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Demenztagebuch vom 24.5.2008 -

Aktuelle Einlassung vom 25. Januar 2020

Das ganze Wagnis dieses Unterfangens "Demenztagebuch" wird offenkundig, indem ich hier feststelle, dass ich dieses Vorhaben vor mehr als Jahren unterbrochen habe - ohne dies absichtsvoll zu tun. Die Zäsur in 2017 liegt in der seit dem Juli 2017 vereinbarten vollstationären Pflege im Seniorenzentrum Laubenhof in Koblenz Güls. Ein und ein halbes Jahr hatten wir meine Schwiegermutter nach ihrem Oberschenkelhalsbruch (am 11.12.2015) - nach dem Einbau eines Treppenlifters - versucht in unsere Familie zu integrieren. Erst nach ihrem Armbruch im Mai 2017 haben wir uns entschlossen, diesen Versuch abzubrechen und uns um eine vollstationäre Unterbringung im Laubenhof zu bemühen. Der Ausgangsimpuls zu diesem Demenztagebuch hängt mit meinem Schwiegervater zusammen, der am 8.3.2010 verstorben ist. Biografie und demenztechnisch liegt noch eine weite Wegstrecke vor uns. All diese Bemühungen um Rekonstruktion, um ein relativ kleinschrittiges Nachzeichnen des dementiellen Prozesses mit seinen systemischen Auswirkungen werden inzwischen massiv überlagert von der rasanten dementiellen Karriere meiner Schwiegermutter. Ihren Weg habe ich filmisch dokumentiert, indem ich in gewissen Abständen Gespräche mit ihr führe und diese aufzeichne. Heute - wie gesagt nach mehr als zwei Jahren - greife ich das Demenztagebuch wieder auf. Allerdings nunmehr mit der Absicht, Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar miteinander zu verzahnen. Auf diese Weise nimmt meine Dokumentation außerordentlich an Präsenz und Schärfe zu. Dies hängt damit zusammen, dass ich mich unterdessen einmal wieder aktiviert habe und den lange vor sich hindümpelnden Förderverein Seniorenzentrum Laubenhof e.V. zu neuem Leben erweckt habe. Ich gebe eine Zeitung heraus "Rund um den Laubenhof" und beginne mit meinen Leitartikeln einen Diskurs über die Situation und den Umgang mit Alter und den Alten in der Gegenwartsgesellschaft. Die außerordentliche Spannung, die dabei entsteht, resultiert aus der Tatsache, dass ich selbst inzwischen erstens Pensionär bin und zweitens mich dem Prozess des Älterwerdens sehr viel deutlicher ausgeliefert sehe als noch vor Jahren - beispielsweise zu Beginn dieses Unterfagens "Demenztagebuch". Vor gut zwei Stunden habe ich im Café Laubenhof - im Seniorenzentrum - nolens volens demonstriert bzw. erlebt, wie gnadenvoll  und gnadenlos sich eine schlichte Altersdemenz auswirkt. Um noch einmal eindrücklich zu belegen, dass die These vom selektiven Erinnern und Vergessen im Alter und im hohen Alter und erst recht im höchten Alter besondere Ausprägungen annimmt, habe ich meiner Schwiegermutter die Standardfrage gestellt, wo sie frühe gewohnt habe. Meine Schwiegermutter ist am 27.9.2019 sechsundneunzig (96) Jahre alt geworden. Die Frage beantwortet sie seit Jahren stoisch mit: Triererstraße 282. Dort hat sie bis zu ihrem 28sten Lebenjahr gewohnt und gearbeitet. Alles, was danach kam: Heirat, Umzug in den Pollenfeldweg, Umzug nach Güls auf den Heyerberg ist - wenn überhaupt - nur noch mühsam mit Hilfe zielführender Interventionen, Fotos und lenkenden Impulsen wiederzubeleben. Parallel zur Demenz nehmen unterdessen auch die körperlichen Einschränkungen erheblich zu. Meine Schwiegermutter ist sehrwohl eine ungewöhnliche Frau, die sich nach Bein- und Armbruch immer wieder zurückgekämpft hat und bis heute den Weg von ihrem Zimmer bis ins Laubenhofcafé am Rollator bewältigt hat. Heute - insofern ist dies ein Datum von Bedeutung - war der Hinweg nur sitzend auf dem Rollator möglich, während der Rückweg erst unmittelbar vor ihrer Zimmertüre mit einem Schwächeanfall endete, sodass die letzten Meter sitzend bewältigt werden mussten.

