vor dem Haus. Dies geht aber nicht immer, wegen der Wetterverhältnisse. Dann trifft man sich eben nicht. Das Haus ist auf Liebe gebaut, dieser Boden hält jedoch nicht alles aus. Es gab schon ein paar Mal Erdbeben, dabei ist der Grund etwas abgesackt. Aber es hält. Nur das Haus wird dadurch etwas schief und brüchig. Wenn die Bewohner das Haus betreten, müssen sie immer durch meine Etage. Dabei machen sie Unordnung und ich muss immer wieder aufräumen. Dadurch komme ich manchmal nicht dazu, meine Arbeiten zu erledigen. Ich bin gerade dabei, für die anderen Bewohner eigene Zugänge zum Haus zu bauen. Eigentlich finde ich, dies könnten sie auch selbst machen. Sie sind damit nicht ganz einverstanden, da es für sie unbequem ist. Oft ist es so, dass sie bei mir rumsitzen und ständig irgendetwas von mir wollen. Das nervt mich. Sie haben auch ständig Fragen an mich. Ich möchte mich manchmal auch nur auf mich selbst konzentrieren. Aber ich kann immer zu ihnen kommen. Sie denken immer, dass ich stark bin.“

Adrian:   Hmh, das beeindruckt mich sehr; ein sehr schönes, pardon – ein treffendes Bild, das mit dem Haus, der Baufälligkeit und den herabfallenden Steinen. Hast du denn wenigstens nach deinen 52 Jahren für dich den Stein der Weisen gefunden?

Josef:   Es sind ja schon fast 53 Jahre. Natürlich habe ich den Stein der Weisen genauso wenig gefunden wie du! Ich halt’s da eher mit Bertolt Brecht und seh’ den Vorhang zu und alle Fragen offen. Diese Fragen, die Widersprüche und Paradoxien, die uns umtreiben, und die auch in diesem Fallbeispiel sichtbar werden, möchte ich in diesem Buch gerne irritieren mit den Sichtweisen, die uns Roland Barthes, aber eben auch aktuelle Reflexionen im Wissenschaftsbereich, im therapeutischen oder journalistischen Kontext anbieten. Die junge Frau, die uns etwas verstehen lässt im Hinblick auf prägende Kindheitserlebnisse, lebt möglicherweise in einer festen Beziehung oder ist auf der Suche danach. Sie nimmt diese Erfahrungen mit in ihre Beziehungswelt und der Möglichkeitsraum ihrer Beziehungsgestaltung wird vermutlich immer durch das emotionale Nadelöhr dieser Erfahrungen gepresst werden. In dem, was wir hier zusammengetragen haben und anbieten, stecken für sie und für uns sicher eine Fülle von Anregungen, die auch das Vermögen haben, uns vielleicht in die ein oder andere Antwort hineinlesen und möglicherweise auch hineinwachsen zu lassen.

Adrian:   Und warum machst du es so kompliziert? Warum sagst du nicht einfach: Da und da steht es, kauf dir dieses oder jenes Buch, lies und gesunde!?

Josef:   Du machst mir Spaß! Ja, wirklich – ich finde diese Idee grandios, und ich bin ein großer Anhänger der „Bibliotherapie“. Sie hat mich überleben lassen. Aber ich will ja vor allem auch noch meinen eigenen Spaß haben. Bei den Recherchen für das Buch stieß ich auf einen Hinweis, mit dem Hans Joachim Störig den „ästhetischen Kunstgriff der Verfremdung“ bei Sören Kierkegaard zu erklären versucht (Kierkegaard hatte alle seine Schriften unter Pseudonymen veröffentlicht): Kierkegaard wählte diese Form offensichtlich sehr bewusst, „weil er diese Form der indirekten Mitteilung für die einzig mögliche hält. Denn für ihn ist, was sich direkt mitteilen lässt, was man als objektive Wahrheit, als Wissenstand besitzen und also auch einem anderen mitteilen; mit anderen teilen kann, nicht eigentlich Wahrheit, es ist vielmehr unerheblich und lenkt vom Eigentlichen nur ab.“

Adrian:   Nun gut. Wenn du glaubst, auf eine verfremdende Weise deinen Bazillus eher unter die Menschen zu bringen. Ich hab da eher meine Zweifel. Obwohl – ich vermute fast, dass ich diesen Winkelzügen vielleicht sogar meine eigene Existenz irgendwie verdanke. Sei’s drum: Ein wenig klarer wird mir die Sache schon; trotzdem hab ich noch eine Reihe von Fragen. Ein Buch über die Liebe mit Gedichten, mit Geschichten und einer Reihe von Interviews; was ist das für ein merkwürdiges Konzept – steckt dahinter überhaupt ein Konzept?

Josef:   Ja und nein! Ich antworte dir mit Roland Barthes, ohne dessen Verführung dieses Buch so nicht entstanden wäre. In einer Sammlung von Interviews, die mit ihm geführt worden sind, stieß ich auf ein Interview, das er 1977 dem Playboy gegeben hat: „Der größte Mythenentzifferer unserer Zeit erzählt uns von der Liebe“. Barthes hatte zuvor seine „Fragmente einer Sprache der Liebe“ veröffentlicht. 27 Jahre danach war ich sofort von der Idee fasziniert, diese vergessenen Texte auf ihre Frage- und Antwortperspektiven hin zu befragen.

Adrian:   Einen Augenblick – wenn ich dich unterbrechen darf – verstehe ich das richtig, Auslöser für dieses Buch war anfänglich ein Interview?

Josef:   Ja und nein! In meinem Gedichtband „Das Leben – Ein Klang“ gibt es ein Kapitel, das mit der Überschrift „Gravitationsfelder“ versehen ist. Man kann es mit der sichtbaren Spitze eines Eisberges vergleichen – es enthält nicht eigentlich Liebesgedichte, sondern eher Gedichte über die Liebe. Die Liebesgedichte selbst treiben gewissermaßen im Verborgenen, unter der Wasseroberfläche. Man kommt ihnen – eingedenk des Schicksals der Titanic – besser nicht zu nahe. Warum dies so ist, wurde mir schlagartig bewusst, als ich eine kurze einleitende Bemerkung Roland Barthes’ zu seinen „Fragmenten“ las. Ich möchte sie an dieser Stelle zitieren: „Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches (der „Fragmente“) hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist. Dieser Diskurs wird wahrscheinlich (wer weiß?) von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemandem verteidigt; er wird von den angrenzenden Sprachen vollständig im Stich gelassen: entweder ignoriert oder entwertet oder gar verspottet, abgeschnitten nicht nur von der Macht, sondern auch von ihren Mechanismen (Techniken, Wissenschaften, Künsten). Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein. Diese Bejahung ist im Grunde das Thema des vorliegenden Buches.“

Adrian:   Auch dieses Buches?

Josef:   Ja! Aber auf andere Weise. Zweifellos kann hier zunächst nur die Ermunterung stehen, sich Roland Barthes’ grandiose „Bejahung“ zu erlauben, um sich – wie er sagt – von den Abwertungen des Liebesgefühls nicht beeindrucken zu lassen. Fast dreißig Jahre nach Roland Barthes möchte ich zeigen, dass sich die „theoretischen Sprachen“ – und damit der Diskurs über die Liebe – sehr viel differenzierter darstellen. Deshalb bette ich das Playboy-Interview, das Roger Philippe mit Roland Barthes führt, in den Zusammenhang unterschiedlicher theoretischer Sichtweisen ein und habe dich – lieber Adrian – gebeten, eine Reihe von Interviews zu führen. Die dabei auch hervortretenden theoretischen Ambitionen verraten einen ungleich differenzierteren Diskurs über die Liebe, als Roland Barthes ihn in den siebziger Jahren offensichtlich beobachten konnte.

Adrian:   Aber die Abwertung des verliebten Menschen hat sich auch aus deiner Sicht damit nicht wesentlich relativiert?

Josef:   Nein, aber ich glaube einfach, dass die in den letzten dreißig Jahren zu beobachtende „Reflexion über Intimsysteme“ uns heute – natürlich eingedenk der damit prinzipiell verbundenen blinden Flecken – anderes sehen lässt und neue Perspektiven eröffnet. Deshalb sind Niklas Luhmann, Peter Fuchs, Susanne Gaschke, Peter Sloterdijk, Arnold Retzer und einige andere eingeladen, um mit ihnen zu schauen, inwieweit der Diskurs über die Liebe neue Sichtweisen hervorgebracht hat.

Adrian:   Der „Diskurs über die Liebe“ – das theoretische Reflektieren – ist die eine Sache. Aber was ist mit dem individuellen Sprechen, was ist mit der Sprache der Liebe?

Josef:   Wenn ich mich recht erinnere – ich habe mir die Aufzeichnungen über das von dir moderierte öffentliche Räsonnieren im Café Hahn mehrfach angesehen – dann wird selbst im Verlauf dieses theoriegeschwängerten Gespräches etwas von dem Fluidum zumindest der Verliebtheit spürbar. Der ganze Rest – die Welt der Liebe – bleibt die Welt der Poesie. Darum will ich mich bemühen. Ich möchte versuchen, all das, was ihr da so abgehoben und theoretisch erörtert, durch eine Art „Parallelpoesie“ zum Flimmern zu bringen.

Adrian:   Das kann ja dann nur bedeuten, dass dieses Buch hier – zumindest in diesen Teilen – das Buch eines Verliebten ist.

Josef:   Diese Frage hat Roger Philippe schon Roland Barthes im besagten Interview gestellt. Jeder von uns war doch schon einmal verliebt!? Und eines zumindest dürfte ziemlich klar sein: Verliebte schreiben keine Bücher. Ich neige dazu, mich Roland Barthes anzuschließen, wenn er sagt: „Gleichwohl – warum sollte ich es nicht sagen? – gab es kristallisierend wirkende Episoden. Man könnte sagen, dass ich das Buch (die „Fragmente“) als eine Möglichkeit verstanden habe, mich nicht zu verlieren, nicht der Verzweiflung anheimzufallen. Ich habe es geschrieben, wodurch sich die Dinge selbst dialektisiert haben.“

Adrian:   Das ist eine recht undurchsichtige Antwort, und es scheint mir vor allem nicht deine eigene zu sein.

Josef:   Nun schau her, was mit „kristallisierend wirkenden Episoden“ gemeint ist, zeigt sich beispielsweise an der einzigen in diesem Buch enthaltenen Prosa (S. 191-201). Es gibt Seelen und Körper, die sich im Feuer dieser Kristallisation gehäutet und geformt haben. Ich habe selbst eine große Distanz zu Liebesgeschichten und bevorzuge knappe, pointierte lyrische Formen. Aber diese Formen lassen sich nicht gewinnen, wenn die „Dinge sich nicht selbst dialektisieren“.

 Adrian:   Demnach sind es wohl immer Anfang und Ende von Liebesgeschichten, die zum Schreiben bewegen?

Josef:   Schreiben besitzt eine wunderbar besänftigende Kraft. Auch da folge ich Roland Barthes. Ich schreibe erst seit fünf oder sechs Jahren. Und jeder kann ermessen, dass die Distanz schaffende Kraft des Schreibaktes kaum einen Unterschied macht hinsichtlich der zeitlichen Dimension der Anlässe und Kristallisationen. „Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“ Vollkommen einverstanden mit Hartmut von Hentigs Bildungsverständnis (1996, 15f.) betrachte ich meine Erfahrungen mit Liebe und Tod als einen einzigen unabgeschlossenen Prozess der Selbstbildung, von dem ich hoffe, dass er bis zu meinem eigenen Ende andauert.

 Adrian:   Hmh, warum immer gleich so pathetisch und philosophisch, gib doch einfach einmal Butter bei die Fische. Schließlich bist du es doch selbst, der da – als Verliebter – immer wieder spricht?!

Josef:   Auch hier antworte ich dir mit Roland Barthes, der im Übrigen zugibt, dass seine Antwort wie ein „Ausweichen“ erscheinen mag. Doch für meine Begriffe legt er auf überzeugende Weise dar, dass dem nicht so ist: „Das Subjekt, das ich selber bin, bildet keine Einheit. Dies empfinde ich zutiefst. Die Aussage ‚Das bin ich!’ hieße somit, eine Einheit seiner selbst zu postulieren, die ich in mir nicht wieder finde.“

 Adrian:   Das ist eine unmögliche Antwort! Du bist ein Hinkebein und ein Chamäleon!

Josef:   Ja, das habe ich in einem meiner Gedichte – Hirnflimmern – genau so beschrieben.

Adrian:   Lass uns das Thema wechseln. Kehren wir noch einmal zurück zur Konstruktion dieses Büchleins. Warum diese „Interviews“ – warum nicht nur Lyrik oder Geschichten?

Josef:   Es ist genau die schon angesprochene Differenz zwischen den Möglichkeiten einer theoretischen Sprache und einem damit verbundenen Diskurs auf der einen Seite und den damit nie einholbaren Möglichkeiten einer poetischen Sprache auf der anderen Seite. Mit letzterer spricht man nicht über die Liebe, sondern in denen manifestiert sich im Wesentlichen eine Sprache der Liebe. Natürlich werden auch Interferenzen, Grenzbereiche sichtbar, sozusagen ein Oszillieren zwischen diesen beiden Sprachwelten.

Adrian:   Wozu aber hast du mich erfunden? Bist du dir selbst nicht genug?

Josef:   Ich schätze dich, lieber Adrian, als ein Alter Ego, als eine Distanz schaffende Persönlichkeit, in der ich nie ganz aufgehen würde und die selbstverständlich in mir auch nur sehr bedingt aufginge.

Adrian:   Aber warum diese Interviews? Ich gebe zu, es hat mir eine Menge Spaß gemacht zu lauschen, zu fragen, zu intervenieren, zu irritieren. Aber so ganz habe ich das Prinzip und die Absicht noch nicht verstanden, die hinter alledem stehen.

Josef:   Roger Philippe und Roland Barthes haben mich auf die faszinierende Idee gebracht, Zugänge zu eher sperrigen, teils langatmigen Texten auf eine ungewöhnliche Weise zu eröffnen.

Adrian:   Kannst du das noch etwas genauer erklären?

Josef:   Ja, es ist genau dieses Prinzip, das du hier zur Anwendung bringst: Einen sich linear, monologisch entwickelnden Text zum Schwingen und Flimmern zu bringen; aus dem langen Atem die kurze Weile zu schöpfen; zu unterbrechen, nachzufragen, eben nicht dem Monolog zu folgen, sondern in der Fragehaltung immer auch inkongruente Perspektiven ins Spiel zu bringen.

Adrian:   Und wie bist du zu den Texten gekommen?

Josef:   Darauf kann ich nur bedingt eine Antwort geben. Ich bin ganz überzeugt davon, dass die Texte im Wesentlichen zu mir gekommen sind – und dies auf unterschiedliche, immer wieder faszinierende Weise. Ich bin ja kein Spezialist für die Semantiken der Liebe – vielleicht ein ganz klein wenig für ihre poesiegeschwängerten Auswüchse. Das Faszinierendste ist einfach die Erfahrung, aus einem nahezu unendlichen Ozean von Texten die herauszufischen, die in dir selbst etwas zum Schwingen bringen.

Adrian:   Und dazu gehört zum Beispiel auch dieses unverdauliche systemtheoretische Sprachspiel?

Josef:   Ja, der Mensch lebt ja nicht von Luft und Liebe allein; zumindest die filigranen Luftgebilde stillen nur eine Sehnsucht, tief in den Gedärmen und ihren kognitiven Sinnderivaten. Für den Kopf gönne ich mir – auch wenn es manchmal Kopfschmerzen macht – Niklas Luhmann, Peter Fuchs und Peter Sloterdijk. Und am besten, dafür steht der Sloterdijk ja nun zur Gänze, ist es halt, wenn’s auch schon einmal mit der Sprachachterbahn quer durch Kopf, Beine und Gedärme geht, wenn die Birne flimmert und die Knie zittern.

Adrian:   Du hast also Originaltexte genommen und komponierst dir eine dialogische oder auch multilogische Partitur?

Josef:   Mit dem größten Vergnügen. Nehmen wir z.B. den Aufsatz von David Schnarch „Der Weg zur Intimität“. Er ist in einem Periodikum erschienen, das sich als „Interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung“ versteht („Familiendynamik 2/2004), also eher an „Spezialisten“ adressiert ist. Auf der anderen Seite entwickelt Schnarch – der Name ist hier nicht Programm – eine hochinteressante, anregende Betrachtungsweise, die beispielsweise davon ausgeht, dass sexuelle Intimität und intensive Erotik in der Ehe vom Grad der individuellen Differenzierung der beiden Partner abhängen; und noch etwas spezifischer, dass der Schlüssel zu (sexuellem) Wachstum in der Fähigkeit liege, Angst aushalten zu können. Das sind doch höchst irritierende Sichtweisen, die ein breiteres Publikum verdient haben.

Adrian:   Soll ich jetzt lachen, oder meinst du das ernst mit einer Auflage von gerade einmal 50 Exemplaren? Und würdest du vielleicht noch ein anderes Beispiel beschreiben!

Josef:   Volltreffer! Aber es ist ja auch ein Akt der Wertschätzung mir selbst gegenüber. Ich verstehe mich selbst als den ersten Adressaten dieses Büchleins. Ja, ein weiteres Beispiel ist das grandiose Buch von Arnold Retzer „Systemische Paartherapie“. Die ersten 55 Seiten des ersten Kapitels „Paare, Ehen und Familien: Sinn und Kommunikation“ entwerfe ich mit deiner Hilfe zu einem anregenden, dialogisch montierten „Interview“, das über ein Frage- Antwort-Spiel der linear aufgebauten Textstruktur eine gewisse Lebendigkeit einhaucht. Die „Liebesbeziehung“ und der „Kommunikationscode der Liebe“ werden auf diese Weise bis zu einer Grenze durchdekliniert, jenseits derer – wie Arnold Retzer sagt – die „Partnerschaft“ einen radikal anderen Kommunikationscode bereitstellt. Es dürfte doch spannend sein zu ergründen, inwieweit sich z.B. mit der „Partnerschaft“ ein sozialer Systemtyp anbietet, der für Paare eine größere soziale Verträglichkeit verspricht. Um über diese Möglichkeiten mehr zu erfahren, müssen unsere Leser allerdings dann auch Arnold Retzers Buch erwerben und lesen. Unser Büchlein enthält da zweifellos eine Reihe von Leseempfehlungen bzw. -anregungen, von deren Ertrag ich überzeugt bin.

Adrian:   Und was ist mit dem Prolog, mit dieser Szene im Café Hahn? Du hast mich teils in unmögliche Situationen hineinmanövriert. Willst du das etwa zur Aufführung bringen – kurzum: Bist du jetzt auch noch unter die Dramatiker gegangen?

Josef:   Nein, mir reicht das Kopfkino. Mit diesen Dialogen lässt sich kein Theater inszenieren. Aber auf der Ebene des Kopfkinos wäre ich schon manchmal ganz gern an deiner Stelle gewesen. Wer weiß, wenn mir die Welt der Textcollage und des Kopfkinos zu eng wird, dann werde ich dich zum Leben erwecken – und gleichermaßen Fleisch und Blut geworden – auf der Bühne des Lebens agieren lassen.

Adrian:   Also gegenwärtig reicht mir das, was ich tue. Du solltest noch etwas sagen zu den anderen „stilbildenden“ Mitteln. Warum gehst du ins Café Hahn mit dieser ganzen Geschichte und bleibst nicht in deinem dir vertrauten universitären Kontext mit seinen Sprachspielen. Der Hahn ist doch kein Ort für solch abgefahrene intellektuelle Hirnwichsereien. Da geht’s doch um Musik und Comedy, um Varieté und Kleinkunst, da wird getrunken, gegessen und gelabert!

Josef:   Genau, ganz genau! Ich brauche eine Bühne, eine Theke, ich brauch Personal! Ich brauch prickelnde Lebendigkeit, ich brauch Kontraste – und ich will Musik. Die Musik ist und bleibt eines der eindrücklichsten und mächtigsten Fragmente einer Sprache der Liebe; es ist die Sprache der Klang(in)fusionen, die unseren unmöblierten, hohlen Köpfen und Seelen (wieder) Leben einhaucht, wie eine Sinndroge, die uns in Gegenwelten entführt. Und genau deshalb ist das Café Hahn in der Anthroposphäre (ein Begriff, den der etymologische Tiefseetaucher Peter Sloterdijk verwendet, ebenso wie den folgenden unterstrichenen) ein Ort der Orte; mit Verlaub gesagt geradezu ein Erototopos, an dem man im Übrigen nicht nur trefflich Gedichte schreiben kann.

Adrian:   Und dennoch ist doch gerade deine Hochschule, diese niedliche, kleine Campus-Uni ein prickelnder Ort, vielleicht auch ein Erototop, der ungeahnte Möglichkeiten der Inszenierung bietet?!

Josef:   Siehst du, ich schätze dich gerade wegen deiner brillanten Ideen. Aber ich habe keine Lust einen weiteren „Campus“ zu stilisieren, obwohl die Uni eine nie versiegende Quelle ist, mit der sich „die Gruppe als ein Ort der primären erotischen Übertragungsenergien organisieren und als Eifersuchtsfeld unter Stress setzen lässt“ (Sloterdijk). Und zweifellos hätten wir auch die tragenden Figuren.

Adrian:   Was zahlst du denn eigentlich dem Sloterdijk für seine Sprachphantasien – die sind ja maßgeschneidert!?

Josef:   Für „Sphären III – Schäume“ (Suhrkamp 2004) musst du bei Reuffel (natürlich auch anderswo) € 29,90 auf den Tisch des Hauses legen. Aber jetzt lass den Quatsch! Es liegt mir einfach am Herzen, meine lieben Leser aus dem universitären Milieu – wie im Übrigen alle Leser – vor einem „Terrorismus der Transparenz“ zu schützen. Dass wir offensichtlich so schon gebeutelt genug sind, zeigt doch ein Zitat von Stefan Breuer aus der FAZ vom 18.6.99, in dem er – in einer kritischen Würdigung von Jürgen Habermas – universitäres Kleinklima im Kontext einer diskursethischen Verortung beschreibt: „Umso rätselhafter, woher Habermas eigentlich sein Vertrauen in radikaldemokratische Öffentlichkeiten, gar den Glauben an die Möglichkeit eines vernünftigen Gemeinbewußtseins nimmt, aus dem sich seine Diskursethik speist. Wenn schon die Universität ein solcher Ort des Mißverständnisses, der theatralischen Inszenierungen und Selbsthysterisierungen ist, als den Habermas ihn decouvriert hat, wie soll es dann erst die Gesellschaft, die hierfür weit weniger Zeit hat, zur Verschmelzung der Verständnishorizonte bringen? Und ist dieses Ziel überhaupt erstrebenswert? Führt es nicht in einen Terrorismus der Transparenz?“

Adrian:   Bei aller Wertschätzung, mein lieber Josef, jetzt bist du völlig übergeschnappt. Aber sei’s drum – wenn du dich jetzt nach der Verschwendung von elf kostbaren Textzeilen besser fühlst!? Ein lieber Freund – Reinhard – eröffnet frohe Runden und Trinkgelage häufig mit dem unvergleichlichen Trinkspruch: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn!“ Ich hab jetzt einfach die Schnauze voll und würde gerne ganz schlicht ein Bier trinken – wenn’s nicht anders geht, auch mit dir gemeinsam.

Josef:   Oh ja – das gefällt mir: „Auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn – Talk im Hahn zwischen (system)theoretischen Irritationen und lyrischen Impressionen“! Das wäre auch ein schöner Titel für dieses Buch gewesen. Komm, Adrian, lass uns rüber in den Bühnenraum gehen, ich höre, der Herbert probt schon, heute gibt’s einen Leckerbissen unplugged. Wir gönnen uns jetzt erst einmal ein frisch gezapftes Kölsch und lassen es ordentlich krachen. Aber vorher gibt’s noch was zu essen, eben live und lecker, wie es hier üblich ist. (Adrian und Josef betreten den Bühnenraum. Herbert Grönemeyer steht auf der Bühne, ganz alleine mit einer Gitarre und singt: „Ich bin dein siebter Sinn, dein doppelter Boden, dein zweites Gesicht…“)