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Was mögen die Müllmänner denken

(Dieser Beitrag ist eine Auskopplung aus meinem Buch: Die Mohnfrau, Koblenz 2010. Bibliografische Hin- und Nachweise könnt ihr euch demnächst unter "Eigene und fremde Bücher" verfügbar machen. Dort steht auch "Die Mohnfrau" als PDF zur Verfügung.)

 

„Auf das lange Schweigen folgt das dauernde Gerede." So resümiert Iris Radisch unter dem Titel „Metaphysik des Tumors" in der ZEIT vom 17.9.09 die Flut von Büchern über Krebs und Tod. Sie beantwortet die Frage, ob wir eine „literarische Sterbebegleitung" brauchen in der Folge dann aber sehr differenziert und endet mit der These, dass sich im Erscheinen der vielen neuen Sterbebücher ein „neuer Existenzialismus" ausdrücke: „Dieser Existenzialismus ist wie der Tod – zu nichts weiter nutze. Außer vielleicht dazu, uns demütig zu machen. Und zu heilen von dem Wahn Herr im eigenen Haus zu sein."

Mit dem Tod ist es offensichtlich wie mit der Liebe – jedermann sollte sich der Illusion entledigen, Herr im eigenen Haus zu sein. Iris Radisch geht in ihrem Beitrag u.a. auch auf das Buch des Spiegel-Reporters Jürgen Leinemann (Das Leben ist der Ernstfall, Hamburg 2009) ein und würdigt dessen autobiografischen Bericht: „Neben einer sehr detailreichen Schilderung einer sehr komplizierten Krankengeschichte, die an keiner Krankenhauszimmernummer, keiner Röntgenaufnahme, keinem Narbengewebe achtlos vorbeigeht, ist dieses Buch der redliche Versuch, Bilanz zu ziehen und die Familie schriftlich mit Lob und Liebe zu versorgen."

Wer morgens früh durch sein eigenes Dorf fährt, wird in der Regel die zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen kaum beachten. Genau so wenig, wie wir uns Gedanken darüber machen, wie die unvermeidbaren Aus- und Absonderungen unseres Stoffwechsels über raffiniert designte Kloschüsseln zu den Orten der Klärung und Wiederverwertung gelangen, so wenig Aufmerksamkeit widmen wir in der Regel den Inhalten unserer Mülltonnen.

Irgendwann im Frühjahr 2009 auf dem Weg zum Haus meiner Schwiegereltern – ein Fußweg von lediglich 5 Minuten – fielen mir einige der zur Abfuhr bereitstehenden Mülltonnen durch eine mir bestens vertraute Besonderheit auf. Sie enthielten so viele Windeln und Pflegeutensilien, dass ihre Deckel offensichtlich auch mit allergrößter Anstrengung nicht zu schließen waren. So wie Babywäsche, Schnuller und Spielsachen – an Leinen über Hauseingänge gespannt – häufig die frohe Botschaft vom Nachwuchs kundtun, so mögen Windeln dies auf andere Weise signalisieren; und wem diese Tonnen unverhofft und massenhaft begegnen, der mag den Eindruck gewinnen, auch in Deutschland sei – ähnlich wie Frankreich – eine neue Baby-Boomer-Generation am Werke. Wer dann allerdings genauer hinschaut und nicht vorschnell der Illusion erliegt, all diese Häuser seien von Mehrlingsgeburten gesegnet, wird sich zumindest wundern über Ausmaß und Erscheinungsform dieser Windelwucherungen. Auch wenn diese, im verzweifelten Bemühen um Raumersparnis, sorgfältig verdichtet und geschichtet werden, kommen sie irgendwann dem Deckel der Tonne in die Quere. So viele und so große, immer noch Windeln bekackende Babys kann es gar nicht geben. Und in der Tat bringen

• der medizinische Fortschritt, verbunden mit einem beständigen Anstieg der Lebenserwartung,
• eine gesündere Ernährung und Lebensweise in den Speckgürteln der zivilisierten Welt
• und eine nur zögerlich einsetzende Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens

Formen des Alters und des Alterns hervor, die eine Zunahme übergroßer, voll dementer Riesenbabys zur Folge haben. Dies entspricht zunächst einmal einer schlichten Beschreibung von Tatsachen.

Mein eigener Schwiegervater, der ein dionysischer Tatmensch war, der drei klassische Arbeitsleben in einem vereint hat, der sich in seiner Hochzeit mit fortgesetztem Schlafentzug, Nikotin- und Medikamentenmissbrauch traktierte und der dennoch zu leben verstand, der in nächtlichen Arbeitsorgien sich freisetzte für seine verrückten und abenteuerlichen Skitouren, der keine Fete ausließ und als Rechts-auf-Links-Umschüler (Durchschuss der rechten Schulter in den letzten Kriegsmonaten) kein Tennismatch ungespielt ließ, und den wir als Hypertoniker wie Hypochonder gleichermaßen immer in den Alpen auf einer seiner Skitouren einen gnädigen Tod suchen und finden sahen, dieser übergroße und verrückte Workaholic degeneriert seit 6 Jahren zu einem hilflosen Riesenbaby, das innerhalb weniger Tage ohne fremde Hilfe verdursten, verhungern und verwahrlosen würde.

Der „neue Existenzialismus", von dem Iris Radisch spricht, überrascht uns in der eigenen Familie und malt das drohende Menetekel an die Wand – ein Menetekel, dem wir sicherlich dann nicht entgehen, wenn uns die degenerativen Prozesse eines geistigen und körperlichen Verfalls in ihrer stürmischen Dynamik – wie sie bei Leo, meinem Schwiegervater, irreversibel einsetzten – plattwalzen.

Vor nahezu 40 Jahren – ich habe dies in „Ich sehe was, was du nicht siehst!? Komm in den totgesagten Park und schau" (Koblenz, 2002) beschrieben – trieb uns die Frage um, ob es eine Alternative zum bürgerlichen Familienmodell gebe. In meiner Einleitung II belehre ich mich in gewisser Weise eines Besseren, da wir alle nicht hinausgewachsen sind über die unvergleichlichen Bindungskräfte und -qualitäten, die sich offensichtlich nur in familiären Kontexten begründen und bewähren. Und dennoch lockt, reizt und fordert uns der eigene Übergang ins – hoffentlich – Fürsorgliche Finale (Detlef Klöckner) zu Gestaltungsphantasien heraus. Es ist und bleibt spannend, und ich bin gespannt, wer mir unter welchen Umständen den Arsch und das Gebiss putzen wird, und wer meine alte, nach Berührung und Resonanz heischende Hand halten wird.

Um Iris Radischs ambivalente Reaktion auf die oben erwähnte Textflut abschließend im Hinblick auf ihre Notwendigkeit zu kommentieren, möchte ich anmerken, dass ich ihrem Fazit zustimme. Die Textflut wäre aber um einiges schlanker und gewichtiger, wenn – wie Iris Radisch berichtet – der „eine Journalist seinen Vater nicht nur in Windeln porträtieren würde", und „der nächste die privaten Fotos seiner krebskranken Mutter nicht nur an die Zeitungsredaktionen weiterreichen würde", sondern wenn wir unser Heil in einer stärkeren aktiven und tätigen Anteilnahme an den Pflege- und Sterbeprozessen unserer Eltern suchen würden (vielleicht haben die beiden ja beides getan).

In der Flut der Schriften war mir Fulbert Steffenskys Mut zur Endlichkeit – Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) eine Hilfe:

„Es könnte sein, dass gerade die Hochleistungsmedizin, wenn sie einmal in Gang gebracht ist, ein Sterben in Würde verhindert." Fulbert Steffenskys fulminante Schrift liegt quer zu all den in meinem Büchlein angesprochenen Themenfeldern. Seine Kernthese stellt aber vorrangig die Frage, ob im Jugendwahn und Gesundheitszwang nicht auch ein Stück geheimer Gewalt liege, die uns möglicherweise daran hindere, dem Kranken seine Krankheit zu lassen und sich als Gesunder mit der Krankheit des anderen abzufinden. Er zitiert Udo Krolzik, den Direktor des Johanneswerkes in Bielefeld mit seiner Auffassung, dass erst die moderne Medizin mit ihren Methoden der künstlichen Ernährung aus einer qualvollen Art zu sterben eine qualvolle Art zu leben gemacht habe.
Mein Vater starb mit 65 Jahren innerhalb einer Woche an einem Herzinfarkt, meine Mutter führte ein halbes Jahr einen harten Abwehrkampf gegen Gevatter Hein, die letzten drei Tage im Standby-Modus einer extrem reduzierten Schnappatmung mit zuletzt 1-2 Atemzügen pro Minute. Das alles war schwer zu ertragen, aber es sind naturgemäß die vorletzten Entwicklungsaufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Meine Schwiegermutter erfreut sich mit 86 Jahren einer guten Gesundheit im Sinne des im Rheinland vertrauten frommen Wunsches: Oben licht und unten dicht. Hingegen fristet mein Schwiegervater ein elendes Dasein, dem vor drei Jahren die Pflegestufe III attestiert wurde.

Das Elende seines Daseins liegt hier allerdings primär im Auge des Beobachters, des beobachtenden Schwiegersohns. Die Vorsorgevollmacht liegt in Händen seiner Tochter und über eine Patientenverfügung hat er selbst lebensverlängernde intensivmedizinische Interventionen ausgeschlossen. Wir pflegen – wie oben angedeutet – zu Hause. Sein Lebenswille ist eindeutig indiziert über regelmäßiges Essen und Trinken. Auch wenn er dazu selbst in keiner Weise in der Lage ist, steht sein Lebenswille für mich außer Frage. Alle körperliche Zuwendung, alles Drücken, Schmusen und Küssen fällt, wie Regen in der Wüste, auf überaus bedürftigen, aber auch fruchtbaren Boden. Und seine Mimik und Gestik lassen keine Zweifel an seinem Wohlbehagen. Sie sagen uns: Alles ist gut, hier bin ich wohl, hier fühle ich mich geborgen und aufgehoben.

Fulbert Steffensky zentriert seine Gedanken um eine triviale und gleichwohl fundamentale Erfahrung: „Das, wovon wir eigentlich leben, können wir nicht herstellen: nicht die Liebe, nicht die Freundschaft, nicht die Vergebung, nicht die eigene Ganzheit und Unversehrtheit. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen." Mit Fulbert Steffensky nähere ich mich einem theologisch begründeten Gnadenbegriff, mit dem er uns nahelegt, Gnade zu denken bedeute zu erkennen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmache: „Alte Menschen, dauerhaft Kranke sind wenig tauglich und verwendbar. Sie können sich nicht durch sich selbst rechtfertigen, nicht durch ihre Arbeit, durch ihre Intelligenz und ihren Witz. Sie sind, weil sie sind. Sie sind nicht, weil sie etwas leisten." Auch Kinder – betont Steffensky – seien zunächst einmal nicht durch ihre Funktion für die Gesellschaft gerechtfertigt. Aber sie seien immerhin – wie Zyniker sagen – eine „Investition für die Zukunft".

Ich bedenke Fulbert Steffenskys Auffassung, dass die Bedürftigkeit den Grundzug aller Humanität ausmache. Und ich kann der Idee folgen, dass ein Wesen umso bedürftiger sei, je geistiger es ist: „Umso mehr weiß es, dass es sich nicht selbst gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke." (Ja, da wird doch auch irgendwie verständlich, warum der ehemalige Benediktinermönch Steffensky, Bruder Fulbert, zum Protestanten wird, mit Dorothee Sölle eine Familie gründet und ein gottgefälliges Leben anstrebt.) Den Fokus seiner Argumentation bildet schließlich eine Idee, die ich als die letzte Entwicklungsaufgabe verstehen möchte, die uns möglicherweise gestellt ist: „Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergeben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt, sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selber rechtfertigen; wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen [...]."

Vor einigen Monaten habe ich mich im Fitness- und Gesundheitscenter Dany angemeldet und verrichte dort meine gesundheitsfördernden anthropotechnischen Übungen. Ich denke über Motive nach. Am 21. Februar 2010 ist mein 58. Geburtstag. Manfred Lütz (München 2007) hat mir vor Jahren – wie auch vielen anderen – die Frage gestellt: „Sind Sie gerade im Moment gesund?" Und das auch möglicherweise noch im Sinne der Definition der WHO, wonach sich vollständige Gesundheit aus einem umfassenden bio-psycho-sozialen Wohlbefinden zusammensetzt. Menschen, die sich in dieser Weise gesund fühlen, erfahren dies in der Tat als systemisch begründetes, will sagen: intensives wechselwirksames körperlich-seelisch-geistiges Wohlbefinden. Im Großen und Ganzen, Summa summarum und cum grano salis gehöre ich wohl mit meinen fast 58 Jahren zu einer verschwindenden Minderheit von Menschen, die sich in der beschriebenen Weise für gesund halten (dürfen). Vielleicht ist mein gesamtes Leben der lebendige Ausdruck eines pfleglichen und achtsamen Umgangs mit mir selbst. Wäre ich im Sinne einer christlichen Grundorientierung ein gläubiger Mensch, würde Fulbert Steffenskys Idee vielleicht auf mich zutreffen, dass „wer an Gott glaubt, nicht Gott zu sein und Gott zu spielen braucht. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein."

Ich frage mich, ob die wunderbaren Ideen Steffenskys ihre tatsächliche Kraft verlieren, wenn der Glaube an Gott fehlt? Oder könnte es möglicherweise nicht gerade umgekehrt sein? Warum brauchen wir diese Gottesidee, um dem „merkwürdigen neuen Leiden" zu entgehen, das sich im Sinne Steffenskys in einer „überhöhten Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber" ausdrückt? Der Katalog, den Fulbert Steffensky auflistet, kommt uns allen vertraut vor: „Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter, mein Aussehen schön. Mein Beruf soll mich erfüllen. Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein. Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin. Die Erziehung der Kinder soll gelingen. Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht." Nein, so ist das Leben nicht!

Aber warum muss sich Gott zwischen diese nüchterne Einsicht schieben? Warum genügen wir uns nicht selbst und können nicht aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt? Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen? Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden: „Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel. Meistens ist man nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb guter Therapeut. Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist."

Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt." Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst anrührt und jenseits aller Gottesphantasien zu einem Grundmotiv meines Lebens führt: „Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben." Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung der bedeutsamen anderen.

In diesem Büchlein stehen viele meiner Gedichte und lyrischen Selbstzitierungen für diese Erfahrung. Dennoch möchte ich dieses ausführlichere Kapitel mit einem längeren Zitat aus Fulbert Steffenskys Schrift beschließen: „Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben. Ich erzähle eine persönliche Geschichte. Ich habe den dramatischen Zusammenbruch meiner Frau zehn Jahre vor ihrem Tod erwähnt. Wir haben Wochen um ihr Leben gebangt. Dann erholte sie sich, langsam und vollständig. Sie und wir haben gelernt, dass das Leben Frist ist. Und dies gab unserem Leben eine neue Intensität. Wir lernten die Selbstverständlichkeiten des Lebens als große Gaben zu schätzen. Dass ein neuer Morgen kam, war nicht mehr selbstverständlich, das Lachen unserer Enkel und dass wir zusammen weiter leben durften, waren nicht mehr selbstverständlich. Der Alltag hatte einen neuen Glanz. Wir haben die Bäume anders gesehen, wir haben unsere Liebe intensiver erfahren, wir haben gelernt, was Brot und was Zeit ist. Wir haben die Gaben des Lebens als uns ungeschuldete und als unverdienbare kennen gelernt. Die Dankbarkeit ist wie eine neue Schöpfung der Dinge. Und auch der nach zehn Jahren erfolgte Tod meiner Frau hat diese Dankbarkeit nicht durchstreichen können. Wer weiß, dass er sich verdankt, ist des Lebens fähig, vielleicht auch des Sterbens."

„Vereiste Vergangenheit" (ZEIT) und „Es ist nie vorbei" (FAZ)

                                                                                                                                                                                                                                                 Koblenz, den 6.1.2014

Sehr geehrter Herr Hofmann,

mit diesem Brief und dem beigefügten Buch möchte ich mich bei Ihnen persönlich und stellvertretend bei allen bedanken, die „Unsere Mütter, unsere Väter" ermöglicht haben. Ihr Film hat kontroverse Resonanz hervorgerufen. Aber er hat vor allem die Resonanz ausgelöst, die Sie sich erhofft hatten. Er hat nicht die Befürchtung bestätigt, dass es keine Bereitschaft mehr gebe, sich mit diesem Stoff der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

„Unsere Mütter, unsere Väter" hat auch mir den letzten Anstoß vermittelt, „Hildes Geschichte" zu Ende zu schreiben. Es ist eine von unzähligen Geschichten, in der „die große Geschichte auf die Welt des einzelnen Menschen und von Familien runtergebrochen wird". Auch in ihr wird das „Massentrauma", von dem Sie und Götz Aly sprechen, geschichtsmächtig, indem es – bis in die dritte Generation – in eine Familiendynamik hineinwirkt, in der das Schweigen und Verdrängen die Bedingung für den Neuanfang darstellen.

Insofern ist „Hildes Geschichte" natürlich auch nicht zu Ende. Dass eine siebzehnjährige die Liebe ihres Lebens erlebt, dass sie schwanger wird und ihr im katholischen Rheinland nur der Weg in ein Entbindungsheim der NSV bleibt; dass sich die große Liebe ihres Lebens (zu einem verheirateten Soldaten mit Frau und Kind) als Trugbild entpuppt, dass sie ihr entsagt und sie ihre Tochter in der Fremde entbindet und nur mühsam den Weg ins „geordnete" Leben zurückfindet, ist sicherlich nicht singulär. Dass sie nach Jahren dem Werben des Jugendfreundes nachgibt und für ihre Tochter doch noch einen (Stief-)Vater findet, mit dem sie zwei Söhne zeugt, klingt fast nach einem Happy-End.

Aber das Familiengeheimnis, das Verschweigen des Vaters der Tochter („Vater unbekannt"), schwelt Jahrzehnte im Verborgenen, bis die Mutter am Beispiel der eigenen Tochter erfährt, wie ihre längst erloschene („vereiste") Sehnsucht von ihrer Tochter wiederbelebt wird – bis an das Ziel einer verzweifelten Suche nach dem, was sie aufgeben musste. 60 Jahre später erfährt die Familie, wie es „auf der anderen Seite" weitergegangen ist, dass der Geliebte, der Vater der Tochter, schon im September 1943 gefallen ist, und dass es zwei (Halb)Brüder gibt. Erst jetzt beginnt der mühsame Prozess der Versöhnung und auch der der Rekonstruktion. Entstanden ist „Hildes Geschichte – oder: Auch eine Liebe in Deutschland".

Auf die Frage, ob es auch Ihr Anliegen sei, „eine Versöhnung zu stiften?" antworten Sie: „Ich wüsste nicht, was da zu versöhnen wäre. Mir geht es um das Aufbrechen dieser Gefühle und den Versuch, diese Zeit auch empathisch zu diskutieren. Vielleicht kann in einem Dialog zwischen den Generationen über diesen Film Versöhnung liegen."

Unsere Mutter ist 2003 gestorben – wenigstens versöhnt mit ihrem ersten Leben und den Folgen. Aber darüber hinaus wird mit großer Emphase darüber diskutiert und darum gerungen, wie all dies innerhalb der Familie wirkt und gewirkt haben mag. Denn was die Suche der Tochter zu einem seligen Ende geführt hat, bedeutet für den Enkel sich damit auseinanderzusetzen neben dem geliebten und verehrten sozialen Opa einen genetischen Nazi-Großvater in sein Leben integrieren zu müssen. So kann „Hildes Geschichte" auch nur der Beginn einer Auseinandersetzung sein, die weit ins 21. Jahrhundert reicht.
Durch „Unsere Mütter, unsere Väter" wird dieser Auseinandersetzung eine breite Basis geschaffen, die – da bin ich mir ganz sicher (und unsere Familie möge dafür ein Beispiel sein) - alle einbindet, die sich und ihre Familiengeschichte besser verstehen wollen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Franz Josef Witsch-Rothmund

Anlage: „Hildes Geschichte"

Café Hahn (LEA Club des Jahres 2014)lea2014-cafehahn

Vor vielen Jahren war das Café Hahn nicht nur mein Wohnzimmer, sondern auch zeitweise mein Schlafzimmer. Das Café Hahn war Inspiration für eine eigene „Café-Hahn-Lyrik“ und nicht zuletzt Bühne für eine eigene CH LogoVortragsreihe. Ich erinnere mich mit Lust und Freude daran. Der Aufbau der komplexen BLOG-Struktur geht mir zu langsam. Als Vorgeschmack im Sinne einer Nachlese stelle ich einfach mal meine Café-Hahn-Lyrik aus den frühen 2000er Jahren mit kleinen Kommentaren zum Schnuppern auf diese Seite. 

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Ich weiß es noch!

Woran erinnert ihr euch, wenn ihr alt seid – wo habt ihr gelebt, geliebt, gelitten – gegen alle Vernunft, irritiert, glücklich, verzweifelt, fasziniert, geblendet, aufgelöst, gesammelt, ergriffen, außer euch?

Mit einer kleinen Vorrede

In seinem Buch „Systemische Paartherapie" (Stuttgart 2004) spricht Arnold Retzer im Kapitel „Liebesmythen und ihre Funktion" einen „modernen, wenn auch nicht ganz jungen Mythos" an; den des „Fortschritts, der Autonomie und der vernünftigen Beherrschung der eigenen Lebensbe-dingungen" (Retzer, 33ff.). In Anbetracht dieses Mythos erscheine die Liebe natürlich als ein Skandal, der alles radikal in Frage stelle. All die Bilder, die den von der Liebe Überwältigten als kopflos oder kopfverdreht bezeichnen, all die drastischen Bewertungen eines Zustandes als „schwanzgesteuert" – „Steht der Schwanz, schweigt der Verstand" – oder in seiner sanfteren, umschreibenden Variante, die davon ausgeht, dass der Kopf wohl in die Hose gerutscht sei, suggerieren, dass die leidenschaftliche Liebe nicht gut angesehen ist, dass man sie gar – wie Roland Barthes kritisch anmerkt – als eine Krankheit betrachte, von der man geheilt werden müsse.

Grenzt die Liebe ihrerseits eine (selbst-)beherrschende Vernunft aus, so weist Arnold Retzer darauf hin, dass Ausgrenzungsversuche gegenüber der Liebe notwendig erscheinen, um dann wieder der gerade geltenden gesellschaftlichen Vernunft Genüge zu tun – allerdings mit durchaus ambivalenten Folgen: „Sprichwörtlich sind die abenteuerliche Geschichte des jungen Mannes, der (um zu vergessen) in die Fremdenlegion geht, oder der jungen Frau, die ins Kloster geht. Aber auch das hat natürlich wiederum seinen Preis. Es besteht bei dieser Ausgrenzung der unvernünftigen Liebe die Gefahr, daß nur noch ein vernünftiger, in keiner Weise mehr liebender Mensch zurückbleibt, für den umgekehrt aber auch die Gefahr nicht allzu groß ist, geliebt zu wer-den." (Retzer, 34)

Arnold Retzer spricht im Fortgang davon, dass all diese Herausforderungen des „vernünftigen Ausgrenzens der unvernünftigen Liebe und des unvernünftigen Ausgrenzens der Vernunft durch die Liebe" allbekannte Themen der abendländischen Kultur seien. Eine dieser Vernunftstrategien bestehe in der Überlistung der zerstörerischen Seite des Begehrens. Es werde der Versuch unternommen, die unbeherrschbare Liebe und die herrschende Vernunft, die sich wechselseitig auszugrenzen versuchen, in Einklang zu bringen: „Versuche, Antworten zu finden und diese im Experiment des Lebensvollzugs zu überprüfen, halten an. Die Ehe kann als eine solche zur Institution gewordene Vernunftstrategie betrachtet werden: An den Mast gefesselt, setzt man sich der unwiderstehlichen Verführung auf eine ungefährliche Weise noch einmal aus." (Retzer, 34)

Dies beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie man denn überhaupt hineingelangt in die Ehe und wie man denn den Ausgang findet aus Beziehungen, deren Sinn von einem der beiden Partner in Frage gestellt wird, und wie man denn womöglich den Übergang aus der einen in die andere Beziehungswelt so gestaltet, dass eine „Schädigung" der Beteiligten – auch in Form von „Langzeitschäden" – möglichst gering gehalten wird. Arnold Retzer formuliert in „Liebesproblem 6" unter der Leitdifferenz „Liebesehe", gesellschaftlich herrsche heutzutage weitgehend das Postulat der Einheit von Liebe und Ehe: „Wer heiratet, sollte sich vorher lieben; wer liebt, kann die Ehe nicht verweigern." (Retzer, 54) Die Liebe werde zur einzig legitimen Begrün-dung einer Ehe. Und so ist es den meisten unter uns denn auch vertraut. Nach Retzer erzeugt der Liebescode eine neue Form sozialer Organisation: eine Paarbeziehung, die ihre Legitimität weder aus der Vergangenheit noch aus einer Ursache außerhalb des Paares beziehen könne, sondern sich selbst autonom begründen müsse. Er schlussfolgert, dass damit die Widersprüche und nicht selten auch die Probleme ihren Anfang nähmen und die Liebesbeziehung aufhöre: „Die Liebe wird durch etwas begründet (durch die Liebe), auf das man selbst keinen Einfluß hat, auf das man aber Einfluß nehmen soll, damit es auch in Zukunft, für die das Ehepaar als autonomer Gestalter seiner selbst auch selbst verantwortlich ist, Liebe geben kann. Wir haben es hier – bei der Liebesehe – mit der problematischen Verwicklung zweier unterschiedlicher Kommunikationssysteme zu tun, die unterschiedlichen Logiken gehorchen und verschiedene Sinnsysteme hervorbringen. Wir haben es aber auch mit der problematischen Verknüpfung von etwas spontanem/unwillkürlichem (der Liebe) mit dem kontrolliert/willkürlichen Herstellen und Aufrechterhalten der Ehe zu tun, einer Sei-spontan-Paradoxie." (Retzer, 54)

Um es mit den Worten Julia Onkens zu sagen: „Im Zustand des Verliebtseins fallen meist sämtliche verstandesmäßigen Überlegungen aus: Sie werden von den ungeheuerlichen Eroskräften einfach hinweggespült, damit wir an das Ziel der sexuellen Vereinigung gelangen... Es ist eine sinnvolle Einrichtung, dass die Triebkräfte eine solch gewaltige Kraft über uns ausüben. Das gibt uns einen gehörigen Stoß, uns auf den Weg zu machen, um zu Liebenden zu werden." (Onken, 159) Bei Julia Onken scheint in der Folge wenigstens noch partiell ein sanfter, harmonischer Übergang möglich. Sie spricht von der Fortsetzung des Weges, indem sich „Eros" relativiert und „Philia" an Einfluss gewinnt; „Philia als das Zusammenschwingen der Seelen in Sympathie, Freundschaft, menschlicher Wärme, wohlwollendem Zugeneigtsein". Darin manifestiere sich eine konsequente Weiterführung aus der gegenseitigen erotisch-sexuellen Mann-Frau-Bezogenheit (natürlich auch Mann-Mann und Frau-Frau) in den Bereich der Freundschaften; Philia als Weiter-entwicklung und Verfeinerung der körperlichen Liebe: „Bei den meisten Menschen zeigt sich ein natürliches Bedürfnis, die geschlechtliche Bezogenheit zu erweitern und in den Bereich des menschlichen Miteinander zu gelangen. Wenn das nicht möglich ist, weil sich einer der beiden weigert, wird es früher oder später in der Beziehung zu Problemen kommen." (Onken, 159)

Was hier als „Übergang" gedacht wird, klingt bei Arnold Retzer in einer systemtheoretisch inspirierten Sichtweise zunächst einmal sehr viel nüchterner. All die mit der Liebe verbundenen Probleme könnten seiner Auffassung nach den resignierenden Schluss nahe legen, „daß die Liebe zwangsläufig aufhört und durch gemäßigtere Formen des Zusammenlebens ersetzt werden müsse" (Retzer, 55). In der „Partnerschaft" sieht Retzer diese „gemäßigtere Form". Sie stelle einen radikal anderen Kommunikationscode bereit, der zu gänzlich anderen Sinnverweisen und Kommunikationen führe: „Wir haben es also hier – bei der Liebesbeziehung einerseits und der Partnerschaft andererseits – mit zwei wesentlich unterschiedlichen Systemen zu tun, obwohl die Teilnehmer an beiden identisch sein können." (Retzer, 55)

Für diese Nahtstelle zwischen „Eros" und „Philia" im Sinne Julia Onkens bzw. zwischen „romantischer Liebe" und „Partnerschaft" im Sinne von Arnold Retzer lassen sich wohl keine einfachen Lösungen denken. Niklas Luhmann hat dies zu dem Hinweis veranlasst, das Sicheinlassen auf sexuelle Beziehungen erzeuge Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führten. Die Tragik liege dabei nicht mehr darin, dass die Liebenden zueinander kommen; sie liege vielmehr darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und dass man weder nach ihr leben noch voneinander loskommen könne (siehe Niklas Luhmann, 203). Peter Fuchs (1999, 48) verweist nüchtern darauf, dass das „Ge-setz der Höchstrelevanz" den Körper selbstverständlich einschließe. Deswegen sei es nicht unproblematisch, „den je eigenen Körper andere Weiden abgrasen zu lassen, solange man Umwelt eines bestimmten Intimsystems ist". Er weist allerdings gleichzeitig darauf hin, dass dies keine „normative Rede" seinerseits sei, sondern nur der Hinweis darauf, dass dies die „Formalpräskription" sei, gegen die die Katastrophen „real existierender" Intimsysteme verständlich würden: „Natürlich wird fremdgegangen, aber das Entscheidende ist der Verschweigezwang, der aus der Vor-schrift resultiert." Hält man sich nicht an den „Verschweigezwang" sind „Katastrophen" häufig unausweichlich.

 

So wie auch in der folgenden Geschichte:

Just in jenen Jahren, da Roland Barthes anhob, die Abwertung des verliebten Menschen zu beklagen und Fragmente einer Sprache der Liebe entwarf (Frankfurt 1984), da Niklas Luhmann begann, mit einem „Was nun? Probleme und Alternativen" (Liebe als Passion, Frankfurt 1982, 197-223) erstmals praktische Hinweise zu geben zur Organisation von Intimsystemen, just in diesen Jahren schwang sich ein junger Mann dazu auf – von alledem nichts ahnend – jenes Gebirgsmassiv zu erstürmen, das sich die Unvernunft nennt und das den Zugang zum lieblichen Tal der romantischen Liebe versperrte. Blindlings und getrieben von den Urmächten des Eros schrieb er nolens volens eine moderne Variante jener Balkonszene, die zum unvergleichlichen Symbol (tragischer) romantischer Liebe geworden ist. Und wenn Roland Barthes seinerzeit meinte, der Verliebte sei äußerlich nicht mehr zu erkennen, so sprechen alle Argumente für diese Hinsicht, erschien doch unser Verliebter bei all seinem Tun eher als undurchsichtige Figur in einem Hintertreppenroman, nämlich als jemand, für den die Polizei mehr Interesse aufgebracht hätte als alle die, die an die romantische Liebe auch heute noch glauben. Und da schon einer dabei war die „Ordnungen der Liebe" (Bert Hellinger) infrage zu stellen, fühlte er sich auch so, nämlich als jemand, der etwas zu verbergen hatte, der etwas tat, was aller Vernunft widersprach. Und er tat es als jemand, der nichts wusste und nichts wissen wollte, von dem, was sein Tun bedeutete und auszulösen vermochte. Weil er geschrumpft war und gewachsen gleichermaßen zu einem Nasenmenschen, der den Einhauchungen atavistischer Urinstinkte folgte, so wie die Elefantenbullen seit Jahrtausenden den Wegen folgen, die sie zur Kuh und zur letzten Ruhe leiten. Und tief im limbischen System ruhten die Handlungsanweisungen dafür, nicht nervös, hektisch und unruhig zu reagieren, sondern mit traumwandlerischer Sicherheit das Richtige im falschen Augenblick und das Falsche im richtigen Augenblick zu tun.

An jenem Samstag im März des Jahres 1979 war der Zielort schon im Visier, normale Vorkehrungen zum Einlaufen in fremde Gewässer schon getroffen. Da war nur der Klingelknopf zu betätigen, und nichts in der Welt deutete da-rauf hin, zu welchen Verrücktheiten sich ein junger, verliebter Kerl in der Folge aufwerfen würde.

Aber an diesem Abend bleibt der Türöffner stumm. Kein noch so zaghaftes, kein noch so stürmisches, forderndes Streicheln und Traktieren des Klingelknopfes löst das kurze metallische „Tak" aus, mit dem sich die Türe aus der Verriegelung löst und den Weg freigibt, um nur noch der Nase zu folgen. Alle Erwartung wird enttäuscht und die Vorfreude zieht sich an einem kühlen Märzabend zurück auf konsequente Beharrlichkeit. Schon beginnt mit dem Klingel-knopf auch die Birne heißzulaufen – ruhig bleiben, ganz ruhig: Erst einmal ein paar Schritte zurückweichen, den Kontext weiter fassen, auf der belebten Straße die Seite wechseln, die beiden großen Fenster im ersten Obergeschoss über der Metzgerei ins Visier nehmen, nach irgendwelchen Lebenszeichen Ausschau halten. Während rechts, in O.'s Zimmer offensichtlich alles ruhig und dunkel scheint, lassen sich auf der linken Seite feinste Unterschiede erahnen; möglicherweise im Schein einer Kerze, ein unscheinbares, eher unwirkliches „Flackern", das sinnesmächtig wird nur im Vergleich zum toten unterschiedslosen Grau nebenan – oder doch nur eine Fata Morgana im belebten Lichterspiel der Hauptgeschäftsstraße? Erneute Klingelorgie! Jetzt bahnt sich die eigenmächtige Gedankenlawine ihren Weg – und präsentiert eine Auswahl von Möglichkeiten.

Ich bin nicht der einzige Aspirant – dafür gab es schon früh, bei der ersten, frechen Avance untrügliche Hinweise. Beeindruckend, wie die eingespielte und eingeschworene Wohngemeinschaft von G. und C. zusammenspielte. Immerhin war mein Besuch „angemeldet", eingefädelt. Da werde ich von G. schon an der Wohnungstüre abgefangen und in ihr Zimmer gelotst. C. sei gleich so weit, ich solle noch ein wenig Geduld haben. Ich habe dort eine halbe Stunde gesessen und mit feuchten Händen und klopfen-dem Herzen auf meine Audienz gewartet. Viel später erst habe ich erfahren, dass einer meiner „Kontrahenten" in der Küche – nur in der Küche – saß, sich begriffsstutzig zeigte und das Feld nicht räumen wollte.

Nur eine Möglichkeit: Ich war noch nicht drin und schon wieder draußen. Diese Frau, begehrt, jung, schön, lebendig hatte eine andere Wahl getroffen! Nein, Unsinn, so sicher war ich ihrer und meiner, dass ich mich auf diese Absurdität nicht einlassen wollte. Sie war einfach nicht da, noch nicht da! Sie verspätete sich – von wo, wieso, weshalb; es war schon später am Abend, zwischen 22.00 und 23.00 Uhr! Nun, manchmal bleibt man in einer Kneipe halt hängen, weil es gerade passt, der Wein und die Worte laufen, das Kerzenlicht und die Blicke flackern... Unsinn, Quatsch! Ich habe gesagt, zwischen 21.00 und 22.00 Uhr bin ich da! Aber irgendetwas stimmt hier nicht. Ihre Vorfreude ist mindestens so groß wie meine. Natürlich! Sie kann nicht reagieren, irgendetwas hält sie ab, hindert sie. Sie schläft!? Das wäre zwar ein starkes Stück, aber immerhin denkbar. Was tun? Was tun??? Schlüsselgewaltig bin ich noch nicht, aber liebestoll, von Sinnen, was ein klares, vernunftgeleitetes Denken eindeutig behindert. Gut so – auf diese Weise können die Urinstinkte das Heft in die Hand nehmen und aus Angsthasen flügelbewehrte Adler machen. Und Adler steigen keine Treppen – aber Adler überwinden jedes Hindernis!

Klar, die Rückseite! Dieser Wohnblock hat zwei Zugänge: einen ordentlichen über die Eingangstüre auf der Hauptgeschäftsstraße und einen über den Hinterhof. Ich muss um den Häuserblock herum. Da siehst du schon von weitem aus wie eine zwielichtige Gestalt, die sich zu schaffen macht, die unsicher wirkt, nach Schleichwegen und Zugängen sucht, die der nicht braucht, der sich schlüsselfertig Einlass verschafft. Verwinkelte Gänge, Mülltonnen, düstere, leblose Hinterhofatmosphäre. Aber die Türe steht offen – die liebenswerten Chaoten der oberen Geschosse haben ihren Sinn für die Ordnung in einem ordentlichen Haus ausgerechnet heute vernachlässigt. Mir soll's recht sein. Ich bin im Haus und steige die Treppe bis zum ersten Obergeschoss hinauf, bin an der Wohnungstüre, an der Klingel und klingele: einmal, zweimal... fünfmal... zehnmal! Ja klar, wo ist der Unterschied? Es gibt keinen Unterschied und mit der Klingel keinen Einlass ins Paradies. Und die Wohnung ist zu verwinkelt, als dass Klopfen einen Unterschied machen würde. Da sind zwei Türen dazwischen und eine lange, lange Diele, und der Schall wird dreimal gebrochen. Ehe ich mir auf diese Weise Gehör verschaffe, ist das ganze Haus auf den Beinen und möglicherweise die Polizei schon benachrichtigt. Das Hirn läuft heiß und steht kurz vor dem Kollaps. Alle Möglichkeiten werden erwogen. Nein, hier ist nichts mit Erwägung – ich will hier rein! Und hier sucht sich die Nase die Fährte, sie nimmt Witterung auf wie ein guter Jagdhund, der es mit jedem Gegner aufnimmt, blindlings und ohne jedes Kalkül. Es ist die Trance eines Unbeirrbaren, der eine Mission hat.

Ja, auf halber Höhe im Treppenaufgang gibt es ein Fenster zum Hinterhof hinaus; nach unten verkommene Glasdachungen, die Andock- und Entsorgungsstelle für den Metzgereibetrieb, nach oben der enge Lichtschacht eines sechsstöckigen Hauses. Und von diesem Fenster aus über mir, vielleicht ein bis zwei Meter entfernt, allerdings um gut einen Meter in der Höhe nach oben versetzt, ein weiteres Fenster. Das ist das Fenster zum Bad, G.'s und C.'s Badezimmerfenster. In Reichweite vom Treppenhausfenster verläuft das Regenfallrohr. Genau da muss ich ran, dann ein Meter in die Höhe und die knapp zwei Meter bis zum Badezimmerfenster – hoffentlich nur angelehnt. Mit Dach-rinnen und Regenfallrohren kenne ich mich aus, die sind in gewissen Abständen mit Schellen in der Wand verankert – dieses hier hoffentlich so gut, dass es mich aushält. Wenn ich hier abstürze, werde ich's vermutlich überleben, aber das Getöse eines zerplatzenden und zersplitternden Glasdaches wird ringsum für Aufruhr sorgen, einmal ganz abgesehen von den Verletzungen, die ich mir zufügen könnte. Aber da ich schon waidwund bin und – wie der Stier – nur zur Kuh will, kann mir ein noch so drohendes Ungemach nicht mehr den Schneid abkaufen.

Mit einer Länge von 1,87 Meter – und mit 74 kg leicht und elastisch wie eine Feder – bin ich prädestiniert, die Erklimmung des Olymp zu wagen. Das Regenrohr in meiner Reichweite hält und ich klammere mich wild entschlossen an dieses Himmelsrohr. Jetzt muss es nur noch die Kraftan-strengung aushalten, die mich zu dem schmalen Sims bringt, der gerade breit genug ist, um meinen Fußspitzen Halt zu geben. Die Jahreszeit kommt mir entgegen. Die steifen Sohlen meiner Totschläger lassen mich Halt finden, die eine Hand am Regenrohr, die andere sich vortastend zur Fensterbacke. Jetzt den Punkt erwischen im Ausbalancieren, der es erlaubt das Rohr zu lassen und mit dem rech-ten Arm so viel Schwung zu entfalten, dass ich meine 74 Kilogramm soweit verlagern kann und Griff am Fenster-sims bekomme. Nur ja kein Übergewicht nach hinten riskieren, sonst bleibt der Bock auf der Strecke!!! Ja, Himmel und Hölle sei Dank, die Fensterbank hat sie noch, die Aus-kerbung, an der sich das Regenwasser sammelt und die jetzt meinen Fingern den Zugriff bietet, um mich zu halten. Nur noch das Fenster aufstoßen, hineinklettern und sammeln für das, was kommen mag. Aber die Mädchen sind vorsichtig. Das Fenster ist verriegelt und gibt keinen Milli-meter nach. Lange kann ich mich so nicht mehr halten: Entweder unsicherer Rückzug, Sturz ins Glas, oder??? Ja, wenn schon Glas, dann nach meinen Konditionen. Mit der einen Hand Halt und Balance gleichzeitig suchen und mit dem Parka-geschützten Ellenbogen des anderen Armes einen gezielten Schlag führen, in dem alle Kraft, alle Wut und Enttäuschung sich entladen kann. Ein kurzes Klirren – das Aufschlagen und Zerspringen von Scherben auf Porzellan und Fliesen. Alles bleibt ruhig. Meine Hand tastet sich zum Fenstergriff vor, entriegelt und öffnet das Fenster. Ich bin drin! Fast. Aber jetzt kann nichts mehr schief gehen. Die linke Hand umklammert den Rahmen, als hinge die Welt daran.

Sekunden später stehe ich im Bad der Wohnung und versuche mich zu sammeln. Es ist totenstill, über allem lastet eine unheimliche Ruhe, nichts rührt sich. Aber spätestens jetzt hätte doch jemand in der Wohnung aufmerksam werden müssen!

Ein zutiefst beklemmendes Gefühl kriecht in mir hoch. Aus meiner Trance gerate ich wie mit einem Fingerschnipp in die Welt, in die ich eingebrochen bin. Jetzt auf einmal verlässt mich mit einem Schlag die Sicherheit des Tuns, das Eigen-mächtige weicht zurück und ich bin nichts als ein Einbre-cher – mit welchem Recht, mit welcher Legitimation??? Ich verletze die Privat- und Intimsphäre eines fremden Menschen. Ich bekomme weiche Knie. Was soll ich tun? Was geschieht, wenn ich diesen Raum, diese Schleuse verlasse und die Wohnung betrete? Welche Unterstellungen haben mich in diesen Wahn getrieben, alles vergessen lassen, was mein Leben bindet und einbindet in vorgespurte Bahnen – kein Gedanke an das Leid, das ich auslöse, kein Gedanke an die Optionen einer Frau, die ich nicht kenne, deren Witterung mir die Sinne betäubt und offensichtlich auch das, was von meinem Verstand noch übrig ist.

Was, wenn dort im „Sesam-öffne-dich" jemand anders regiert, Hof genommen hat und ich nicht nur zum Einbrecher, sondern auch noch zum gehörnten Deppen, zum betrogenen Betrüger geworden bin? Unschlüssig und unsicher nähere ich mich der Türe, öffne sie einen Spalt, so dass die Türe zur Küche in meinen Blick fällt. Sie ist halb geöffnet und der Schimmer des Lichts bricht so eben das Dunkel. Er hat die sanfte Unruhe eines Oszillierens zwischen dem Sein und dem Nichts der beginnenden Dämmerung. Dies kann alles bedeuten und alles verheißen...

Lyrographielyrourknall - bevor es losgeht! Die "Lyrographie" ist mein nächstes größeres Projekt

Da will einer hoch hinaus – das Gedicht als die Königsform der Verknappung und Verdichtung – und weil es so schön ist in der neuen Medienwelt, erliegt der Romantiker ab und zu der symbiotischen Verbindung bzw. Verschmelzung von Wort und Bild. Und er entsinnt sich Niklas Luhmanns Hinweis, wonach es uns nicht an gelehrter Prosa fehle. Er meint für anspruchsvolle Theorieleistungen sollte es eine Art Parallelpoesie geben, „die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist“.

Aber ich will ja noch höher hinaus. Die Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns hat mir mit der Idee, dass der Lebenslauf aus Wendepunkten bestehe, an denen etwas geschehen sei, was nicht hätte geschehen müssen, die Zufallsabhängigkeit unser aller Lebensläufe vermittelt. Diese unaufhebbare Kontingenz und die Aufmerksamkeit für das, was (m)einen Lebenslauf wendet, ist bei mir zuweilen auf lyrische Weise spurenmächtig geworden. Der Urknall, der den starting point meines Lebenslaufes oder den (Endpunkt des Lebenslaufs) meines Bruders, den meiner Schwester (vor allem im Zusammenhang mit dem unserer Mutter) markiert, zentrifugiert nicht nur das Leben selbst, sondern auch seine symbolische Verdichtung in sprachlicher Form.

Die kontingenten Schnittpunkte (m)eines Lebens gehen auf diese Weise in gerinnungsfähigen Wortstoff/Wertstoff über. Die Stockungen und Ausfällungen bilden die Rohmasse, aus der die Gebilde entstehen, die als Verdichtungen oder Gedichte in den sozialen Raum mäandern. Die Gerinnungsfaktoren resultieren aus der mir je möglichen Komplexitätsreduktion - manche Leser mögen es auch als Komplexitätsexplosion empfinden - und markieren den Sinn- und Bedeutungsraum, den ich (auch) für mein Leben halte. Ich nehme Max Frisch beim Wort und halte den Variationsraum - Biografie ein Spiel - für ebenso beschränkt, wie er: "Wir erzählen uns allen eine Geschichte, die wir für unser Leben halten". Und im Erzählen, im Erinnern, im (Neu-)Bewerten - eingedenk aller mitlaufenden Inkonsistenzbereinigungsprogramme - kann sich hingegen eine gleichermaßen umfängliche wie raffinierte Variationsbreite entfalten. Ein einziges meiner Urknall-Gedichte soll hier platziert sein, um erahnen zu können, was sich in den nächsten Monaten hier abspielen wird:

 

Orte

 

Ich heiße Josef (neben Franz),

und bin der Enkel

einer deutschen Eiche:

Josef -

stark und breit,

sanft und gewogen,

leicht gebeugt

- ein Kraftwerk.

In Deinem Haus

- keine Bilder, keine Bücher,

da hingen keine Gainsbouroughs

der Volksempfänger bis zuletzt!

Und doch:

Jede Sekunde gelebten Lebens

respektvoll:

Du trugst uns (Enkel)Kinder auf Händen

- alle!

Und herausgeschnitzt

(auch diese) Linie(n)

- erzählten Lebens:

Der Eigensinn, die Unvernunft -

da spürte schon mal ein brauner Uniformträger,

wie rotes Blut und brauner Boden schmeckt!

Nein!

Über Politik und Geschichte wurde wenig gesprochen.

Masuren 1914 -

steckte in Deiner Seele –

und

Eisen

als lebenslange Depotgabe

in Deinem Körper.

Warst kein Schweijk,

und kein

Jünger der Stahlgewitter.

Merkwürdig konstruierte Intuition,

assimilierte Facetten jiddischer „Kultur“ -

Ja, ja!

Gelernt hast Du das Schächten

(dein Werkzeug liegt jetzt in meinen Händen).

Metzger wolltest du werden -

und warst früh schon geschätzter Experte,

wenn es die

Gottschalks,

die Oppenheimers,

die Wolffs

und Lichtendorffs

koscher haben wollten.

Merkwürdige Synchronizität:

Die Mischpoke ist Dir abhanden gekommen –

wolltest Du jemals wissen wie?

Alles Millionäre in Amerika!?

Und Du?

Ohne Profession!

Verlust bei Verlust.

Stiller Gewinner die Stadt:

Zumal die untersten Chargen

- die städtischen Arbeitskolonnen -

besetzt mit Spitzenkräften.

Für mich warst du

der immer schon alte, starke Mann:

Im Schiefer der Weinberge;

als Führer

zu den mythischen Orten der Kindheit,

wo die Maiglöckchen (noch heute) blühen.

In den lehmigen Gruben,

stiller Bereiter der letzten Wege,

wo selbst Du deine Grenzen erfuhrst,

wenn jemand im Tod noch auf Wanderschaft musste.

Dann wieder ein Ort

- im städtischen Schwimmbad -

wo Leben quirlt und sprüht!

Lebendige Kindheit

- Salz und Sonne auf unserer Haut!

Geheimnisvoll aber,

mythisch,

dionysisch

und gewaltig jener Ort.

Die Hallen,

in denen

Anfang und Ende zusammenfließen:

Wir lebten am Rande,

der letzten Bastion zivilisierten Lebens.

Von dort 3000 Meter

wildes Land:

Zuerst die Abraumhalden der Stadt

- Schutt!

In der anderen Welt,

jenseits der Ahr,

gesäumt von Alleen immer blühender Kastanien

die in den Hades übergehenden Prozessionen,

wo Staub kommt zu Staub.

Auf unserer Seite die Niederungen,

Sumpf- und Schwemmgebiet,

worin sich alle Urgewalt verläuft:

Hier duckt sich der Ort,

hinter Haselnüssen und Hainbuchen,

ein Bunker,

flach

und bestimmt von Diagonalen

- sanft ansteigende Schrägen.

Zuerst lockt eine Stube,

verwinkelter, tetraedischer Kubus,

kristalliner Raum einer ganzen Welt:

Der Körper spürt wohlige Ewigkeitswärme -

fossiles Urfeuer im Kanonenrohr;

die Augen gehen über.

Im Restlicht erscheint das Panoptikum (D)einer Zeit:

An den Wänden das illustrierte Feuerwerk

der formierten Gesellschaft:

Beauties und Katastrophen,

Abziehbilder medial markierten Raums.

Ein fernes, geheimnisvolles Rauschen liegt über Allem.

Dünn und vernehmlich,

bedrohlich,

aber (noch) gebannt

im Kreis der alten Männer:

Schwerer Moschus

aus Tabak, Manschester -

sinfonische Höhepunkte,

wenn Bohnen und Speck,

Schweinebraten und Kohl,

Wirsing und Gulasch

Geruchsnischen besetzen,

wie Flaschengeister jenem Kessel entsteigen,

der die Kleinode unserer Küche bewahrt;

und doch nichts als Irrlichter im olfaktorischen Inferno.

Von Zeit zu Zeit

- in der rush hour kollektiver Biorhythmen alle Stunde -

verlässt Du die Stube.

Dann ergreife ich Deine Hand

selig geborgen,

gerade genug,

um standzuhalten!

Denn wir treten ein in den Bannkreis der düsteren Hallen,

anschwellendes Rauschen,

noch wie fernes Trommelfeuer vor dem Sturm.

Welche Schätze lagern hinter metallenen Toren

an des Wächters Hand -

vor dem Allerheiligsten?

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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