Was mich umtreibt, hängt zentral mit der Frage zusammen, ob der radikale Weg in die Verwüstung der Alterszone unumkehrbar ist. Theoretisch bzw. beobachterspezifisch hat mich Jean Beaudrillard entscheidend beeinflusst, der bereits in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die dramatischen Effekte beschrieben hat, die mit der Vergreisung der Gesellschaft einhergehen; einer Gesellschaft, die als Weltgesellschaft den Zwängen der Globalisierung, der Disloziertheit und der Ausdünnung von Verwandtschaftsverhältnissen unterliegt. Was das bedeutet, können wir vierzig Jahre später an den Vergreisungseffekten und den Bewältigungsversuchen beobachten.

Demenztagebuch vom 24.05.2008

In der Tat - so wenig Tagebuch war noch nie! Und das in einer der dichtesten und bedrängensten wie beglückendsten Phasen meines Lebens: Gestern habe ich Michael, meinen Neffen zum zweiten Mal innerhalb von acht Tagen nach seiner"Rückkehr" aus dem künstlichen Koma erlebt: Beeindruckend und beglückend, weil sich etwas andeutet und zeigt, was niemand von uns zu hoffen wagte. Meine Faszination dem Phänomen Gedächtnis gegenüber wird von Michael nachhaltig unterstrichen. Es scheint so, dass das filigrane und so fein differenzierte Netzwerk von Informationen und deren Verknüpfung ermöglichende, nuancenreiche System von Bewertungen sich nahezu vollständig wieder einstellt. Man kann von einer nahezu vollständigen Abschaltung oder vielleicht auch nur Abschattung des Bewusstseins sprechen. Eine andere Frage ist mit der körperlich-muskulären-motorischen Rehabilitation verbunden. Wir sind da guter Hoffnung. Es taucht eine andere Frage auf, was nämlich Michaels Situation mir im Zusammenhang mit Fulbert Steffenskys kleiner Schrift: Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger (Stuttgart 2007) zu sagen hat:

"In der Krankheit könnte der Mensch lernen, sich nicht mehr durch sich selbst zu rechtfertigen. Der Schwerkranke ist hilflos, und er ist nicht mehr Souverän seines eigenen Lebens. Er hat seine Stärke verloren. Er kann sich nicht mehr in der eigenen Hand bergen, er muss sich aus der Hand geben. Er ist angewiesen und bedürftig geworden. Er braucht für die äußeren Verrichtungen und für seine innere Konstitution Menschen. Die Bedürftigkeit ist der Grundzug aller Humanität. Je geistiger ein Wesen ist, um so bedürftiger ist es, um so mehr weiß es, dass es sich selbst nicht gebären und vollenden kann. Es braucht Väter und Mütter, es braucht Kinder und Enkel. Es muss sich auf mehr berufen können als auf den eigenen Witz und die eigene Stärke. Schwer erkrankt sein, heißt verarmt sein: arm an eigener Kraft, arm an Bewegungsfähigkeit, arm an Zukunft. Die Krankheit ist Krise: man kann angesichts dieser Verarmung in Hoffnungslosigkeit und Verbitterung erstarren, und man kann sich ergben. Sich ergeben ist ein veraltetes Wort, das ich mag. Es heißt sich aus der Hand geben, sich anvertrauen, sich nicht mehr mit sich selbst rechtfertigen, wissen, dass es zu wenig ist, nur bei sich selber aufgehoben zu sein. Vermutlich gelingt diese letzte Ergebung, die letzte Bedürftigkeit nur wenigen Menschen."

Demenztagebuch vom 8.06.2008

Sonntagnachmittag auf dem Heyerberg - der Frühsommer wächst sich allmählich zum Sommer aus, 36 Grad, sagt Lisa, meine Schwiegermutter eben zu mir. Ich sitze hier auf dem Balkon; Leo liegt im Bett. ich habe ihn noch nicht geweckt. Er schläft ruhig und fest, zumindest bis jetzt - soeben höre ich ihn grunzen, stöhnen - das ist eine Art urgewaltiges Räuspern, schon selbstvergessen bis in die abgründigsten Schleimregionen, Körper nur noch Schleim, Reflex? Bei ihm noch nicht so ganz. Vor 1 1/2 Stunden ist FUW nach Neuwied gefahren. Er ist gestern Mittag (immer noch ohne Bärbel) gekommen. In Abweichung unserer Standardwanderung sind wir gestern über Bisholder zu unserem einzigartigen Platz gewandert - mit einem Liter Riesling, Käse und Wurst: und Biene, die gestern 7 jahre alt geworden ist. Anne ist am Freitag von ihrer Kursfahrt nach Zandvoort (Holland) zurückgekommen; Zandvoort, für mich tiefste und nachhaltigste Kinheitserinnerung.

Demenztagebuch vom 13.06.2008

Ruhe, Gelassenheit, ja, aber man lässt sich ja sich nicht nur selbst - man ist ja nicht alleine, nicht ohne Reflexe und Vorgaben aus dem Umfeld: